Die Natur hat dem Menschen die Möglichkeit gegeben, in extremen Situationen extrem leistungsfähig zu sein, und wir sollten uns diesen Effekt in Training mit hochklassigen Athleten zu nutze machen“, schreibt der russische Sportwissenschaftler Yuri Verkishansky, und bezieht sich damit auf eine von ihm entwickelte Trainingsmethode.
Kraftentwicklung im Sport
Neben der muskulären Leistungsfähigkeit, ist allerdings auch das Bindegewebe, in und um Muskulatur herum, entscheidend an der Kraftentwicklung im Sport beteiligt. Um neben den muskulären Verbesserungen auch zu bindegewebigen Adaptationen zu führen, muss das Training in möglichst kompletten, für den Sprint relevanten Bewegungsmustern stattfinden. Im folgenden Artikel werde ich einige Erfolg versprechende und praxisnahe Übungskombinationen für mehr Power im Sprint vorstellen.
Einleitend bleibt aber noch die Frage zu klären, wie eine schnelle Muskelkontraktion überhaupt zu einer schnellen sportlichen Bewegung wird.
Die Erkenntnis, dass Muskeln sich zu Schlingen addieren und diese Schlingen mit bindegewebigen Faszienzügen verstärkt und durchsetzt sind, hat mein Verständnis von Bewegung und Athletiktraining revolutioniert. Denn ähnlich wie ein Gummiband speichert unser Bindegewebe die von der Muskulatur erzeugte Energie in Form von Vorspannung und gibt sie danach kraftvoll und schnell wieder ab. Ein Handballer, der zum Wurf abspringt und ausholt, profitiert von diesem Prinzip genauso wie ein Sprinter, dessen Achillessehne sehr elastische Eigenschaften hat und somit einen entscheidenden Beitrag zur Schnelligkeit liefert.
Bindegewebe ist metabolisch aktiv und passt sich daher an seine Anforderungen an, genau wie ein Muskel das tut. Ein gut strukturiertes Kraft- und Schnelligkeitstraining macht also nicht nur die Muskulatur stärker, sondern verbessert auch die statischen und elastischen Eigenschaften entsprechender myofaszialer Schlingen. Spätestens mit dieser Information wird einem klar, dass ein isoliertes Muskelkrafttraining sich nicht si gut auf due Laufbahn oder das Spielfeld übertragen wird wie ein Training in kompletten Bewegungsmustern.
Complex Training
Complex Training wurde das erste Mal wirklich konsequent von russischen Sportwissenschaftlern in den 60er- Jahren angewandt und erforscht. Neben einer zentralen Aktivierung der muskulären Leistungsfähigkeit ändert sich nach einer Maximalkraftübung auch die Mikrostruktur im eigentlichen Muskel, sodass er schneller kontrahieren kann. Dieser Aktivierungseffekt (engl.: post-activation potentiation) hält bis zu 30 Minuten nach der maximalen Belastung an. Studien haben gezeigt, dass Complex Training effektiver ist als ein getrenntes Kraft- und Schnelligkeitstraining. Als lohnende Pause zwischen Maximalkraft- und Schnellkraftübung haben sich drei bis sechs Minuten als ideal erwiesen.
In der Kommunikation mit den Sportlern eignet sich, als treffende Metapher, die Bezeichnung „Thunder & Lightning“. Bei der Thunder-Übung liegt der Fokus auf maximalem Gewicht, bei der Lightning-Übung auf maximaler Geschwindigkeit.
Complex Training: Thunder & Lightning Level 1 bis 3!
Level 1
Thunder: Stationäre Ausfallschritte mit Kurzhanteln, drei bis sechs Wiederholungen, drei bis sechs Minuten Pause: Dehnungen für den Oberkörper, um die Pause sinnvoll zu überbrücken. Stationär bedeutet, dass der Trainierende die Ausfallschrittposition einnimmt und die Füße während der ganzen Bewegungsausführung in dieser Position hält. Achten Sie darauf, dass der ganze Vorderfuß auf dem Boden bleibt und der Athlet mit dem Oberkörper aufrecht und in „stolzer“ Position bleibt, während er die Hüften absenkt. Wenn die Griffkraft zum limitierenden Faktor werden sollte, eignen sich Ketten oder Gewichtswesten als zusätzliche Last.
Lightning: Hopserlauf mit hohem Sprung – zehn Meter. Bei den Hopserläufen ist Qualität und Intensität der Schlüssel. Das ist Schnellkrafttraining. Der Sportler muss mental absolut bei der Sache sein und die Bewegung mit voller Intensität ausführen.
Das Verhalten als Coach beschränkt sich in dieser Phase auf Motivation und positives Feedback, um die Aktivität des zentralen Nervensystems oben zu halten und zu verhindern, dass kognitive Prozesse, durch Verarbeitung von technischem Feedback, den Bewegungsablauf verlangsamen. Durch die elastischen Rückstellkräfte dieser sogenannten Functional Lines kann der Muskulatur im Sprint einiges an Arbeit abgenommen werden. Die Bewegung der Arme erzeugt Spannung im Bindegewebe, die unterstützend auf Beugung und Streckung der Hüften wirkt. Daher ist es wichtig, im Training Bewegungsmuster zu verwenden, die der Sprintbewegung sehr ähnlich sind. Ausfallschrittvariationen bilden die Basis eines Krafttrainings für Schnelligkeit, da sie, ähnlich wie ein Sprint, aus einer kompletten Streckung der unteren Extremität auf der einen Seite sowie einer kompletten Beugung auf der anderen Seite bestehen.
Level 2
Thunder: Rückwärtsausfallschritte mit der Langhantel – drei bis sechs Wiederholungen, drei bis sechs Minuten Pause: Dehnungen für den Oberkörper.
Lightning: Sprints mit Widerstand – drei bis acht Sekunden. Während Ausfallschritte nach vorne ein Abbremsen simulieren, sind die Ausfallschritte nach hinten dem Bewegungsmuster des Sprints sehr ähnlich und daher in diesem Fall eine gute Variante. Die Sprints mit Widerstand sind mit dicken Gummibändern oder den Händen an den Hüften des Trainierenden realisierbar. Weil die relative stationäre Position der Widerstandssprints viel Möglichkeit bietet die Körperposition zu korrigieren, sind sie ein Level niedriger angeordnet als wirkliche Sprints.
Level 3
Thunder: Einbeinige Frontkniebeuge mit erhöhtem Hinterfuß – drei bis sechs Wiederholungen, drei bis sechs Minuten Pause: Dehnungen für den Oberkörper.
Lightning: Sprints – drei bis acht Sekunden oder 20 bis 60 Meter.
Mit der Langhantel in der gleichen Position wie bei einer Frontkniebeuge positioniert der Athlet den hinteren Fuß auf einer Bank hinter ihm. Die Bank sollte etwas niedriger als seine Schienbeinlänge sein und etwa drei bis vier Fußlängen hinter dem Vorderfuß stehen. Das gibt dem Sportler die Möglichkeit, mit aufrechter Position in die ein- beinige Kniebeuge abzusinken und über den ganzen Vorderfuß Kraft in den Boden auszuüben. Der Hinterfuß sollte nur zur Stabilisation dienen.
Idealerweise nutzt man für die Sprints ein Zeitnahmesystem. Das erhöht die Leistung und kann als Indikator dafür dienen, wann die optimale Trainingsbelastung erreicht ist. Sobald die Sprints signifikant – etwa 10 Prozent – langsamer werden, sollte diese Trainingsphase beendet werden. Innerhalb eines Trainingstages sollte jede Kombination ansonsten 5- bis 10-mal durchgeführt werden. Wählen Sie das Gewicht für die Maximalkraftübungen so, dass der Sportler nur die vorgegebenen Wiederholungen schafft, aber nicht mehr schaffen würde. Indem man die Art der Beladung (Langhantel, Kurzhantel usw.) variiert, bleibt der Trainingsreiz der gleiche, während es für die Sportler eine große Abwechslung darstellt.
Mit diesen Progressionen in allen ihren Variationen kann also, bei entsprechender Sequenzierung der Trainingsbelastungen, ohne Probleme eine ganze Saison geplant werden. Eine sinnvolle Integration der Trainingsvorschläge bedarf natürlich einer individuellen Analyse des Athleten und der aktuellen Trainingsphase innerhalb der Sportsaison.
Thunder & Lightning eignet sich auch für Gruppen
Die Thunder- & Lightning-Kombination ist eine der effektivsten Methoden für muskuläre Leistungsfähigkeit und aufgrund ihres Zirkeltrainingcharakters auch in großen Sportlergruppen gut umsetzbar.
Der Sprint bietet sich als stark vereinfachtes Beispiel an, weil er, im Gegensatz zu Bewegungen bei Feldsportarten wie Fußball, nur in einer Ebene stattfindet. Für Sportarten, die multidirektionale Bewegung beinhalten, müssen natürlich entsprechende Modifikationen vorgenommen werden. Für die Übertragung der Kraft auf die Laufbahn beziehungsweise das Spielfeld muss man sich außerdem vor Augen führen, dass selbst das eher ganzheitliche Konzept myofaszialer Schlingen immer noch eine Vereinfachung ist, die das Untrennbare voneinander trennt. Die Implikationen für ein Athletiktraining werden natürlich viel umfangreicher, sobald man die in Wirklichkeit dreidimensionale Ausbreitung von Faszienzügen mit einbezieht.
Fazit
Zusammenfassend bleibt zu sagen, dass die elastischen Eigenschaften des Bindegewebes und die muskuläre Leistungsfähigkeit entscheidend an der Schnelligkeitsentwicklung beteiligt sind und innerhalb einer Trainingseinheit gleichsam gut trainierbar sind. Das konnten wir bei unseren Athleten über die letzten Jahre eindeutig beobachten. Nur ein ganzheitliches Training bringt den zusätzlichen Effekt einer bindegewebigen Adaptation und damit einer effizienteren Kraftübertragung. Eine gut ausgebildete Verkettung sorgt nicht nur für mehr Leistungsfähigkeit, sondern kann zusätzlich auch die Möglichkeit einer Verletzung entscheidend reduzieren.
Euer Gerrit Keferstein
Sehr schön erklärt! Super Sache!
Sehr guter Beitrag und interessantes Thema. Allerdings würde ich drei Punkte (konstruktiv-)kritisch anmerken (insbesondere wenn mit Leistungssportlern gearbeitet wird):
1. Die verwendbaren Lasten dürften bei Ausfallschritten nicht ausreichen um die Effekte einer posttetanischen Potenzierung zu provozieren. Wirklich qualitative Unterschiede in der nachfolgenden Schnellkraftübung konnten meines Wissens nach nur bei maximalen willkürlichen Kontraktionen gezeigt werden.
2. Dementsprechend wären Lasten die 6 Wiederholungen erlauben ebenfalls unterschwellig.
3. PTP stellt nur einen Mehrwert für die nachfolgende Schnellkraftübung dar, wenn die potenzierenden Effekte nicht von den ermüdenden überlagert werden. Gerade bei Ausfallschritten müsste man beide Beine gleichmäßig im Training belasten. Das würde entweder die Wiederholungszahl oder die Satzzahl in die Höhe treiben. Und damit auch die Ermüdungseffekte (insbesondere bei 6er Wiederholungen).
Letztendlich denke ich persönlich, dass Kniebeugen mit 2er oder maximal 3er Wiederholungen die bessere Alternative für diese hochspezielle Trainingsmethode darstellen.
Ich schließe mich der konstruktiven Kritik an. Das System funktioniert deutlich besser mit 2-3er Wdh und anschließender Schnellkraftübung. Außerdem sollten die Übungen so gewählt werden, dass die Bewegungsmuster der beiden Übungen identisch sind. Daher nicht Kniebeuge und Sprint, sondern Kniebeuge und Sprung.