Ein guter Trainer braucht kaum mehr als 30 Übungen in seinem Repertoire. Aber die muss er verstehen und beherrschen.
Ausreichend getestet. Viele Daten gesammelt. Schwächen aufgedeckt. Und jetzt geht es los! Das klingt einfach, doch jetzt erst beginnt die hohe Kunst, die Ergebnisse in ein individuelles Trainingsprogramm zu gießen. Und damit beginnen meist auch die Probleme. Der Fantasie bei den Übungen sind in den letzten Jahren keine Grenzen mehr gesetzt. Auf YouTube erscheinen jede Woche mehrere Hundert neue Übungen, die teilweise skurril sind und mit dem ursprünglichen Gedanken des funktionellen Trainings nichts mehr zu tun haben. Eine einbeinige Kniebeuge auf dem Haltegriff einer Kettlebell – die kürzlich auf einem Blog zu sehen war – sieht zwar spektakulär aus, ist aber, mit Verlaub, kompletter Unsinn.
Das perfekte Training – 30 Übungen reichen aus
Die vergangen fünf Jahre haben gezeigt, dass ein Trainer in aller Regel mit ungefähr 30 Übungen auskommt. Diese 30 Übungen sind Varianten von 13 Grundübungen, die in jedem funktionellen Training vorkommen sollten. Bei allen Übungen gelten folgende Regeln: Erst linear-, dann lateral-, dann multidirektional.
Wichtig dabei ist immer die Überlegung, welche Übung welchem Ziel dienen soll und welche Strategie der Trainer verfolgen will. Der Trainer muss die Übung komplett verstehen und beherrschen. Ein Basiswissen über funktionelle Anatomie und das Fasziensystem ist dabei unumgänglich. Am besten ist, wenn jeder sein eigenes Übungsrepertoire aufbaut und ausprobiert, was für ihn und seine Kunden wirklich praktikabel ist. Andere Trainingsprogramme einfach nur zu kopieren reicht nicht aus. Es gibt nicht die eine Musterlösung beim funktionellen Training und nicht jeder muss versuchen, ein Mark Verstegen zu sein. Trotzdem kann man sich an einigen wenigen Grundübungen orientieren.
Balance
Vorab eine Bemerkung zum Testen: Der Functional Movement Screen (FMS) gibt in kurzer Zeit, mit wenig Aufwand und Hilfsmitteln einen groben Überblick über die Stärken und Schwächen des Bewegungsapparates und der kinematischen Kette.
Der von Gray Cook und Lee Burton entwickelte Test ist ein guter Ausgangspunkt für eine Standortbestimmung. Aber auch dieses Screening-Verfahren hat seine Einschränkungen. In den letzten Jahren konnten wir beobachten, dass das Gleichgewichtsempfinden der Sportler immer weiter nachgelassen hat. Daher ist es sinnvoll das Thema „Balance“ gesondert zu betrachten und es zusätzlich neben der Mobilität und Stabilität in die unterste Stufe der Leistungsfähigkeitspyramide aufzunehmen. Ein standardisierter „Einbeinstand-Test“ mit geschlossenen Augen liefert die benötigten Erkenntnisse. Kann der Sportler mehr als 15 Sekunden „wackelfrei“ auf einem Bein stehen, ist sein Gleichgewichtssinn gut.
Interpretation von Testergebnissen
Bevor man sich der konkreten Trainingsplanung zuwendet, muss der Trainer zunächst die gesammelten Ergebnisse richtig interpretieren. Dabei gilt es rechtzeitig zu erkennen, wann man an die eigenen Grenzen stößt und wann man die Hilfe eines Physiotherapeuten oder eines Sportmediziners hinzuziehen sollte.
Die erste große Alarmglocke muss dann läuten, wenn ein Sportler bei einer Bewegungsaufgabe Schmerzen hat. Keiner der Screens oder Clearingtests sollte wehtun. So- bald ein Schmerz da ist, gehört der fachmännisch abgeklärt. Wenn der Trainierende Bewegungsaufgaben nicht lösen kann und keine Schmerzen hat, gilt es zu bewerten, weshalb das Ergebnis zustande kam.
Generell gibt es drei Möglichkeiten, warum Bewegungen nicht ausgeführt werden können – vorausgesetzt, der Sportler war ausreichend motiviert, den Test sauber auszuführen:
- Strukturelle Schäden. Zum Beispiel nach Verletzungen des Bewegungsapparats.
- Neurologische Störungen. Die Ansteuerung des muskulo-skeletalen Segments ist dauerhaft eingeschränkt oder sogar beschädigt. Zum Beispiel nach einem Bandscheibenschaden.
- Funktionelle Störungen. Der Körper hat derzeit nicht die richtige „Software“, das heißt die neuromuskuläre Steuerungsmöglichkeit, um bestimmte Bewegungen dauerhaft in der richtigen kinematischen Sequenz aus- zuführen. Gründe dafür könnten das gestörte Zusammenspiel der Agonisten untereinander oder das Wechselspiel der Antagonisten sein.
Bei der Übungsauswahl ist es ratsam, stets hierarchisch gegliedert an Hand der Movement-Screening-Ergebnisse vorzugehen. Zuerst muss die Balance stimmen. Wenn die passt, dann geht es zur Mobilität – da gibt es in der Regel immer Baustellen – und schließlich zur Stabilität.
Mobilität
Bei der Mobilität hat vor ein paar Jahren ein großer Umdenkprozess eingesetzt. Der mechanische Ansatz, der davon ausgeht, dass eine verkürzte Muskulatur durch Ziehen in die Länge gedehnt und damit mehr Mobilität erreicht wird, ist veraltet. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse von Robert Schleip aus Ulm haben ergeben, dass Mobilität eine Stufe höher anzusetzen ist: Beim Fasziensystem. Um das Zusammenspiel von Muskel und Faszie zu optimieren, ist die Blackroll die erste Wahl. Der Sportler macht eine Art Selbstmassage, bei der sich die Struktur der Faszie verändert und diese nach und nach die Verschieblichkeit der einzelnen Gewebeschichten verbessert (siehe „Schwächen stärken – Functional Movement Screen“).
Eine fehlerhafte Ansteuerung der Muskulatur behebt man auch mit einer speziellen Dehntechnik. Bei falscher Belastung reagieren manche Muskelgruppen mit einem erhöhten Tonus. Das bedeutet: Zu einem bestimmten Zeitpunkt sind viel mehr Muskelzellen aktiv, als eigentlich benötigt werden. Das führt im Gegenzug zur Einschränkung unserer Beweglichkeit. Um den Muskeltonus herunterzufahren, setzt man die sogenannte Post-Isometrische Relaxation (PIR) ein. Dabei lässt man den Sportler zusätzlich zu einer statischen Dehnübung mit maximaler Kraft gegen die Dehnrichtung drücken. Diese hält er für etwa 8 Sekunden und löst dann die Anspannung mit langem Ausatmen. Diese Technik wiederholt man 2- bis 3-mal am Stück. Sie führt jedes Mal zu einer kleinen Steigerung des aktiven und passiven Bewegungsumfangs.
Zudem empfiehlt es sich, mit unspezifischen Selbstmassagen der Fußsohle mit einem kleinen Ball zu arbeiten. Dabei kann der Sportler Triggerpunkte an der Fußsohle identifizieren und – obwohl man die genauen Zusammenhänge immer noch nicht ganz versteht – nach einer Fußmassage eine enorme Steigerung der komplexen Mobilität beobachten.
Stabilität
Nach diesen grundlegenden Strategien des Mobilitätstrainings beginnt man in aller Regel mit tiefen Kniebeugen (Deep Squats). Der Sportler erlernt sie in einem Drei- Stufen-Plan über drei bis sechs Wochen. Viele Experten sind der Meinung, dass die tiefe Kniebeuge die Mutter aller Bewegungsmuster ist. Nach dem Drehen am Boden und dem Krabbeln ist sie eine der ersten komplexen Bewegungen, die der Mensch auf dem Weg zum aufrechten Gang erlernt.
Die tiefe Kniebeuge ist deshalb so wertvoll, weil sie den Körper komplex beansprucht. Der Trainierende braucht Beweglichkeit im Sprunggelenk sowie Beweglichkeit in der Hüfte und sein Muskel-Fasziensystem muss so verschieblich sein, dass sein Oberkörper selbst mit nach oben gestreckten Armen nicht über die Fußspitzen nach vorne ragt. oftmals ist es sinnvoll, neben der tiefen Kniebeuge noch zusätzlich eine isolierte Mobilisierung des Sprunggelenks und des Iliopsoas mit in das erste Übungsprogramm zu integrieren.
Wenn man die Stabilität verbessern möchte, muss man sich fragen, warum Stabilität im Raum nicht gegeben ist. Ist einfach nur das Verhältnis zwischen Körpergewicht und Kraft gestört oder ist das Gehirn derzeit nicht in der Lage, die richtigen Muskeln zum richtigen Zeitpunkt zu aktivieren?
Auch wenn die Übungen zur Steigerung der Stabilität ähnlich aussehen wie Übungen zur Steigerung der Kraft, unterscheiden sich diese durch die Belastungszeit (Time Under Tension, kurz TUT) und Wiederholungszahl. Bei Stabilitätsübungen ist die TUT etwas größer, aber die Intensität eher niedriger. Anfangs ist es wichtig, dass die Qualität der Übung im Vordergrund steht, damit Bewegungsmuster richtig erlernt und Kompensationsbewegungen abgebaut werden. Best Practice zur Steigerung der Rumpfstabilität ist die Progression des Unterarmstützes.
Um die Stabilität der unteren Extremität zu optimieren, empfiehlt sich der Weg der amerikanischen National Academy of Sports Medicine (NASM). Er legt einen besonderen Schwerpunkt auf die einbeinige Kniebeuge (Single Leg Squat). Dabei kommt es wiederum auf die Qualität der Bewegung an. Sie können sich zu jedem Zeitpunkt der Bewegung anhand der Kniescheibenposition selbst kontrollieren. Die Kniescheibe sollte den idealen biomechanischen Weg nehmen, das heißt vom Zentrum des Sprunggelenks hin zur zweiten und dritten Zehe.
Euer Dr. Lutz Graumann
toller Artikel! Vor allem finde ich gut, daß bei Perform Better viel Wert darauf gelegt wird, daß man als Trainer umfassend informiert und ausgebildet wird, und keine „Nachmacher“ gefördert werden! Super!
Bei dem momentan herrschenden (schon fast hysterischen) Hype um Functional Training, Cross Fit u.a., kann man echt froh sein, daß es eure Website gibt!!