Mir ist die einzigartige Erfahrung zuteilgeworden, das Leben als Couch-Potato (im Alter von 5 bis 18 Jahren), als Fitnesssüchtige (von 19 bis 30) und als sich ganztags »natürlich« Bewegende (von 31 bis 38 und weiterhin) kennenzulernen. Als Kind war ich eine Leseratte. Ich spielte und fuhr Fahrrad wie alle Kinder, aber wenn ich auf den tatsächlichen Bewegungsanteil meiner damaligen Tage schaue, bestand der größte Teil aus Sitzen und Lesen. In der Schule war ich im Schwimmteam (wozu nur ein paar Schwimmstunden am Tag während weniger Monate im Jahr gehörten), aber auch das Schwimmtraining fand zwischen langen Lesestunden am Schreibtisch oder im Bett statt. Es wird dich nicht verwundern, dass meine Brillengläser dick wie Glasbausteine sind.
Im Abschlussjahr begann ich, die paar Kilometer Schulweg zu Fuß zu gehen, und fühlte mich dabei so wohl, dass ich schließlich nach dem Heimweg noch irgendwohin fuhr, wo man spazieren gehen konnte. Ich nahm ab. Die Kolleginnen von der Eisdiele, in der ich arbeitete, waren schon über zwanzig und nahmen daher von den üblichen vier Kugeln pro Schicht eher zu als ich (Teenager müsste man noch mal sein). Sie meldeten sich daher im Fitnessstudio an, und ich ging mit. Dort traf ich auf den Stepper. Und auf die Aerobic-Kurse. Und auf die Beinpresse. Dort feierte ich den Triumph meiner ersten freiwillig gelaufenen Meile (im Sportunterricht war ich darin immer grottenschlecht gewesen) und dort verliebte ich mich in das Trainings-High.
Auf dem College war ich immer noch verrückt nach Büchern und Eis, merkte aber, dass ich mein Gewicht durch intensives tägliches Laufen halten konnte. Zuerst waren es drei Kilometer, dann acht, dann fünfzehn. Von Physik wechselte ich zur Bewegungswissenschaft, um Biomechanik zu studieren; Fitness gehörte dort zum Pflichtprogramm (mit Schein). In einem Semester belegte ich einen Lauf- und einen Aerobic-Kurs und »Bewegungswissenschaft 20«, ein dreimal wöchentlich stattfindendes Training, das alle Studierenden des Faches absolvieren mussten, um den obligatorischen Fitnesstest zu bestehen. In einem Semester ging meine Zeit beim Meilenlauf von 10 Minuten auf 6:45 runter. Heftig, oder?
In der Collegezeit entschied ich, dass es besser wäre, fürs Training bezahlt zu werden. So könnte ich meine Collegegebühren bezahlen und gleichzeitig in Form bleiben. Ich machte meine Trainerlizenz und addierte zu meinem eigenen Trainingsplan noch zehn Wochenstunden Kurse. Ich lief, schwamm, machte Gerätetraining und dazu noch Cross-Training mit Hanteln und Eigengewichtsübungen. Ich unterrichtete Stretching, Core-Training, Kickboxen … eigentlich alles. Das Ganze zog ich zehn Jahre durch und war fantastisch in Form. Außer dass mein Körper ständig schmerzte. Ich hatte furchtbare Akne am Kinn. Und das Schlimmste war, dass ich panisch wurde, wenn ich mein Workout verpasste.
Meine Trainingskameradinnen waren genauso. Wir waren zu enormen Ausdauerleistungen fähig (um fünf Uhr früh sechs Kilometer laufen und anschließend zwei Cardio-Kurse hintereinander geben, bei denen wir ununterbrochen reden mussten), aber nicht wirklich kräftig. Fast niemand von uns brachte einen Klimmzug zustande und viele konnten nur mit Stützbandagen sportlich etwas leisten. Die meisten waren nicht schlank und viele hatten einen recht hohen Körperfettanteil. Meine Regelschmerzen waren fürchterlich, und einmal holte ich mir einen Hexenschuss … beim Verrücken einer Ottomane im Wohnzimmer. Zwar genoss ich den Respekt meiner Bekannten und den Titel des »gesündesten« Familienmitglieds, aber ich war gar nicht gesund – jedenfalls nicht so gesund, wie ich sein wollte. Trotz regelmäßigem Training und Befolgung aller »evidenzbasierten« Richtlinien fühlte ich mich unwohl.
Erst als ich im Hauptstudium Biomechanik auf Zellebene studierte, begriff ich, warum das so war, und gab mein Fitnessprogramm zugunsten einer bewegten Lebensweise auf. Und Junge, Junge, ist das ein Riesenunterschied zwischen Bewegung und Fitness!
Bewegung und Fitness: Die Details
Wenn ein Bild mehr sagt als dann sagt ein Mengendiagramm bestimmt mehr als 250.000 Worte. Somit sagt der folgende Abschnitt mehr als eine Million Worte, ich hoffe, du bist bereit dafür. Hier ein Diagramm mit dem Titel »Bewegung«.
Noch ist das Diagramm leer, aber du kannst alles, was der menschliche Körper vermag, in den Kreis reinschreiben. Fingerschnippen, Fahrrad fahren, Einrad fahren, hocken, blinzeln, atmen, rülpsen, Slacklining, stillen, ein Kind gebären, mit den Armen wedeln, heben, tauchen, Äpfel pflücken, ja selbst so etwas Winziges wie Gänsehaut kriegen könnte in dieses Bewegungsdiagramm passen. So:
Du hast dich heute bewegt. Dein Herzmuskel hat sich angespannt und entspannt. Deine Lunge hat sich aufgebläht. Deine Augäpfel haben sich beim Lesen dieses Buches tüchtig hin- und herbewegt. Du bist wahrscheinlich aufgestanden, aufs Klo gegangen, hast Hand, Ellenbogen und Schulter zum Abwischen benutzt und bist wieder aufgestanden. Aber wenn du nicht trainiert hast, würdest du auf meine Frage »Hast du dich heute schon bewegt?« womöglich antworten: »Nein, habe ich nicht. Nicht wirklich.« Denn uns ist zwar klar, dass es selbstverständlich Tausende von möglichen Körperbewegungen gibt, aber wenn ich Bewegung sage, denken die meisten Menschen an Fitnessübungen.
Fitness zu betreiben ist die gesündeste Art von Bewegung, so oder ähnlich wird es uns beigebracht. Frag irgendeinen Experten, und er wird dir wahrscheinlich sagen, man könne selbstverständlich nicht gesund sein ohne Körperertüchtigung. Wenn es um wirkliche Bewegung geht, ist immer Fitness gemeint. Allein der Gedanke an den Begriff Fitness beschwört in deinem Kopf wahrscheinlich Bilder von Trainingsgeräten, Sportplätzen, Yogaseminaren, Klimmzügen und Tanzkursen, vom Gewichtheben und Laufen, von Schrittzählern und Pulsmessern herauf. Kurz, dein Gehirn arrangiert das Begriffsfeld Bewegung wie folgt:
An diesem Punkt muss ich eingreifen, denn der erste Schritt zu einer radikalen Gesundheitsverbesserung besteht darin, die Gleichsetzung von Bewegung mit Fitness aufzugeben. Um durch Bewegung gesundheitlich voranzukommen, musst du unbedingt das in deinem Kopf bestehende Verhältnis zwischen Bewegung und Fitness mental zurechtrücken, sodass es eher so aussieht:
Ich möchte, dass du im Kopf zwischen Fitness und Bewegung trennst, weil es viele Bewegungen gibt, die nicht als fit machend gelten, die jedoch für verschiedene Körpergewebe essenziell sind. Beispielsweise unterscheidet sich die Arbeit, die der Mund eines Säuglings beim Stillen verrichtet, von der Arbeit, die sein Mund beim Füttern mit der Flasche hat. Am Ende ist die Aufgabe, an Milch zu kommen, erfüllt, egal ob dazu Brust oder Fläschchen hergehalten haben, aber es hat sich gezeigt, dass das Melken der Brust als Prozess wichtig für die optimale Herausbildung der Kiefer- und Gesichtsknochen ist. Die Struktur der Gesichtsknochen und die eingespielten Bewegungsmuster der Gesichtsmuskeln beeinflussen wiederum andere Prozesse, wie Atmen und Schlucken, sowie den für die Zahnung verfügbaren Raum.
Was der Säugling beim Stillen macht, ist eine menschliche Bewegung, die zu einer besonderen, vom Körper später abrufbaren Knochenrobustheit führt, und trotzdem würden die meisten Menschen Stillen bzw. Gestilltwerden nicht zur Kategorie Bewegung zählen (weil sie keine solche Kategorie haben, nur eine namens Fitness). Die meisten Menschen kämen nicht auf die Idee, dass eine so dezente Bewegung wie die beim Stillen ausgeführte – eine spezielle Zungentätigkeit, in minutenlangen Einheiten vielmals am Tag ausgeführt, immerhin in frühestem Alter – irgendeine Auswirkung auf die Gesundheit eines Erwachsenen haben könnte. Das ist der Grund, warum wir das starre Konzept „Fitnesstraining“ aufgeben sollten. Es gibt einfach zu viele essenzielle Bewegungen und durch Bewegungen erzeugte Lasten – ganz dezente Bewegungen, die der Beobachtung entgehen und die den meisten von uns fehlen (wie das Geschaukel der erwähnten Weichteile). Auf der Empfehlungsliste der »gesunden« Körperaktivitäten fehlen ganze Kategorien von Bewegung.
Der Unterschied zwischen Bewegung und Fitness
Aus verschiedenen Gründen habe ich den Fitness-Kreis so viel kleiner als den Bewegungs-Kreis gezeichnet. Am leichtesten ist vielleicht das Unterscheidungskriterium Zeit zu erklären. Sicherlich ist die Zeit, die wir für »Fitness« aufwenden, sehr gering im Vergleich mit der Zeitspanne, in der wir unseren Körper bewegen können, die nämlich entspricht hundert Prozent unserer Wachphase. Aber diese Abbildung zeigt nicht nur den großen Unterschied zwischen Trainings- und Bewegungszeit. Das Verhältnis zwischen Bewegung und Training ist noch stärker von der geometrischen Form geprägt, die der Körper beim Training annimmt. Fitnessübungen bestehen meistens aus einer Bewegung oder einer begrenzten Zahl von Bewegungen, die immer wieder ausgeführt werden. Sagen wir, du radelst oder läufst eine Stunde am Tag. Müsste ich deine Gelenkaktivitäten während dieser Stunde quantifizieren, würde ich feststellen, dass du immer wieder eine sehr geringe Bandbreite an möglichen Gelenkpositionen durchläufst. Selbst Trainingsformen wie Yoga oder Dance, bei denen du zwanzig bis hundert unterschiedliche Körperhaltungen durchläufst, bieten nur einen winzigen Bruchteil aller ausführbaren Bewegungen.
Eure Katy Bowman
Katy Bowman ist Autorin des Buches „Bewegung liegt in deiner DNA“