Je weniger feste Kontaktpunkte der Körper zum Boden hat, desto höher ist die Anforderung, ihn im Gleichgewicht zu halten. Das gilt besonders für Balanceübungen. Ihr Schwierigkeitsgrad lässt sich der Konstitution des Trainierenden anpassen, sodass dieselbe Übung sowohl von einem Anfänger und in einer Variante auch von einem erfahrenen Sportler trainiert werden kann. Es gibt mehrere Möglichkeiten, um den Schwierigkeitsgrad zu erhöhen. Zum einen kann man die Kontaktpunkte des Körpers mit dem Boden reduzieren, oder man erschwert die Übung durch den Einsatz eines Geräts wie dem BOSU oder Pilatesball. Eine weitere Möglichkeit ist es, den Sehsinn auszuschließen. Wenn wir die Augen schließen, muss der Körper große Anstrengungen auf sich nehmen, um in einem stabilen Zustand zu bleiben. Dadurch wird die Übung anspruchsvoller und gleichzeitig effektiver.
Ganz wichtig: das Dehnen
Menschen, die keine körperlichen Beeinträchtigungen haben, halten das Dehnen in der Regel für nicht so wichtig. Doch bereits morgens, nach dem Aufstehen, hilft das Dehnen, die Stoffwechselvorgänge im Körper in Schwung zu bringen. Es sollte fester Bestandteil eine jeden Trainings sein. Nach einem Krafttraining mit schweren Gewichten sind die Muskeln verkürzt und voller Stoffwechselabfallprodukte, die sich in den Muskeln während der körperlichen Belastung angesammelt haben. Ich empfehle, die Muskeln am Ende jedes Trainings zu dehnen. Der Prozess der Regeneration läuft effektiver ab, und der ganze Körper profitiert davon in seinem Wohlbefinden. Es gibt unterschiedliche Arten, sich zu dehnen. Ich bevorzuge das isometrische Dehnen. In meiner Berufspraxis habe ich nur positive Erfahrungen mit dieser Art zu dehnen gemacht, die auch Schmerzen und eine Vielzahl von körperlichen Einschränkungen beheben kann. Isometrisches Dehnen besteht aus zwei Phasen: der Kontraktions und der Entspannungsphase. In der ersten Phase kontrahieren die Muskeln 10 Sekunden. In der zweiten Phase entspannen sie gedehnt für etwa 10 Sekunden. Wiederhole die Phasen ein paarmal abwechselnd. Diese Methode der Dehnung lässt sich gut bei verschiedenen Muskelgruppen an Hals und Nacken, unterem Rücken oder Oberschenkelmuskulatur durchführen.
An den Dehungsschmerz gewöhnen
Wenn die Muskeln nicht daran gewöhnt sind, kann Dehnen schmerzhaft sein. Trainierende, die schnelle Erfolge erzielen wollen, gehen die Übungen oft mit falschem Ehrgeiz an. Sie versuchen, in Positionen zu gelangen, die für ihren Körper ungewohnt sind. Es ist unerlässlich, das Prinzip der kontinuierlichen Exposition zu beachten: Bei häufiger Wiederholung und Einbeziehung solcher Übungen in das Training passt sich der Körper an die Belastung an, und mit der Zeit verschwindet das unangenehme, ziehende Gefühl. Dabei sollte man nicht über die Schmerzgrenze hinaus dehnen. Es ist in Ordnung, wenn du spürst, wie es im Muskel zieht, aber es darf nicht in Schmerz übergehen. Taste dich zuerst langsam an das Bewegungsende heran, statt dich sofort in die Endposition zu zwingen. Wenn du alle Bewegungen korrekt ausführst, musst du keine Angst vor Schmerzen haben oder andere Schäden am Bewegungsapparat befürchten. Das Training wirkt sich, wie Sport und Bewegung allgemein, positiv auf das körperliche und auch auf das seelische Wohlbefinden aus und verbessert somit die Lebensqualität.
Jeder Mensch ist entweder rechts- oder linkshändig, was bedeutet, dass seit der Kindheit eine Körperseite bevorzugt wird. Muskeln auf der bevorzugten Seite sind immer stärker als die der anderen Seite. Muskeldysbalancen dieser Art werden »Händigkeit« genannt. Auch hier zeigen Dehnübungen einen positiven Effekt: Sie verringern die unerwünschten Auswirkungen der Händigkeit auf den Körper, vor allem auf die Muskeln, beziehungsweise reduzieren diese und können Schmerzen beseitigen.
Gesundheitlicher Nutzen
Nahezu jeder kann von Balanceübungen profitieren: Angefangen bei kleinen Kindern, die ihre motorischen Fähigkeiten gerade erst entwickeln, bis hin zu älteren Menschen, die sie bereits wieder verlieren – sofern sie ihre Motorik nicht trainieren! Mit Gleichgewichtsübungen lässt sich der allgemeine Gesundheitszustand verbessern, Muskeln, Sehnen, Gelenke werden gestärkt, muskuläre Dysbalancen, bedingt durch Händigkeit, reduziert, und vor allem werden verschiedene Arten von Schmerz beseitigt. So trainierte ich Klienten mit Rücken- oder Gelenkbeschwerden. Ob es um den unteren Rücken oder um Schulter- oder Hüftgelenke ging, diese Menschen litten und waren stark eingeschränkt. Die Schmerzen ließen sie nachts keinen Schlaf finden, was ihre Leistungsfähigkeit tagsüber beeinträchtigte. Und das, obwohl sie regelmäßig im Studio oder anderswo trainierten. Auch zum Stärken der Beckenbodenmuskulatur eignen sich die Balanceübungen. Eine meiner Klientinnen hatte schon lange Zeit Schmerzen im Beckenbereich – vor allem während der Menstruation und beim Geschlechtsverkehr. Sie fing mit dem Training an, und nach einiger Zeit verbesserte sich ihr Gesundheitszustand: Sie war frei von den Beschwerden, die sie zuvor so sehr belastet hatten.
Balancetraining für jeden
Aus meiner eigenen Praxis kann ich im Profisportbereich Schwimmer, Kajakfahrer und Schützen der Nationalmannschaft anführen, denen mein Training der Verletzungspropyhlaxe diente. Für einen Sportler dürfte eine verletzungsbedingte Unterbrechung des Trainings wohl mit das Schlimmste sein, was passieren kann. Die anschließende Regeneration sowie das Erreichen der früheren Kondition kosten Mühe und Zeit. Um ebendies zu vermeiden, bestehen meine Trainingseinheiten aus Balanceübungen. Auch Menschen, die primär nichts mit Sport zu tun haben, profitieren von Balanceübungen. Problemen wie Übergewicht, Hypermobilität, Wirbelsäulenverkrümmung, schwachen Muskeln oder zu hohem Muskeltonus liegen oft Bewegungsmangel, falsche Bewegungsgewohnheiten oder einseitige Körperbelastung zugrunde. Weckt man das Interesse an Bewegungsaktivitäten, findet häufig eine Veränderung im Verhalten statt. Die spielerische Vermittlung von Balanceübungen kann der Auslöser sein, um sich mit der eigenen Bewegungsfähigkeit und -fertigkeit zu beschäftigen.
Es gibt noch eine weitere Gruppe unter meinen Trainingsteilnehmern, die ich erwähnen möchte: Menschen im fortgeschrittenen Alter, deren Muskelkraft und Elastizität abnehmen und die dadurch Einschränkungen im Alltag erfahren. Oftmals sind sie nicht mehr in der Lage, körperlich schnell zu reagieren, was dann zu Verletzungen führen kann. So haben junge Menschen meist keine größeren Folgen zu erwarten, wenn sie im Winter auf einem vereisten Gehweg ausrutschen, da ihre Muskeln gut innerviert sind und optimal miteinander kommunizieren. Für ältere Menschen kann so ein Sturz oder Straucheln, also eine abrupte Veränderung der Körperposition, durchaus Folgen haben, da ihr Körper über weniger Motoneuronen verfügt, die die Muskulatur steuern. Sie verlieren das Gleichgewicht, und ein Sturz ist unvermeidlich. Man sollte sich allerdings darüber im Klaren sein, dass in einem höheren Alter keine enorme Verbesserung des Gleichgewichts zu erwarten ist. Doch man kann das, was vorhanden ist, erhalten und sogar leicht verbessern – oftmals reicht bereits ein gemäßigtes Training, um fit zu bleiben und Verletzungen zu vermeiden. Gerade Balanceübungen eignen sich hervorragend, um die Muskulatur in Form zu halten.
Der Gesundheitszustand meiner Klienten, die sich für ein Balancetraining entschieden haben, begann sich mit der Zeit zu verbessern. Anfangs hatten einige noch Vorbehalte und meinten, die Übungen seien zu schwierig und für sie nicht realisierbar. Nach einer individuellen Anpassung des Trainings unter Berücksichtigung der persönlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten begannen sie, sich in den Positionen sicherer zu fühlen, und sie spürten erste positive gesundheitliche Veränderungen. Bereits nach fünf Trainingsstunden bemerkten die Klienten eine zunehmende Stabilität und Aufrichtung ihres Körpers. Nicht die großen peripheren, sondern die kleineren Muskeln wurden gestärkt, ebenjene, die die Wirbelsäule und die kleinen Wirbelgelenke zusammenhalten. Dadurch fühlte sich der ganze Rumpf stabiler an. Äußerlich waren zuerst keine Veränderungen wahrzunehmen, doch das war auch nicht das primäre Ziel. Viel wichtiger ist es, schmerzfrei zu sein und sich gesund und fit zu fühlen.
Balanceübungen sollen in erster Linie den Körper von innen stärken, also zuerst die tief liegende Muskulatur sowie die Sehnen und Gelenke und dann allmählich auch die peripheren Muskeln ansprechen. Mit zunehmender Intensität der Belastung und durch regelmäßiges Training treten dann auch die anderen Effekte ein: Es wird Fett abgebaut und Muskelmasse aufgebaut. Einige meiner Klientinnen verloren nach mehreren Monaten regelmäßigen Trainings kein einziges Gramm Körpergewicht. Allerdings verringerte sich ihr Taillenumfang um 6 bis 10 cm. Auf diesem Wege zu einer besseren Figur zu
kommen, ist vielleicht die beste Art und Weise, da der Organismus dabei nicht belastet wird. Im Gegensatz dazu hat eine abrupte Veränderung des Körpergewichts keine positiven Auswirkungen auf das Herz-Kreislauf-System und den Stütz- und Bewegungsapparat. Gesundheitliche Aspekte sollten stets Vorrang haben vor irgendwelchen Schönheitsidealen.
Trainingspläne individuell erstellen und anpassen
Für die Erstellung eines Trainingsplans sind folgende Faktoren zu berücksichtigen: Alter, Körpergewicht, allgemeine Fitness des Sportlers und sein Gesundheitszustand. Liegen beziehungsweise lagen Verletzungen vor? Befindet sich der Sportler in der Rehabilitation, etwa nach einer Operation? Sind Störungen des Stütz- und Bewegungsapparats vorhanden, die er selbst unter Umständen noch gar nicht erkannt hat, wie z. B. Skoliose? Unter Berücksichtigung dieser Parameter wird der individuelle Trainingsplan erstellt. Bei der Ausführung der Übungen ist unbedingt auf Präzision zu achten. Nach dem Training muss der Zustand des Körpers beurteilt werden. Von Zeit zu Zeit sollte man den Trainingsplan der Kondition des Trainierenden anpassen. Wie bei allen sportlichen Betätigungen gewöhnt sich der Körper an die Herausforderung, bis letztlich irgendwann keine Veränderung mehr stattfindet. Dann ist es an der Zeit, durch andere Übungen, Abänderung der Wiederholungen und Verweildauer in der Posititon den Plan anzupassen. Das Training darf in keinem Fall zu einer starren Routine werden.
Das Trainingsziel im Blick haben
Vor Erstellung eines Plans sollte man sich Gedanken machen, welches Ziel man erreichen will. Soll der Anteil an Körperfett reduziert werden, indem man mehr Muskelmasse aufbaut, oder soll die Ausdauer oder die Stabilität erhöht werden? In erster Linie setze ich Balanceübungen ein, um die Muskelkoordination zu fördern: Die einzelnen Muskeln arbeiten besser zusammen, die Bewegungsabläufe werden
fließender und die Belastbarkeit der Muskeln nimmt zu. Ebenso sehr eignen sich Balanceübungen zur therapeutischen Behandlung von beispielsweise Bandscheibenvorfällen oder Gelenkinstabilität. Insbesondere bei der Behandlung eines Bandscheibenvorfalls erweisen sich Balanceübungen als sinnvoll, da sie viele Haupt- und auch synergistische Muskeln trainieren und dabei das Skelett nicht überbelasten. Die Muskeln, die die betroffene Stelle umgeben, werden durch das Training gestärkt, unterstützen den Heilungsprozess und verschaffen dem Betroffenen Schmerzfreiheit.
Manch Trainierender neigt dazu, durch unpräzise Ausführung der einzelnen Übungsschritte, den Muskeln die Arbeit zu erleichtern. Oftmals genügt es, das Becken nur wenige Zentimeter in die falsche Richtung zu drehen, und die Übung wird nicht die gewünschte Wirkung zeigen. Zum einen ist es demotivierend, wenn das Training keine Ergebnisse zeigt. Im schlimmsten Fall kommt es zu Verletzungen. Achte deshalb immer auf eine korrekte Ausführung!
Euer Vlado Suchter
Vlado Suchter ist Autor des Buches „Balancetraining“