Bei der Sportlerleiste handelt es sich wie auch bei einem Leistenbruch um eine Schädigung der Bauchwand. Anders als beim klassischen Leistenbruch kommt es jedoch in der Regel nicht zu einer tastbaren Aussackung, die in der Medizin Hernie genannt wird. Stattdessen beginnt die Krankheitserscheinung zunächst mit nur leichten, aber schnell zunehmenden Schmerzen im Leistenbereich. Die verschiedenen Formen der Hernie im Sport haben gemeinsam, dass der ursprüngliche Schmerz in der Leistengegend auftritt und nicht an der Bauchwand. So berichten die meisten Betroffenen zuerst von leichten Schmerzen in der Leistengegend, die sich dann aber schnell ausweiten und in den Bauchraum ausstrahlen. Wer dies beachtet, ist in puncto Diagnose und Heilung dieser besonderen Form des Leistenbruchs einen wichtigen Schritt weiter. Die Sportlerleiste tritt nicht als Folge eines einzelnen Ereignisses auf, sondern ist das Ergebnis einer Reihe von Faktoren. Sie kann beispielsweise eine Reaktion der Bauchmuskulatur auf eine Leistenverletzung, genauer gesagt eine Veränderung der Mechanik im Hüftgelenk sein. Doch was genau ist eigentlich die Leiste? Die Sportmedizin beschreibt die Leiste als einen Bereich, in dem Muskeln, die die Hüfte beugen, Muskeln, die die Hüfte zur Körpermitte heranziehen, und auch Muskeln, die die Hüfte strecken, zusammenwirken. Anders ausgedrückt: In der Leiste sitzen Hüftadduktoren, Hüftbeuger und -strecker.
Die Adduktorengruppe besteht wiederum aus fünf Muskeln: Mm. adductor magnus, longus und brevis, M. gracilis und M. pectineus. Wir stellen uns die Adduktoren der Einfachheit halber immer gerne als in einer Ebene wirkende Muskeln vor. Das ist nicht ganz richtig, denn Bewegungen finden nicht nur in Frontalebene statt. Ich arbeite u. a. mit Hochleistungssportlern aus den Bereichen Fußball und Eishockey, und einige von ihnen litten unter Leistenbrüchen. In diesem Zusammenhang habe ich im Sommer 2006 den Rehabilitationsprozess von zwei Sportlern nach einer Operation koordiniert und geleitet und warb zu diesem Zweck den Manualtherapeuten Donnie Strack (Doctor of Physical Therapy, DPT) an. Dieser befand, dass die betreffenden Athleten unter einer starken Einschränkung des Weichgewebes im Bereich des M. pectineus litten. Beide Sportler hatten in der Vergangenheit über ein Reißen im Leistenbereich bzw. eine Überlastung der Adduktoren geklagt und waren nur mit Eis und Ruhe behandelt worden. Nach einer Phase des »aggressiven Zuwartens« – ohne eine adäquate Bindegewebstherapie – hatte man beiden Sportlern die Wettkampfteilnahme wieder gestattet, da die Therapeuten davon ausgingen, dass die Sportler mit dem Verschwinden bzw. dem Ausbleiben der Symptome auch geheilt waren. Dies war aber leider nicht der Fall. Alle Adduktoren müssen Kräfte aushalten, die in mehrere Bewegungsrichtungen wirken. Der M. pectineus und der M. adductor brevis unterstützen die Hüftbeugung und wirken somit gleichzeitig als Adduktoren und als Hüftbeuger.
Hüftbeugung und Adduktoren
Im Fußball und im Eishockey kommt es besonders häufig zu Leistenbrüchen. Was haben diese beiden Sportarten gemeinsam? Sowohl beim typischen Eishockeyschritt als auch beim Schießen im Fußball ist die Muskeltätigkeit immer eine Kombination von Hüftbeugung und Adduktion. Demnach tritt schnell eine Überlastung der Muskeln ein, die direkt in der Leistengegend ansetzen und gleichzeitig für Hüftbeugung und Adduktion verantwortlich sind. Alle anderen Adduktoren haben Adduktions- und Streckfunktion. Mm. adductor magnus, longus und M. gracilis helfen beim Heranziehen des Beines, doch da sie im Becken ansetzen, unterstützen sie ebenso die Streckung der Hüfte.
Die häufig überlasteten Adduktoren sind hier M. adductor brevis und M. pectineus. Allerdings kann aufgrund der ungünstigen Lage dieser Muskeln tief in der Leistengegend eine Muskelverhärtung nur schwer manuell behandelt werden. Wenn aber doch eine manuelle Therapie zur Anwendung kommt, wird häufig nur die Adduktion in Frontalebene behandelt. Da die verletzten Muskeln jedoch auch in anderer Richtung wirken, werden sie damit nicht optimal erreicht. Im Gegenteil: Die langen Adduktoren, die in Frontalebene arbeiten, können kompensierend eingreifen, sodass das eigentliche Problem mit Hüftbeugung und Adduktion unerkannt bleibt. Um Schmerzen zu lindern, kommen häufig auch elastische Bänder zum Einsatz. Damit wird aber nicht die Ursache des Problems behandelt – was früher oder später zu einem Riss in der Bauchwand bzw. einer Überlastung des M. pectineus oder des M. adductor brevis führt.
Bindegewebstherapie
Die einzige Therapieform, die ich für meine Sportler wähle, ist die manuelle Therapie. Hier arbeite ich schon seit vielen Jahren mit Dan Dyrek zusammen, der über profundes Wissen und Erfahrung in der Mobilisation des Bindegewebes verfügt. Wenn wir das Auftreten von Leistenbrüchen im Sport in den Griff bekommen wollen, müssen die medizinischen Betreuer und Physiotherapeuten anfangen, ihre Patienten manuell zu behandeln. Die allerwenigsten tun dies im Moment, da die Massagetherapie anstrengend und kostenaufwendig ist. Wenn ein Sportler unter Schmerzen in der unteren Bauchdecke leidet, muss schnell gehandelt werden. Leider ist es heutzutage schwierig, einen kompetenten Manualtherapeuten zu finden. Ein chirurgischer Eingriff mag zwar helfen, ist jedoch in der Regel nur ein Teil der Wahrheit. Oftmals bringt erst die Nachbehandlung des Narbengewebes einen nachhaltigen Therapieerfolg.
Ich habe das Problem des Leistenbruchs mit vielen Fachleuten diskutiert. Einer von ihnen ist Gray Cook. Er meint kurz: Ob ein Athlet sich operieren lässt oder nicht, ändert nichts an seiner Situation. Eine Operation bringt nämlich zwangsweise eine Ruhephase mit sich. Würde ein Sportler sich die gleiche Ruhe gönnen, ohne davor operiert zu werden, erzielte er das gleiche Ergebnis.
Dehnen
Pete Freisen, medizinischer Betreuer der Carolina Hurricanes in der NHL, meint, dass im Eishockey auch das Dehnen einen prädisponierenden Faktor darstellt, denn die meisten Sportler dehnen zwar die Adduktoren, vernachlässigen aber die Hüftbeuger. Die Adduktoren sind einfach zu erreichen, doch wer den Hüftbeuger dehnen will, braucht entweder die Hilfe eines Partners, oder er muss die Übung mit großer Konzentration ausüben. Die meisten Sportler haben daher eine gute Beweglichkeit in der Frontalebene der Hüfte, gleichzeitig mangelt es aber an Beweglichkeit in der Sagittalebene. Wenn man bedenkt, welch große Kräfte auf Hüftkapsel und untere Bauchwand wirken, wenn das Bein abgespreizt und gestreckt wird, ist schnell klar, warum es zu Rissen in der Bauchwand kommt. Freisen meint, dass es vermutlich günstiger wäre, wenn ein Sportler entweder überall zu beweglich oder zu steif wäre. Eine Überbeweglichkeit in einer Bewegungsrichtung und Steifheit in einer anderen Richtung sei viel schlimmer. Gray Cook beschreibt dieses Phänomen als »Asymmetrie« und schließt aus den Ergebnissen seines Functional Movement Screens, dass Sportler, deren Flexibilität asymmetrisch ist, eher zu Verletzungen neigen als allgemein steife Athleten.
Innenrotation der Hüfte
Ein weiterer Faktor, der eine Prädisposition zu Leistenbrüchen bedeutet, ist mangelnde Innenrotation der Hüfte – ein Defizit in der Transversalebene. Der Sportler mag zwar die Adduktoren in Frontalebene gezielt dehnen, vernachlässigt aber gleichzeitig Hüftbeuger und Außenrotatoren. Dadurch mangelt es ihm an Streckung und Innenrotation der Hüfte, welche zugleich eine große Bewegungsamplitude bei der frontalen Adduktion aufweist. Folglich ist das Becken gezwungen zu kompensieren, wodurch wiederum die Bauchdecke belastet wird.
Verletzungsprophylaxe jedweder Art beginnt mit einer Bewertung des Athleten. Hierzu setzen wir Gray Cooks siebenteiligen Functional Movement Screen ein, dessen Ergebnisse es uns ermöglichen, das Verletzungsrisiko unserer Athleten einzuschätzen. Wir sind der Meinung, dass jeder Sportler zumindest einmal den kompletten Test durchlaufen sollte. Wer ein erhöhtes Risiko hat, einen Leistenbruch zu erleiden, sollte insbesondere den FMS-Hürdenschritt machen, einen Test, der die Hüftbeugeeigenschaften bestimmt. Ist der Hüftbeugemechanismus beeinträchtigt, da die tiefen Beugemuskeln, Psoas und Iliacus, entweder zu schwach oder verkrampft sind, führt dies in der Regel zu einer Verschiebung im Beckenbereich. Der Sportler setzt dann unwillkürlich den M. quadratus lumborum ein, um die Hüfte anzuheben, anstatt sie zu beugen. Die seitliche Beugung des Beckens von der Wirbelsäule aus hebt die Hüfte. Cook empfiehlt in diesem Fall, sich nicht zu sehr auf einen Muskel zu konzentrieren, sondern das gesamte Bewegungsmuster anzuschauen. Wir lehren unsere Athleten daher, die tiefen Hüftbeugemuskeln aktivieren.
Außerdem fördern wir den Bewegungsumfang der Hüfte in alle Bewegungsrichtungen und arbeiten an der Rumpfstabilität, da hier ein klarer Zusammenhang besteht. Mangelnde Hüftbeweglichkeit führt zu übermäßiger Beckenbewegung – und diese ist wiederum oft der Grund dafür, dass sich aus einem leichten Ziehen in der Leistengegend ein Leistenbruch entwickelt. Die Flexibilität der Hüfte muss im Hinblick auf Extension, Innenrotation sowie Abduktion verbessert werden. Dabei ist es oft ratsam, die Abduktion erst zu dehnen, wenn die anderen Bewegungsrichtungen der Hüfte ausreichend entwickelt wurden. Nach dem statischen Dehnen beginnt eine Abfolge von multiplanaren, aktiven Mobilitäts- und Kraftübungen. Die Kraftübungen sind auf die einseitige Kraftentwicklung ausgerichtet, weshalb nicht unterstützte einbeinige Kniebeugen, einbeiniges Kreuzheben mit gestrecktem Bein, seitliche Kniebeugen bis hin zu seitlichen Ausfallschritten, Rotationskniebeugen bis hin zu Rotationsausfallschritten und Ausfallschritten in Transversalebene den Kern des Unterkörperprogramms bilden sollten. Beim plyometrischen Training werden Hopser und Sprünge in verschiedene Richtungen absolviert, und wenigstens zweimal pro Woche sollte auch das Slideboard als Trainingsgerät zum Einsatz kommen. Das Slideboard hat die einmalige Eigenschaft, dass es gleichzeitig exzentrisch auf die Adduktoren und konzentrisch auf die Abduktoren wirkt.
Euer Michael Boyle
Michael Boyle ist Autor der Bücher
Functional Training Fortschritte im Functional Training