Athleten steigern mit der Kniebeuge ihre Leistung, CrossFit-Athleten integrieren die Kniebeuge in ihr WOD und der ein oder andere Hobbysportler erzählt mit Stolz, wie viel er beim letzten „Legday“ auf neudeutsch „gesquatted“ hat.
Ich stimme darin überein, dass die Kniebeuge eine der besten Übungen überhaupt ist. Ich denke aber, dass es nicht egal ist, wie man die Kniebeuge macht. Es stimmt natürlich, dass das Rezept für Kraft einfach ist: Ihr entscheidet euch für eine Technik, wiederholt sie immer wieder und legt jedes Mal ein bisschen mehr Gewicht auf. Dieses Prinzip funktioniert seit Ewigkeiten. Für mich ist die Kniebeuge aber nicht nur eine reine Beinkraftübung. Wie immer, will ich euch nicht vorschreiben, wie ihr zu trainieren habt. Ich will euch nur meine Perspektive schildern. Aber wenn ihr nicht nur starke Beine wollt, sondern auch eure Haltung verbessern, explosiv werden wollt und diese Leistung auf andere Sportarten übertragen wollt, lest bitte weiter. Zuerst muss man verstehen, dass es nicht nur eine einzige Art gibt, Kniebeugen zu machen. Ohne Zweifel findet ihr bei Kraftdreikämpfern viele Athleten mit unglaublich starken Kniebeugen. Weil die Kniebeuge eine – vielleicht sogar die wichtigste – Disziplin im Kraftdreikampf ist, modifizieren diese Athleten ihre Technik so, dass sie am meisten Gewicht bewältigen können. Der Körper passt sich an die steigenden Belastungen an und der Athlet wird natürlich stärker. Der Körper passt sich aber auch an die modifizierte Technik an. Und das ist meiner Meinung nach nicht für jeden Athleten oder Hobbysportler das Beste.
Die Kniebeuge als Hilfsübung
Ich habe natürlich Respekt vor den Leistungen der Kraftdreikämpfer in ihrem Sport, denke aber, dass die Ziele eines Kraftdreikämpfers von den Zielen der Athleten in anderen Sportarten verschieden sind. Für andere Sportarten ist reine Kraft natürlich häufig von Vorteil, aber eine verbesserte Körperhaltung und mehr Explosivität halte ich für mindestens genauso wichtig. Für diese Ziele empfehle ich, Kniebeugen so zu machen wie ein Gewichtheber. Ich möchte nochmals wiederholen, dass ich Respekt vor den Leistungen von Kraftdreikämpfern habe. Ich denke aber, dass es zwischen den Athleten aus anderen Sportarten und Gewichthebern im Bezug auf die Kniebeuge eine entscheidende Gemeinsamkeit gibt: Die Kniebeuge ist für beide Gruppen keine Disziplin, sondern eine Hilfsübung. Und zwar eine Wichtige, die den eigenen Zielen entsprechend, korrekt ausgeführt werden muss.
Gewichtheber nutzen die Kniebeuge, um ihre Leistung im Reißen, Umsetzen und Stoßen zu verbessern. Sowohl das Reißen, Umsetzen und als auch das Stoßen verlangen eine enorme Präzision in der Ausführung, eine sehr gute Körperhaltung und -wahrnehmung, Beweglichkeit in der tiefen Hocke und vor allem Explosivität. Gewichtheber haben kein Interesse daran, die Technik der Kniebeuge so zu verändern, dass sie mehr Gewicht bewegen können. Sie entscheiden sich für die Technik, mit der sie diesen Zielen gerecht werden können, das Gewicht steht dabei an zweiter Stelle. Genauso verhält es sich für die meisten Athleten aus anderen Sportarten: Sie wollen stärker werden, aber auch die Beweglichkeit erhören, ihre Körperhaltung verbessern und explosiver werden.
Wie auch immer ihr euch letztendlich entscheidet, möchte ich euch noch ein paar Tipps mit auf den Weg geben und ein paar Missverständnisse, denen ich häufig begegne, aufklären:
1. Den richtigen Stand finden
Den endgültigen, richtigen Stand für die Kniebeuge zu finden ist eine sehr individuelle Angelegenheit. Er hängt von vielen Faktoren ab, wie der Länge der Gliedmaßen und ihrem Verhältnis zueinander, der Beweglichkeit des Athleten und eventuellen vorhandenen Verletzungen. Ihr könnt aber mit einem ganz einfach Trick beginnen: Stellt euch mit den Füßen parallel zueinander in Hüftbreite hin. Die Beine sollten gerade unter dem Hüftgelenk stehen. Nun schiebt jeden Fuß etwa eine Fußbreite nach außen. Jetzt dreht jeden Fuß etwa 30 Grad nach außen. Mit dieser Stellung könnt ihr eine Kniebeuge machen, bei der Sie den Oberkörper in aufrechter Haltung zwischen die Oberschenkel setzen können. Natürlich könnt ihr im Laufe der Zeit den Stand individuell anpassen. In meiner 42 jährigen Erfahrung als Trainer hat sich dieser Trick mit 100% Erfolgsgarantie für das Finden einer ersten, sicheren und ungefährlichen Startposition bewährt.
2. Sollen die Fußspitzen nicht immer nach vorne zeigen?
Nein! Damit die Kniegelenke nicht unnötig belastet werden, müssen die Knie bei der Ausführung immer in die gleiche Richtung wie die Füße zeigen. Wenn die Fußspitzen gerade nach vorne zeigen, müssen die Knie auch nach vorne zeigen. Wenn ihr nun aber nicht enorm kurze Oberschenkel habt, müsst ihr euch sehr weit nach vorne lehnen, um in die Hocke zu kommen. Damit steigt die Belastung auf den Rücken unnötig an. Je nach Struktur ihrer Hüftknochen könnt ihr sogar mit dem Oberschenkelhals an den Hüftknochen stoßen. Der Rücken wird dann als Ausgleichsbewegung rund. In beiden Fällen erhöht ihr das Verletzungsrisiko unnötig.
Wenn ihr dynamische Kniebeugen mit aufrechter Haltung des Oberkörpers machen wollt, empfehle ich daher die Fußspitzen zu etwa 30 Grad auszudrehen und die Knie immer in die gleiche Richtung zeigen zu lassen. Im Laufe der Zeit könnt ihr dann natürlich den Winkel eurer Fußspitzen an euren individuellen Körperbau anpassen.
3. Aber dürfen die Knie nicht niemals über die Zehenspitzen hinausgehen?
Diesem Mythos begegnet man auch heute leider immer wieder. Außer einer sehr umstrittenen Untersuchung von 1961 von Dr. Karl Klein aus Texas, in der empfohlen wird, Kniebeugen nur bis zu einem Kniewinkel von 90 Grad zu machen, gibt es bis heute keinen wissenschaftlichen Beweis dafür, dass es ungesund für die Knie ist, wenn sie über die Zehenspitzen hinaus gehen. Auf der anderen Seite werdet ihr aber feststellen, dass alle Gewichtheber beim Reißen und Umsetzen und bei euren Kniebeugen bei jeder Wiederholung mit den Knien über die Zehenspitzen gehen. Ihr müsst das tun, da die meisten Menschen eine Physiognomie haben, bei der man nur dann den Rücken aufrecht und gerade halten kann, wenn die Knie in der Hocke etwas nach vorne gehen. Gegenüber allen falschen Behauptungen sind Knieverletzungen bei Gewichthebern aber äußerst selten und ich mache mit meinen 68 Jahren immer noch Kniebeugen, bei denen die Knie über die Zehenspitzen gehen. Wie weit die Knie nun nach vorne gehen, hängt von der individuellen Physiognomie und der Beweglichkeit im Sprunggelenk des Athleten ab. Die goldene Regel ist aber: Der Rücken muss immer gerade bleiben!
4. Soll man in der Endposition die Knie nicht angewinkelt lassen, um Spannung auf dem Muskel zu behalten und die Kniegelenke nicht zu belasten?
Im Gegenteil! Erstens müssen alle Gelenke über ihren gesamten Bewegungsumfang trainiert werden. Wenn ihr eure Knie nie durchstreckt, werden sich die Muskeln verkürzen und ihr bekommt über kurz oder lang Beschwerden. Bei richtiger Ausführung haben eure Kniegelenke beim Durchstrecken nichts zu befürchten. Wenn ihr für Explosivität trainieren und die Kniebeuge dynamisch ausführen wollt, müsst ihr die Beine sogar ganz durchstrecken. Nur so haben eure Muskeln eine Chance, sich in der Endposition zwischen den Wiederholungen kurz zu entspannen und neues Blut zu bekommen. Wenn ihr die Spannung haltet, schneidet ihr die Blutzufuhr ab und die Bewegung wird immer langsamer und wackeliger. Darum solltet ihr eure Beine am Ende jeder Kniebeuge ganz strecken, so dass die Last der Hantel vom Skelett getragen wird und vor dem erneuten Absenken kurz einatmen, damit die Muskulatur mit neuem Blut versorgt werden kann. Wichtig ist natürlich, dass ihr mit dem Einatmen erneut Spannung im Rumpf aufbaut!
5. Wie tief soll man denn nun Kniebeugen machen? Sind tiefe Kniebeugen nicht gefährlich?
Hier gibt es unterschiedliche Meinungen. Wie gesagt, gibt es außer einer umstrittenen Studie keinen wissenschaftlichen Beweis dafür, dass tiefe Kniebeugen ungesund für die Knie sind, auf der anderen Seite aber unzählige Gewichtheber, die keine Probleme von Jahrzehntelangem tiefen Beugen bekommen. Am Ende muss jeder selbst entscheiden, wie tief er nun beugt.
Wenn möglich, sollte man so weit herunter gehen, dass der Oberschenkelhals parallel zum Boden ist oder ein kleines bisschen tiefer. Hier werden alle Muskeln an den Beinen und der Hüfte harmonisch trainiert und ihr könnt dynamisch, mit Spannung aus den Beinen wieder aufstehen. Ich möchte aber davon abraten, so tief herunter zu gehen, wie es die Gelenke zulassen oder auch „ass to the grass“ wie manche es nennen. Wichtig ist, dass man vor jeder Wiederholung kurz einatmet, Spannung aufbaut und beim Absenken rechtzeitig abbremst, so dass man im unteren Teil der Bewegung durch Muskelspannung und nicht aus den Gelenken, abfedern und dynamisch aufstehen kann.
Egal für welche Technik ihr euch nun am Ende entscheidet, ihr müsst nur eines verstehen und nie vergessen: Regelmäßiges Training mit korrekter Technik und angemessene Gewichtssteigerung sind Voraussetzung, um auch im höheren Alter noch Sport genießen zu können.
Weitere Informationen über Übungen und Methodik aus dem Gewichtheben und dem Kettlebellsport findet ihr in meinem Buch „Gewichtheben und Kettlebell: Ein Lehrbuch in 1178 Bildern“
Euer Johann Martin
Nur ein kleiner Hinweis: Physiologie statt Physiognomie.
Hut ab vor Ihrer sportlichen Leistung!