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»Du musst dich dehnen!«
Wer hörte diese merkwürdige Behauptung nicht schon tausend Mal: Man habe Muskelkater oder eine Verletzung, sei langsam oder ungelenk, weil man sich nicht genug gedehnt hat. Denke nur mal an deinen ersten Trainer, der dich ermahnte, nach dem Workout zu stretchen, oder an den Sportlehrer mit seinen Vorträgen über die Bedeutung von Dehnübungen. Dein Rücken schmerzt? Kein Problem. Einfach die hintere Oberschenkelmuskulatur dehnen, dann wird es gleich besser. Kniebeugen gelingen nicht? Stretche den Quadrizeps!
Viele glauben, dass wir uns regelmäßig dehnen müssten, um optimale Leistung zu erbringen, beweglich zu sein, Muskelkater zu verhindern und die Verletzungsgefahr zu verringern. Lange Zeit galt Dehnen oder Stretchen als Universallösung gegen muskuläre Beschwerden sowie Schmerzen und Gelenkprobleme aller Art. Doch dem ist gar nicht so, denn Dehnen allein funktioniert nicht. Es verbessert weder die Haltung noch die Leistungsfähigkeit, es macht den Sportler nicht schneller und beugt auch Verletzungen nicht vor. Deswegen wurdest du höchstwahrscheinlich auch nie besser oder hast dich plötzlich weniger verletzt, obwohl du dich nach jedem Workout unter Anleitung gedehnt hast.
Stellen wir klar: Mit Dehnen und Stretchen meine ich statisches Maximaldehnen bzw. minutenlange Muskeldehnung ohne weitere Übungsintention. Nehmen wir die klassische Dehnübung für die hintere Oberschenkelmuskulatur: Sie strecken in Rückenlage dein Bein nach oben, ziehen es Richtung Gesicht, dehnen die hintere Oberschenkelmuskulatur, so weit es geht, und beobachten derweil die Vögel, die über den Himmel ziehen. Theoretisch kann dies die Muskeln »verlängern«. Wie gut dir das gelingt, sagt jedoch nichts über die Qualität deiner Körpermotorik oder Körperhaltung aus. Oder anders ausgedrückt: Diese Art der Dehnung wird nicht dazu beitragen, dass du schneller laufen oder mehr Gewicht stemmen kannst. Doch die meisten denken immer noch »Herrje, ich sollte mal wieder dehnen«, wenn sie wegen einer Gelenk- oder Gewebeschwäche eine Position nicht optimal einnehmen können.
Was passiert, wenn man ein T-Shirt auf zwei Seiten in die Länge zieht? Es ist nach kurzer Zeit ausgeleiert. Was also geschieht mit unserem perfekten Körpergewebe, wenn man es maximal streckt und
in dieser Dehnung hält? Es wird genauso auseinandergezogen wie das bedauernswerte T-Shirt. Stell dir vor, du sprintest mit einer derart gedehnten hinteren Oberschenkelmuskulatur oder versuchst dich am Maximalkraft-Kreuzheben, ohne die Körperkraft oder -koordination entwickelt zu haben, die neue Position zu halten. Dieses Vorgehen schreit geradezu nach Verletzungen. Den Muskel zu »verlängern« ist gut, wenn man über die motorische Koordinationsfähigkeit verfügt, Maximalpositionen zu halten, und die Übung entsprechend mit Gewicht im vollen Bewegungsumfang ausführen kann. Daher üben wir im Studio Kreuzheben, Kniebeugen und funktionelle Bewegungsabläufe stets mit vollem Bewegungsumfang.
Der Kritikpunkt ist nicht, dass statisches Dehnen den Muskel verlängert. Der Punkt ist, dass dies lediglich einen Aspekt unserer Körperphysiologie anspricht – den Muskel –, und das noch relativ schlecht. Dehnen fördert weder die Koordination noch die Gelenkstellungen oder deren Funktionalität. Es optimiert auch nicht die Gleitfähigkeit der Strukturen – dieses wichtige Zusammenspiel von Haut, Nerven und Muskulatur. Störungen in diesen Bereichen können wie verhärtete Muskulatur wirken, daher wurde »Dehnen« zur bewährten Notlösung, auf die man immer zurückgreift.
Wenn aber Dehnen nicht die Antwort ist, was ist es dann?
Jede Komponente, die uns daran hindert, eine ideale Körperhaltung einzunehmen und Bewegungsabläufe korrekt auszuführen, muss einzeln und systematisch behandelt werden. So lassen sich alle Strukturen ansprechen, die korrekte Positionen und die Bewegungseffi zienz einschränken, und jeder kann seine individuellen Problemstellen korrigieren sowie messbaren Fortschritt erzielen.
Der folgende Auszug aus dem Buch Supertraining von Yuri Verkhoshansky und Mel Siff verdeutlicht dieses Konzept: »Im Allgemeinen wird nicht genug berücksichtigt, was der Begriff ›Beweglichkeit‹ eigentlich beinhaltet. Beweglichkeit ist von Gelenk zu Gelenk unterschiedlich, hat in der Bewegung andere Eigenschaften als im Ruhezustand und betrifft nicht nur die Muskeln, sondern alle Komponenten des Muskelskelettsystems sowie die unterschiedlichen Dehnungsreflexe der neuromuskulären Steuerung im Körper.« Kaum jemand denkt in Körpersystemen, da das »Dehnungsprinzip« immer noch so fest im Gehirn verankert sitzt. Es ist an der Zeit, dieses vereinfachte und überholte Bild von Beweglichkeit über Bord zu werfen und darüber nachzudenken, welche Aspekte die Körperausrichtung behindern und wie Fehlhaltungen sich auf die sportliche Leistung auswirken. Damit dieses Umdenken gelingt, habe ich die Vokabeln »Dehnen« bzw. »Stretching« und »Flexibilität« gestrichen und durch »Bewegen« und »Mobilität« oder »Mobilisieren« ersetzt.
Mobilisation definiere ich als ein auf der Bewegung basierendes, integriertes Ganzkörperkonzept, das alle bewegungs- und leistungsbeschränkenden Komponenten berücksichtigt. Dazu gehören verkürzte, verhärtete oder verspannte Muskeln, Weichgewebe und Gelenkkapselrestriktionen, Koordinationsschwierigkeiten, Einschränkungen im Gelenkradius sowie neurodynamische Probleme. Kurz gesagt ist Mobilisation ein Werkzeug, mit dem sich die Bewegungsfähigkeit und effizienz verbessern lässt. Das schafft eine neutrale Basis, aus der heraus Bewegungseinschränkungen ganzheitlich behandelt werden können. Dehnen ist dabei nicht mehr wichtig. Die korrekte Körperhaltung sowohl in der Ausgangsposition wie in der Bewegung ist das, was wirklich zählt. Gelingt dies nicht, weil Bewegungsradien oder ein spezieller Bereich des Weichgewebes eingeschränkt sind, führt Dehnen nicht zum Ziel. Wirksam ist hier nur ein System, mit dem sich feststellen lässt, welche Komponenten für die Störungen verantwortlich sind. Nach der Diagnose müssen effektive Vorgehensweisen oder Techniken folgen, die jede Komponente wirkungsvoll korrigieren.
Bei Einschränkungen im Bewegungsradius oder verhärteten Muskeln gibt es keine allgemeinverbindliche Vorgehensweise. Am besten kombiniert man verschiedene Techniken möglichst oft und geht systematisch vor, um alle Probleme mit Körperausrichtung und Bewegung, Verhärtungen des Weichgewebes sowie Gelenkrestriktionen zu erfassen. Kein Chiropraktiker, Orthopäde, Osteopath oder Physiotherapeut kann allein alle Aspekte des Weichgewebes und der Gelenke behandeln, ebenso wenig wie ein Masseur oder anderer Köpertherapeut. Ein Krafttrainer ist vielleicht genial, um perfekte Bewegungsabläufe zu vermitteln. Aber das ist nur eine Variable der Gleichung.
Sollte man also gar nicht erst mit Spezialisten arbeiten?
Doch! Man muss sogar verschiedene Fachexperten konsultieren, um herauszufinden, welche Herangehensweise die individuell richtige ist. Ich habe festgestellt, dass nur wenige Menschen eine Vorstellung davon haben, wie sie sich selbst helfen können. Meine erste Frage ist immer: »Was hast du gemacht, um das Problem zu lösen?« »Nichts«, antworten darauf neun von zehn Personen, die zur Behandlung kommen. Wir brauchen also einen wasserfesten Plan, damit wir Verantwortung für die Körperbereiche übernehmen können, die nicht funktionieren. Und dieser Plan beginnt mit Körperhaltung und Bewegung.
Zur Wiederholung: Zunächst überprüfen wir die für Ausrichtung und Bewegung zuständige Körpermechanik. Erst danach behandeln wir die Symptome. Für diese Reihenfolge gibt es mehrere Gründe. Erstens verschwinden Defizite der Körpermechanik automatisch bei korrekter Ausrichtung und Bewegung. Viele potenzielle Verletzungen aufgrund von Überbeanspruchung werden so von vornherein vermieden. Die Verletzung wird geheilt, ohne dass Symptome behandelt werden müssen. Zweitens kann der Körper mit korrekten Bewegungsabläufen und guter Koordination Schwachstellen im Weichgewebe und in der Körpermechanik viel länger kompensieren. Entscheidend ist, dass durch eine Mobilisation nicht alle Probleme gleichzeitig gelöst werden. Dies erfordert tägliches, andauerndes Bemühen. Wir sitzen stundenlang im Auto oder am Schreibtisch, trainieren wie ein Weltklassesportler und vollführen eine Vielzahl an Bewegungen. Veränderungen brauchen ihre Zeit. Doch jeder, der weiß, wie man sich richtig bewegt, kann Bewegungsfehler mit potenzieller Verletzungsgefahr verhindern. So gewinnt er Zeit dafür, beschädigte Strukturen wieder in Ordnung zu bringen.
Drittens gilt, dass unser Körper sich an alle Positionen und Bewegungen anpasst, die er den Tag über ausführt – egal, ob das langes Sitzen oder das Trainieren von Burpees ist. Bewegt man sich dabei richtig und können sowohl Gelenke als auch Muskeln stabile Positionen einnehmen, bilden sich funktionelle Bewegungsmuster aus – beim Tragen schwerer Einkaufstüten ebenso wie beim Kreuzheben im
Studio. Gewebe und Gelenkbeschwerden werden seltener. Wer jedoch bei seinen täglichen Verrichtungen vornübersackt oder ins Hohlkreuz fällt, ge wöhnt den Körper an eine schlechte Haltung. Die Folge: Es ergibt sich eine Art biomechanischer Kompromiss. Die Muskeln um ein schlecht gelagertes Gelenk herum passen sich durch funktionelle Verkürzung an die Arbeitshaltung an. Bei Personen, die den ganzen Tag sitzen, verkürzen und verhärten sich beispielsweise die Hüftbeuger. Wer das versteht, kann das Gegenmittel dazu konzipieren: durch tägliche Mobilisation der Hüftvorderseite die Folgen des Sitzens beseitigen – oder durch Weiterarbeiten im Stehen, was die weitaus bessere Lösung wäre. Wer in einer guten, aktiven Haltung steht, anstatt zu sitzen, muss nicht immer wieder verhärtetes Gewebe mobilisieren. Die gesparte Zeit kann investiert werden, um andere Schwachstellen zu optimieren (etwa die Endstellung der Kniebeuge oder die Ausgangsstellung beim Kreuzheben).
Ein einfaches Beispiel verdeutlicht dies:
Ein Sportler trainiert für einen Halbmarathon und bekommt bei Kilometer 10 regelmäßig Hüftschmerzen. Die Tatsache, dass die Schmerzen erst nach etwa 40 Minuten auftreten, kann zweierlei bedeuten: entweder, dass dem Läufer die Kraft fehlt, um den Lauf in optimaler Form über längere Zeit durchzuhalten, oder dass sein Körper eine mangelhafte Bewegungsmechanik nur über zehn Kilometer kompensieren kann. Das Problem hat mit Bewegung zu tun, nicht mit mangelnder Mobilisation. Es ist natürlich wichtig, eine Mobilisationstechnik anzuwenden, um gegen den Schmerz anzugehen. Dies verspricht allerdings nur eine kurzfristige Lösung. Sie mag zwar sofort Erleichterung verschaffen, kann aber nicht verhindern, dass die Hüfte beim nächsten langen Lauf wieder schmerzt. Vergleichen lässt sich dies mit einer Tablette, die das Symptom kaschiert, aber die Krankheit nicht heilt.
In diesem Szenario muss der Sportler seine Lauftechnik verbessern und sicherstellen, dass er ausreichend Kraft hat, um den Lauf in guter Form durchzuhalten. Sobald diese Voraussetzungen gewährleistet sind, wird sich die Hüfte nicht mehr verspannen und Schwierigkeiten machen. Und selbst wenn sie sich verspannt (was bei langen Läufen unweigerlich passiert), kann der Läufer den Zeitraum bis zu dem Moment, ab dem die Schmerzen auftreten, verlängern. Oder aber er kann sie sogar durch effizientere Bewegungen ganz verhindern.
Der vierte Grund dafür, warum Bewegung und Koordination an erster Stelle stehen sollten, ist, dass sich daraus das Mobilisationstraining ableitet. Anders ausgedrückt: Man erkennt dabei genau die Positionen, die verändert, und die Positionen, die mobilisiert werden müssen. Alles andere wäre ein Ratespiel nach dem »PressandGuess« Modell. Man drückt etwas oder zieht daran, ohne zu wissen, was man bewirkt, und hofft, es funktioniert. Sportler, die zum Beispiel in der tiefsten SquatPosition nicht die Knie nach außen führen oder die Wirbelsäule aufrecht halten können, haben eine »eingeschränkte Körperhaltung«. Um sie zu verbessern, mobilisierst du sinnvollerweise in einer Körperhaltung, die exakt aussieht wie die tiefste SquatPosition. Genauso sollte man in der Überkopfposition mobilisieren, wenn man die Arme nicht gut über Kopf bringt.
Auch beim Mobilisieren muss eine gute Körpermechanik berücksichtigt werden. Das geht nur, wenn man sich bewusst macht, wie eine Position optimal aussieht. Ohne zu wissen, wie man den Körper in diese korrekte Haltung bringt, wird man nie das Beste aus seiner Beweglichkeit herausholen. Wer es beispielsweise nicht schafft, seine Schultern in korrekter Überkopfposition zu stabilisieren, muss seine Schulterfunktion verbessern. Dazu müssen sowohl die Schultern mit den Armen über Kopf mobilisiert wie auch deren Außenrotation als wichtigster Stabilisierungsfaktor optimiert werden. Das Gleiche gilt für die Knie und die Fußrücken: Wenn man weiß, dass die Knie nicht nach innen knicken dürfen und der Fuß gut gewölbt sein muss, wird man das beim Mobilisieren berücksichtigen.
Es steht außer Frage, dass Bewegungen grundsätzlich korrekt ausgeführt werden müssen. Technik ist hierbei keine bloße Theorie, sondern der Weg dahin, Bewegungen im vollen Umfang und in den stabilsten Positionen durchzuführen. Wer das versteht, wird alle Elemente miteinbeziehen – Gelenke, Bindegewebe, Muskulatur usw. – und immer auf mehreren Ebenen arbeiten. Im Falle einer Weichgewebeeinschränkung bedeutet das, sowohl das Gelenk als auch den Muskel zu aktivieren.
Euer Dr. Kelly Starrett