Erfahre hier mehr über die Trainingsphilosophie von Michael Boyle
Bei Auftreten einer Verletzung sollten wir immer zuerst an Shirley Sahrmanns Aussage denken: »Wenn ein Muskel überlastet ist, muss immer zuerst ein schwacher bzw. nicht aktivierter Synergist als Ursache in Betracht gezogen werden.« Verletzungen sind daher nie losgelöst von der funktionellen Anatomie und den physikalischen Gesetzen zu betrachten. Die Ursache für eine Verletzung liegt nämlich in aller Regel nicht beim verletzten Muskel selbst. Im Gegenteil: Ein Muskel wird überanstrengt, weil er zu viel Arbeit leisten muss. Er arbeitet zu hart, weil ein anderer Muskel, in der Regel der Synergist, passiv oder unterentwickelt ist. Heutzutage wird aber immer noch viel zu häufig nur nach dem verletzten Muskel geschaut.
Sehen wir der Realität ins Auge: Wer Sport treibt, wird sich verletzen. Ziel eines Trainers kann und sollte es daher nicht sein, Verletzungen gänzlich auszuschalten. Das ist nämlich nicht möglich. Aber ein Trainer muss darum bemüht sein, das Auftreten von Verletzungen so weit wie möglich zu reduzieren. Sprechen wir also im Folgenden nicht mehr von Verletzungsvermeidung, sondern von Verletzungsreduzierung. Die beste Maßnahme, das Auftreten von Verletzungen zu reduzieren, ist gezieltes Krafttraining. Im Profisport misst man den Erfolg von Kraft- und Konditionstraining, indem man schaut, wie oft Verletzungen auftreten. Ich kenne kein einziges Profiteam, das die Kraft der Athleten testet, indem es sie mit Maximalgewicht eine Kniebeuge oder eine Wiederholung Kreuzheben absolvieren lässt.
Der frühere Fitnesscoach der NY Giants, der NE Patriots und der San Francisco 49ers, Johnny Parker, sagte einmal zu mir: »Wer braucht schon Tests? Wir haben 16 Tests pro Jahr, das sind unsere Spiele.« Wer in der NFL als Kraft- und Konditionscoach erfolgreich ist, sieht das daran, dass seine Spieler am Tag X fit sind und spielen können. Jedes Training ist im Prinzip eine Risikokalkulation: Wie riskant ist es für den einzelnen Sportler, eine bestimmte Übung auszuführen? Die Antwort variiert von Sportler zu Sportler und hängt unter anderem mit dessen Alter zusammen. Ältere Sportler führen beispielsweise in der Regel keine traditionellen Kniebeugen bzw. Gewichthebeübungen aus. Stattdessen absolvieren sie Sprungkniebeugen, Kettlebellschwingen und zahlreiche einbeinige Übungen, um bei niedriger Verletzungsgefahr fit zu bleiben. Jüngere Sportler dagegen trainieren konventioneller, machen Umsetzen aus dem Hang (hang cleans) und Reißen (snatches), Frontkniebeugen und Bankdrücken.
Vielleicht interessierst du dich für diesen Artikel, weil du dich selber schon verletzt hast. Vermutlich hast du dir deine Verletzung auf die gleiche Weise eingehandelt wie ich früher: Du hast trainiert bis zum Umfallen. Auch ich habe früher einmal geglaubt, dass eine Woche Rückenschmerzen nach einer effektiven Trainingseinheit mit Kreuzheben normal ist und man beim Training von Druckübungen so weit ans Limit gehen muss, dass man später nur noch mit Schmerztabletten schlafen kann. Heute weiß ich, dass das nicht richtig ist, und setze neuestes Wissen aus der Trainingswissenschaft und langjährige Erfahrung ein, um solche Auswüchse zu vermeiden.
Technisches Versagen
Ich bin ein großer Fan von Charles Poliquins Konzept des »technischen Versagens«. Er lässt seine Sportler eine Übung dann abbrechen, wenn sie nicht mehr in der Lage sind, eine weitere Wiederholung sauber und technisch einwandfrei auszuführen. Ich habe diese Anschauungsweise übernommen und unterbreche meine Sportler, bevor sie beginnen, sich durchzumogeln. Priorität hat, dass der Sportler auch am folgenden Tag noch gesund zum Training erscheinen kann, anstatt im Wartezimmer des Physiotherapeuten zu sitzen. Dennoch erwarte ich sowohl im Kraft- als auch im Konditionstraining vollen Einsatz von meinen Sportlern und lege auf beides gleichermaßen Wert. Es hat nämlich nicht allzu viel Sinn, massive Gewichte stemmen zu können, gleichzeitig aber mangelnde körperliche Fitness zu haben.
Schmerzen beim Training
Immer wieder werde ich von verletzten Sportlern um Rat gefragt, doch leider ignorieren die meisten diesen dann, weil er ihnen nicht ins Konzept passt. Wenn mir z. B. ein Sportler sagt, dass er beim Laufen Schmerzen hat, lautet meine Antwort stets: »Dann hör auf zu laufen!« Das will aber niemand hören, und man erklärt mir oft, dass der Schmerz nach dem Aufwärmen weggeht. Meine Auffassung hierzu ist klar: Wenn bei einer bestimmten Übung oder Bewegung Schmerzen auftreten, muss diese Bewegung vermieden werden. Da gibt es keine Kompromisse.
Wenn ein Sportler verletzt ist, muss der Trainer seinen gesunden Menschenverstand einsetzen und einsehen, dass Training niemals zu Schmerzen führen darf. Dieses Prinzip klingt einfach und wird dennoch regelmäßig gebrochen. Sportler sind es nämlich gewohnt, Schmerzen zu ignorieren, das ist sozusagen ihr Geschäft. Jedes harte Krafttraining tut weh, jede intensive Herz-Kreislauf-Belastung tut weh und ein Wettkampf ebenso. Die bei hartem Training auftretenden Muskelschmerzen sind normal. Auch Muskelkater am Tag nach der Belastung gehört zu den normalen Nachwirkungen. Wenn Schmerzen jedoch bereits bei Belastungsbeginn auftreten und nicht auf einen Muskel beschränkt sind, sondern auch Gelenke oder Sehnen betreffen, dann sollten alle Alarmglocken läuten.
Kraftübungen müssen immer mit komplettem Bewegungsumfang absolviert werden. Wenn der Sportler seine Bewegung abfälscht oder verkürzt, heißt das, er hat ein Problem. Dieses zu ignorieren, schadet der Gesundheit und bringt keinen Trainingsfortschritt. Die gleichen Grundsätze gelten für Herz-Kreislauf-Belastungen. Bei der Steigerung der Trainingsumfänge bzw. -intensitäten halte ich mich schon seit Jahren an die 10 %-Regel: Die Trainingszeit bzw. Distanz sollte von einer Einheit zur nächsten nicht um mehr als 10 % gesteigert werden. Mit diesem Grundsatz habe ich bereits Tausende von Sportlern erfolgreich trainiert.
Tendinitis oder Tendinose?
Die meisten Sportler, die glauben, sie hätten eine Tendinitis (Sehnenentzündung), haben in Wirklichkeit eine Tendinose (Sehnendegeneration). Dabei sind diese beiden Erkrankungen relativ leicht zu unterscheiden: Eine Tendinitis ist nämlich niemals chronisch. Wenn chronische Beschwerden vorliegen, handelt es sich um eine Tendinose. In diesem Fall hat sich die Beschaffenheit der Sehne aufgrund chronischer Überlastungen bzw. unzureichender Behandlung nach einer Verletzung verändert. Um die richtige Behandlungsform zu wählen, ist es wichtig, den Unterschied zwischen Tendinitis und Tendinose zu kennen. Eine Tendinose spricht nämlich nicht auf Eisbehandlung bzw. Einnahme von Entzündungshemmern an, da bei der Tendinose keine Entzündung mehr vorliegt. Im Gegenteil: Wer unter einer Tendinose leidet und diese mit langfristiger Einnahme von Entzündungshemmern zu kurieren versucht, schwächt die Sehne sogar noch weiter. Eine Tendinose wird behandelt, indem die betroffene Sehne kontrollierter Belastung ausgesetzt wird, bis es zu lokalen Schmerzen in der Sehne kommt. In diesem speziellen Fall sind Schmerzen sogar erwünscht, denn sie bringen den Heilungsprozess in Gang. Der Schmerz muss aber auf die betroffene Sehne beschränkt bleiben und ähnlich wie Muskelkater nach zwei Tagen abklingen. Es darf nicht zu Schwellungen oder Einschränkungen des Bewegungsumfangs kommen.
Vorschläge zur Verletzungsprophylaxe
Wir erleben hauptsächlich zwei Kategorien von Verletzungen: Unterkörpertraining führt in der Regel zu Rückenschmerzen. Diese sind akut und treten auf, weil im Bewegungsablauf des Athleten etwas nicht stimmt. Oberkörperverletzungen sind meist durch langfristige Überlastung bedingt und entstehen, weil der Athlet etwas nicht tut. Hier einige Vorschläge für sicheres und effektives Unterkörpertraining:
Wählen Sie Frontkniebeugen
Es gibt drei Hauptursachen für Rückenprobleme, die nach Hebebewegungen entstehen: das Drehmoment (beim Vorwärtslehnen), die Kompression (bei hoher Wirbel-säulenbelastung) und die Flexion bzw. Beugung. Wer zu Rückenproblemen neigt, sollte anstelle von Back Squats (Kniebeugen, bei denen die Hantelstange im Nacken
gehalten wird) die Frontkniebeuge (Hantelstange wird vor dem Körper gehalten) wählen, da diese in allen drei Problembereichen eine niedrigere Belastung
des Rückens mit sich bringt. Zwar finden die meisten Sportler Back Squats leichter, doch es ist immer noch gesünder, die Hantelstange bei der Frontkniebeuge im Zweifelsfall fallen zu lassen, als sich aufgrund falscher Bewegungsausführung mit Back Squats den Rücken zu verletzen. Die Gründe dafür, dass die allermeisten Sportler Back Squats dennoch vorziehen, sind:
• Sie haben schon immer so trainiert.
• Sie können höhere Gewichte stemmen (das Ego ist im Sport immer ein Problem).
• Sie finden die Frontkniebeuge aufgrund mangelnder Handgelenksflexibilität zu schwierig.
Meine Sportler trainieren grundsätzlich Frontkniebeugen und können dabei auch relativ hohe Gewichte auflegen. Sportler, die zwischen 90 und 100 kg wiegen, drücken 150 bis 180kg und gehen dabei bis in die tiefe Hocke. Diese Variante der Kniebeuge belastet die Wirbelsäule weniger und wird außerdem mit besserer Rückenhaltung ausgeführt.
Nein zur Beinpresse
Setze keine Beinpresse ein. Ich selbst habe dieses Gerät schon seit über zehn Jahren nicht mehr benutzt. Die Beinpresse hat nur einen einzigen Zweck: das Ego aufzubauen. Wer keine Kniebeugen schafft, sollte unter keinen Umständen auf die Beinpresse ausweichen. Stattdessen sollten andere Übungen trainiert werden – allerdings mit deutlich weniger Zusatzgewicht.
Vermeide elastische Kniebinden
Diese Binden schützen nicht vor Knieverletzungen, sondern dienen lediglich dazu, dass höhere Gewichte eingesetzt werden können. Wenn du wirklich Knieprobleme hast und gerne etwas Halt im Knie haben möchtest, setze Neoprenmanschetten ein. Meine Athleten trainieren grundsätzlich ohne Gürtel und Manschetten. Lediglich Kraftdreikämpfer sollten in den letzten Trainingseinheiten vor dem Wettkampf diese Hilfen einsetzen, um sich daran zu gewöhnen. Der Großteil des Trainings wird aber ohne Hilfsmittel absolviert.
Kniebeuge mit Gewichtsgürtel
Diese Übungsform ist optimal für verletzte Sportler. Ich ziehe zwar grundsätzlich einbeinige Übungen vor, wenn ein Sportler keine klassischen Kniebeugen machen kann, aber wir hatten auch schon einige Sportler, die eine ganze Saison lang nur Kniebeugen mit Gewichtsgürtel trainiert haben, um ihren Rücken zu schonen. Als sie dann wieder ins geregelte Training einstiegen, stemmten sie höhere Gewichte denn je.
Trainieren Sie einbeinige Kniebeugen
Es gibt viele Varianten der einbeinigen Kniebeuge. Hier möchte ich nur kurz auf den großen Nutzen einbeiniger Kniebeugen hinweisen: du trainierst bei nur geringer Rückenbelastung die Beinkraft, ohne dass hohe Gewichte eingesetzt werden müssen. Zudem aktivierst du die Stabilisationsmuskulatur, Adduktoren und Bauchmuskulatur. Wir trainieren die einbeinige Kniebeuge auf einem 25 bis 30cm hohen Kasten. Manche unserer Sportler sind in der Lage, diese Übung mit bis zu 50kg Zusatzgewicht auszuführen: Sie halten je 12,5kg schwere Kurzhanteln in beiden Händen und tragen außerdem einen 25kg schweren Gewichtsgürtel. Aber auch ganz ohne Gewicht ist die einbeinige Kniebeuge sehr effektiv, da das eigene Körpergewicht die Übung bereits sehr anspruchsvoll macht. Dies ist vermutlich auch der Hauptgrund, warum Sportler sie nicht mögen: Sie können keine hohen Gewichte auflegen und benötigen ein hohes Maß an Koordination, um den Bewegungsablauf auszuführen.
Erlerne das Reißen mit Kurzhanteln und engem Griff
Beim Umsetzen haben nicht wenige Athleten Probleme mit dem Greifen, und auch mangelnde Flexibilität im Handgelenk macht die Ausführung für viele schwierig. Daher ist das Reißen (snatch) dem Umsetzen (clean) vorzuziehen. Als Coach solltest du beachten, dass du das Reißen nicht mit Reißgriff (hierbei fassen die Hände fast die äußersten Enden der Langhantel) lehrst. In meinen Anfängen habe ich das Reißen mit Reißgriff trainieren lassen, aber wir hatten binnen kürzester Zeit
so viele Schulterprobleme, dass ich mich zum Umdenken gezwungen fühlte. So kam ich schließlich dazu, das Reißen mit Umsetzgriff zu lehren. Bei dieser Variante ist die Außenrotation verringert, die Stange legt einen größeren Weg zurück, sodass zwangsläufig das Gewicht reduziert werden muss. Verringern Sie also das Gewicht, und beginnen Sie mit Kurzhanteln. Diese Übungsvariante trainiert die Rumpfkraft, unilaterale Schulterkraft, Hüft- und Beinkraft. Das Reißen mit Kurzhanteln ist die erste explosive Hebebewegung in unseren Kraftprogrammen.
Euer Michael Boyle
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super Beitrag…. Vielen dank ;-)
vitalen Gruss
der Rüdiger