Zum ersten Mal vernahm ich den Sirenengesang der Faszien 1973 von Dr. Ida Rolf. Ihr mutiger Weitblick und ihre beeindruckenden Ergebnisse, die ich wortwörtlich am eigenen Leib zu spüren bekam, beflügelten mich und führten dazu, dass ich 1974 meine Ausbildung zum Masseur abschloss und 1976 Rolfing-Therapeut wurde. Soweit es mir möglich war, belegte ich jeden ihrer Kurse, bis sie 1979 starb. Noch im selben Jahr reiste ich nach England und besuchte später auch noch viele weitere Länder. Die Fähigkeiten, die mir Ida Rolf vermittelt hatte, führten mich im Laufe der Zeit auf jeden Kontinent der Welt, die Antarktis ausgenommen. Ja, ich liebe meinen Beruf.
Dr. Ida Rolf und Anatomy Trains
Dr. Ida Rolf (1896-1979), Vorreiterin der faszienbasierten Behandlung des Weichgewebes.
1981 begann ich damit, Anatomiekurse in London zu geben und selbst das Sirenenlied der Faszien zu singen. Seither haben zahlreiche Kollegen mit ihren eigenen Methoden und Ansätzen in diesen Gesang mit eingestimmt – aber wenn wir ehrlich sind, beruhten viele der älteren Lieder mehr auf Spekulation als auf handfesten Informationen. Ich fügte meine eigene Strophe hinzu, indem ich die Muskeln und Faszien miteinander verband, und in meinem Buch Anatomy Trains (Elsevier, 2001, 2014) den Körper gewissermaßen neu kartographierte.
Der Mensch als Landkarte: Myofasziale Leitbahnen verbinden die Muskeln miteinander.
Mit dem Faszien-Forschungskongress, der 2007 in Boston, Massachusetts, abgehalten wurde; 2009 in Amsterdam, Niederlande; 2012 in Vancouver, British Columbia (Kanada); und der für 2015 in Washington, D.C. geplant ist, haben wir endlich angefangen, harte, wissenschaftlich fundierte Fakten zu schaffen. Waren in den 1970ern noch so gut wie keine Informationen zu diesem Thema verfügbar, werden mittlerweile pro Jahr über 500 Studien zum Thema Faszien veröffentlicht.
Obwohl immer noch einige Strophen geschrieben werden müssen, ist der einstmals kleine Chor unangepasster Freigeister zu einem großen Orchester aus Chirurgen, Physiotherapeuten, Osteopathen, Masseuren und Athletiktrainern angewachsen. (Selbst die Rinderzucht hat ihren Beitrag geleistet. Wer wusste früher, dass Faszien dafür verantwortlich sind, dass Fleisch zäh wird? Deshalb hat die kanadische Regierung Grundlagenforschung über die Faszien von Rindern angestoßen, die interessante Hintergrundinformationen hervorbrachte, von denen nun auch die Heilberufe profitieren)
Heutzutage scheint es, als würde jede neue Methode mit dem Schlagwort Faszie werben, und alle möglichen Hilfsmittel – vom Tape bis hin zum neusten Trainingsgerät – führen ihren Effekt auf die Wirkung zurück, die sie auf die Faszien ausüben. Sehen wir uns einmal die wichtigsten Fakten an, die uns heute bekannt sind.
Was Faszien sind
Das Wort Faszie stammt aus dem Lateinischen und bedeutet Bündel. Früher wurden mit diesem medizinischen Begriff bestimmte Topologien und Histologien in den vielen Schichten des Bindegewebes bezeichnet, aber mittlerweile wird er in einem größeren Kontext für den gesamten Bindegewebskomplex benutzt. Zum Bindegewebe gehören aber auch Blut und große Teile des Immunsystems. Die extrazelluläre Matrix (ECM) besteht aus den fasrigen und mukösen Substanzen, aus denen sich das Fasziennetz zusammensetzt, inklusive des gesamten gebundenen und freien Wassers, das diese Bestandteile umgibt, nicht aber aus den Bindegewebszellen, die es bilden und erhalten.
Gleitarbeit: Faszien bestehen aus verschiedenen Materialien, u.a. aus zähem Schleim und festen Fasern.
- Das Epimysium um den Vastus lateralis
- Lebendes areolares Bindegewebe
Das Wort Faszie wird heutzutage von Therapeuten, Wissenschaftlern und zunehmend auch Laien verwendet – Anatomen werden sicherlich die Stirn runzeln –, um die Gesamtheit des Weichteilgewebes auf Kollagenbasis zu beschreiben, das sowohl die Entwicklung unserer äußeren Form als auch die physiologischen Prozesse von Selbstheilung und Adaptation bestimmt. (Vorgänge wie das Durchbauen eines gebrochenen Knochens, das Zusammenziehen der Haut bei einer Schnittverletzung oder die Verdickung von Sehnen infolge einer Trainingsbelastung.)
Experten sind sich noch uneinig
Experten sind sich immer noch nicht einig darüber, was überhaupt zu den Faszien gehört. Ich würde Knochen und Knorpel zum selbstreparierenden kollagenen Gewebe zählen, während andere Zeitgenossen damit nur das Weichgewebe bezeichnen. Für manche Leute gehören auch Plasma, Lymph- und Zerebrospinalflüssigkeit dazu, andere sträuben sich gegen diese These mit Händen und Füßen. (Auf www.fascia.wikispaces.com findet sich eine hervorragende Zusammenfassung des wissenschaftlichen Diskurses.)
Über das Gesamtkonzept ist man sich aber einig: Jede Zelle im Körper ist über eine extrazelluläre Matrix von zäh-hydrophoben und klebrig-hydrophilen Proteinen miteinander verbunden, und diese Matrix kümmert sich um die Kräfte, die sowohl durch Schwerkraft und Bodenreaktionskräfte auf uns einwirken, als auch durch unsere eigenen Bewegungen, und weitere äußere Einflüsse. Ganz gleich wie man es auch nennen mag, das Fasziennetz ist ein im gesamten Körper aktives, biomechanisches Regulationssystem, das genauso wichtig ist wie das neurologische System und der Blutkreislauf.
Gähnende Leere: Wenn man alles entfernt und nur die Faszien übrig lässt, wird einem schlagartig klar, wie groß ihre Rolle ist.
Von den Membranen bis in die Zellkerne hinein
Inzwischen hat sich gezeigt, dass viele der Prozesse, die wir bislang der DNS und chemischen Vorgängen zugeschrieben haben, in Wirklichkeit von dieser biomechanischen Matrix gesteuert werden. Und das hat weitreichende Konsequenzen. Durch das mechanische Einwirken auf unsere äußere Form – etwa durch Yoga, Training oder Massage – wirken wir auch auf unsere Zellen ein, von den Membranen bis in die Zellkerne hinein, und das führt dazu, dass verschiedene Gene angeschaltet werden, die daraufhin ihr Verhalten ändern.
Wir alle kennen Aussagen wie: „Bevor ich zu Ihnen kam, hatte ich eine unregelmäßige Periode, aber jetzt läuft sie wie ein Uhrwerk. Hat das etwas mit Ihrer Arbeit zu tun?“ Und natürlich wollen wir diese Frage gerne bejahen, aber wer kann in diesem Zusammenhang schon eine verbindliche Aussage treffen? Also murmeln wir etwas darüber, dass der Körper sich schon selbst ins Gleichgewicht bringt. Die neue Wissenschaft der zellulären Mechanotransduktion und ihre epigenetische Wirkung wird uns aber schon bald die Grundlage für ein energisches „Ja!“ liefern.
Was Faszien nicht sind
Zunächst einmal sind Faszien nichts Neues. Ihr arbeitet mit Faszien schon seit Ihr Patienten behandelt habt. Dementsprechend habt Ihr bereits eine Menge intuitiver Erfahrung mit dem Fasziengewebe und seiner Wirkungsweise. Worum es jetzt geht, ist die Frage, ob das stetig zunehmende Fachwissen es Euch erlauben wird, Eure Arbeit bewusster und effektiver zu gestalten.
Auch hier antworte ich mit einem energischen „Ja!“ Die aktuelle Forschung bestätigt nicht nur, was wir ohnehin schon praktizieren; sie weist auch auf spannende neue Tendenzen in unserem Arbeitsfeld hin, ebenso wie auf Entwicklungen, die nicht nur uns Masseuren nützen, sondern auch Yogalehrern, Chiropraktikern, Osteopathen, Personaltrainern und den Schulsportlehrern.
Zweitens gehören Faszien nicht zum Nervensystem. Manche der Dinge, die man heutzutage den Faszien zuschreibt, sind vielmehr eine Angelegenheit des Nervensystems, obwohl beide Systeme natürlich nicht getrennt voneinander betrachtet werden können. Faszien kontrahieren höchstens äußerst langsam und in besonderen Fällen, Muskeln hingegen reagieren umgehend auf die Befehle des Nervensystems. Sofortige Releases, Änderungen der Gefühlslage, Trigger- und andere Punkte haben vielleicht etwas mit den Faszien zu tun, aber sie entstehen durch die Funktion von Nerven und Muskeln, bzw. werden durch diese moduliert.
Drittens sind Faszien nicht das A und O – sie sind kein Allheilmittel, oder die Antwort auf alle Fragen, die uns beschäftigen. Die Wahrheit ist spannend genug, man muss also nicht versuchen, mehr hineinzuinterpretieren, als sich wissenschaftlich erklären lässt. Sind Faszien so etwas wie eine Flüssigkristall-Antenne, die Basis der menschlichen Intuition, das Medium der Akupunktur und das Heilmittel für Krebs? Das wird sich noch zeigen, aber nachdem ich mich nun schon so lange damit beschäftige, versuche ich mittlerweile, meine Kollegen ein wenig zu bremsen, damit sie sich nicht in reinem Wunschdenken ergehen.
Wir wissen auf jeden Fall, dass das Fasziennetz die Matrix für Entwicklung ist, und wenn alles richtig funktioniert, bietet es die mechanische Umgebung und Steuerung für die 60 Billionen Zellen im menschlichen Körper. Im Idealfall befinden sich alle Neuronen, Muskeln und Epithelzellen an ihrem vorgesehenen, optimalen Platz, sind im Gleichgewicht und können richtig arbeiten. Wenn die Zellen verklebt, dehydriert oder überbeansprucht sind – und manchmal tritt ein solcher Zustand in großem zeitlichen Abstand zum eigentlichen Problem auf – ermüden sie oder geraten unter Druck und können ihre Arbeit nicht mehr ordentlich erledigen. Das ist schon eine ganze Menge, man muss den Faszien also keine Kräfte zuschreiben, die sie gar nicht besitzen.
Bizeps: Wir isolieren jeden einzelnen Muskel, hier den Biceps brachii – und analysieren, wie er sich verhalten würde, wenn er der einzige Muskel im Skelett wäre. Neuere Studien zeigen, wie beschränkt diese Sichtweise ist. Der Körper denkt in anderen Dimensionen.
Die Muskeln sind tot – lang leben die Faszien!
Durch ein genaueres Studium der Faszien und unseres neuen Verständnisses von Biomechanik wird sich unsere Vorstellung von der Funktionsweise des Körpers verändern, und damit auch die Methoden, mit denen wir manuelle Therapie vermitteln bzw. Leistungssteigerungen in den wesentlichen Bereichen Sport, Alltag und künstlerischem Ausdruck erreichen. Je mehr ich mich mit dem Thema befasse, desto sicherer bin ich, dass wir unsere Vorstellung von einem Muskel überdenken müssen.
Das Konzept von „einem Muskel“ bildet die Grundlage von so vielen unserer biomechanischen Theorien – Ursprung, Ansatz und Funktionen, was geschieht in der konzentrischen, exzentrischen und isometrischen Kontraktion etc. – dass sich damit Unmengen von Büchern füllen lassen. Nachdem ich mich aber nun schon seit 40 Jahren mit dem menschlichen Körper auseinandersetze, bin ich davon überzeugt, dass dies der größte Denkfehler der letzten 400 Jahre ist.
Frühe Anatomen sezierten Leichen mit denselben Werkzeugen, die Jäger und Metzger an Tierkadavern verwendeten: Klingen. Diese wurde immer schärfer und dünner – aber die Analysemethode ist die gleiche geblieben. Wenn man bei einer Sektion mit der schmutzigen Realität von Fett und Faszien in Berührung kommt, ist die Versuchung groß, den Körper im wahrsten Wortsinn begreifbar zu machen, indem man einen Muskel von den Faszien löst und ihm einen Namen gibt.
Tensegrität
Immer wenn wir einen Muskel analysieren, isolieren wir ihn automatisch und stellen uns vor, er wäre der einzige am Körper: wir würde es sich auf den entsprechenden Teil des Skeletts auswirken, wenn sich seine Enden einander annäherten? Sobald wir diese Frage beantworten, glauben wir, wir haben diesen einen Muskel zur Gänze verstanden.
Natürlich besteht der Körper auch aus Muskelgewebe, aber die traditionelle Annahme, dass jeder Muskel für sich selbst arbeitet, wobei er nichts weiter tut, als sich von einem Ende zum anderen zusammenzuziehen, ist von der neueren Forschung gründlich widerlegt worden. Muskeln übertragen nicht nur ihre Kraft entlang der Faszienketten nach oben oder unten, sie übertragen auch eine erhebliche Menge Kraft auf die umliegenden Muskeln und Bänder. Und deshalb weicht unser althergebrachtes Körperkonzept allmählich einem dynamischeren, komplexeren, Tensegrity-artigen Bild von der Funktionsweise des Körpers.
Flemons-Modell: Die Tensegrity-Modelle von Tom Flemons schaffen es wesentlich besser als die alte Konzentration auf die Muskelanheftungen, die Beziehung zwischen Muskel und Fasziengewebe zu beschreiben (www.intesiondesigns.com).
In der Neurologie ist man sich der Dynamik und Plastizität natürlicher Prozesse viel stärker bewusst als in der Anatomie, auf die sich Masseure, Physiotherapeuten, Athletik- und Personaltrainer normalerweise berufen. Aber bislang konnte noch niemand nachweisen, dass es im Gehirn einen spezifischen Funktionsbereich für den Deltamuskel oder einen anderen Muskel gibt. Das Gehirn denkt nicht in Muskeln, sondern in individuellen neuromotorischen Einheiten, bestehend aus 10 bis 100 Muskelfasern, die über eine spezifische Muskelspindel und Golgi-Sehnenorgane Informationen mit dem Gehirn austauschen. Dieses lernt Bewegung zu koordinieren, indem es das Feedback dieser kleinen neuromotorischen Einheiten nutzt, und es erzeugt Stabilität und Bewegung, indem es bestimmte gespeicherte Programme abruft, mit denen diese neuromotorischen Einheiten aktiviert werden.
Eine Million Muskeln steuern
Es tut mir zwar leid, dass sich somit Euer Wissen um die 600 Muskeln bzw. ihre Ursprünge und Ansätze als veraltet erweist; aber wenn Eure Ernüchterung erst einmal nachgelassen hat, werdet Ihr erkennen, welche Möglichkeiten sich eröffnen. Stellt Euch das nur einmal vor: Ihr steuert etwa eine Million individueller, kleiner Muskeln innerhalb des gesamten Fasziennetzes, aber eben über alle Limitierungen durch ungeachtet irgendwelcher Ursprünge und Ansätze, Muskelnamen oder faszialer Kategorisierungen hinweg.
Während wir also einerseits zwar schon heute ein Lob auf die Fortschritte der Wissenschaft singen können, sind wir andererseits aber noch weit davon entfernt, die letzte Strophe im Lied der Faszien anzustimmen . Es ist eine Komposition, die wesentlich komplexer ist als das, was wir uns in den letzten 400 Jahren erarbeitet haben. Allerdings: Je mehr Therapeuten und Forscher in den Gesang mit einstimmen, umso schneller wächst die Symphonie.
Euer Thomas Myers
Thomas Myers spricht auf dem ersten Faszien Summit am 7. und 8. Februar 2015 in München.
Im Folgenden findest du die englischen Version:
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