Der Katapultmechanismus: elastische Rückfederung von Fasziengeweben
Forscher im Bereich der Muskelphysiologie faszinierte in den 1980er-Jahren das Känguru und seine Fähigkeit, kraftvolle Sprünge von bis zu 13 Metern auszuführen. Da diese Tiere keine voluminösen Beinmuskeln haben, lautete die vorherrschende Theorie, dass ihre Beinmuskulatur ungewöhnliche Muskelfasern enthalten müsse, die explosive Kontraktionen möglich machen. Einige Forscher waren sogar überzeugt davon, dass sie »superschnell kontrahierende Fasern« in den Hinterbeinen der Kängurus finden würden. So genau die Forscher jedoch auch die Muskulatur untersuchten, sie entdeckten einfach keine ungewöhnlichen Muskelfasern. Man stand vor einem Rätsel: Wenn Muskeln die Kraft für derart beeindruckende Sprünge erzeugen, wie können diese Tiere dann dieselben Muskelfasern wie ein Koala haben? Schließlich forschte man dort nach der Antwort, wo zuvor noch niemand nachgesehen hatte: in den Eigenschaften der Sehnen. Hier machte man die Entdeckung einer verblüffenden Fähigkeit, die in der Folge als »Katapulteffekt« bezeichnet wurde. Ähnlich einer Stahlfeder, können die langen Sehnen der Kängurus Bewegungsenergie erstaunlich effizient speichern und wieder freigeben (Kram & Dawson, 1998).
Wenn das Känguru auf dem Boden aufsetzt, werden seine Sehnen und die Faszien-Aponeurosen der Hinterbeine wie Gummibänder unter Spannung gesetzt. Die anschließende Freigabe dieser gespeicherten Energie ermöglicht dann ihre gewaltigen Sprünge. Kurze Zeit darauf entdeckten Forscher denselben Mechanismus auch bei Gazellen. Diese Tiere können nicht nur beeindruckende Sprünge ausführen, sondern auch blitzschnell laufen, obwohl ihre Muskulatur nicht besonders kräftig ausgeprägt ist. Die Tatsache, dass Gazellen allgemein als grazil gelten, machte die elastische Federkraft umso interessanter. Ähnlich beeindruckende Fähigkeiten zur elastischen Energiespeicherung konnten später auch bei Pferden nachgewiesen werden.
Homo sapiens: die elastische »Gazelle« in der Primatenfamilie
Als die Technologie der hochauflösenden Ultraschalluntersuchung so weit entwickelt war, dass damit einzelne Sarkomere in den Muskeln beobachtet werden konnten, entdeckten Forscher bei
der Lastverteilung in Muskeln und Faszien der menschlichen Bewegung ein ähnliches Zusammenspiel wie bei Känguru, Gazelle und Pferd. Überraschend stellte man fest, dass die menschlichen Faszien eine ähnliche Speicherkapazität für Bewegungsenergie aufweisen wie die von Känguru und Gazelle (Sawicki et al., 2009). Diese Speicherkapazität kommt nicht nur beim Laufen oder Springen zum Einsatz, sondern auch beim Gehen, wo ein bedeutender Teil der Bewegungsenergie aus derselben elastischen Federkraft der oben beschriebenen Kollagengewebe stammt. Weder Schimpansen noch Bonobos, Orang-Utans oder andere Primaten haben im Vergleich zu ihrem Verwandten Homo sapiens eine ähnliche elastische Energiespeicherkapazität in den Fasziengeweben der Beine entwickelt. Dies zeigt sich in den kürzeren Muskelfaszikeln und dünneren Sehnen im distalen Bein des Menschen. Aus diesem Grund sind Menschen wesentlich besser für die elastische Energiespeicherung und die Freigabe von Bewegungsenergie ausgestattet (Alexander, 1991).
Diese Entdeckung führte zu einer aktiven Revision liebgewonnener Prinzipien im Bereich der Bewegungswissenschaft. Nach dem klassischen Modell der Muskeldynamik geht man bis dato davon aus, dass sich bei einer Muskel-Gelenk-Bewegung die Muskelfasern des beteiligten Skelettmuskels verkürzen. Diese Energie wird dann durch die passiven Sehnen übertragen und führt zur Bewegung (Abbildung 1). Diese klassische Form der Energieübertragung ist nach den jüngsten Messungen für langsame und auch für schnellere Bewegungen mit gleichmäßiger Geschwindigkeit der Gliedmaßen immer noch gültig, etwa beim Fahrradfahren. Hier verändern die Muskelfasern aktiv ihre Länge, während die Sehnen und Aponeurosen sich kaum verlängern. Die faszialen Elemente spielen bei dieser Bewegungschoreografie überwiegend eine passive Rolle.
Im Kontrast dazu stehen oszillierende, elastisch federnde Bewegungen, wie Hüpfen, Laufen oder Seilspringen, bei denen sich die Länge der Muskelfasern kaum verändert. Während die Muskelfasern fast isometrisch kontrahieren, versteifen sie sich vorübergehend ohne größere Veränderung der Länge, und die faszialen Elemente arbeiten elastisch mit einer Bewegung, die der einer nachschwingenden Stahlfeder ähnelt (Abbildung 2). Diese Verlängerung und Verkürzung der faszialen Elemente ist das, was die eigentliche Bewegung größtenteils erzeugt. Man muss sich das ähnlich wie bei einem Katapult vorstellen: Die Person, die ihre Energie in die Spannung des Schleuderseils der Wurfmaschine steckt, entspricht den Muskelfasern, die ihre Bewegungsenergie in den Fasziengeweben speichern. Meist verläuft die Vorbereitungsarbeit der Muskeln in die entgegengesetzte Richtung der geplanten explosiven, kräftigen Bewegung. Für einen Bogenschützen bedeutet das beispielsweise, dass seine Muskeln den Bogen nach hinten ziehen, um dessen potenzielle Bewegungsenergie zu erhöhen. Wenn die Energie freigesetzt wird, ist es das Kollagen (oder die Bogensehne), das den Gegenstand (oder Pfeil) in die gewünschte Richtung schleudert, während die muskulären Elemente ruhen. Man stelle sich einen Bogenschützen vor, der schneller zu schießen versucht, indem er den Pfeil mit seinen Muskeln nach vorn schleudert: Diese Bewegung wäre viel zu langsam. Bei richtiger Belastung kann das Kollagen sich wesentlich schneller verkürzen, als eine Muskelfaser kontrahieren kann. Dies funktioniert allerdings nur dann, wenn das belastete Kollagengewebe eine hohe elastische Speicherkapazität aufweist. Ein Bogenschütze mit einem Bogen aus Beton und einem starren Draht als Sehne kann keinen Pfeil abschießen.
Abb.1
Vergleich von Längenänderungen in Muskel- und Kollagenelementen im konventionellen »Muskeltraining« (A) und bei einer eher faszienorientierten Bewegung mit elastischen Rückstellkräften (B) Die elastischen Sehnen (oder Faszienelemente) werden als Federn dargestellt, die Muskelfasern als gerade Linien. In der konventionellen Bewegung (A) verändern die elastischen Kollagenelemente ihre Länge nicht wesentlich, die kontraktilen Muskelfasern dagegen stark. Bei rhythmischen oszillierenden Bewegungen jedoch wie Laufen oder Hüpfen (B) kontrahieren die Muskelfasern fast isometrisch, während die faszialen Kollagenelemente sich wie eine elastische Feder verlängern und verkürzen. (Abgeänderte Illustration aus Kawakami et al. 2002, mit freundlicher Genehmigung von www.fascialnet.com)
Resonanzfrequenz: Länge und Steifigkeit als entscheidende Faktoren
Um die fasziale Spannkraft (Recoil) zu veranschaulichen, erweist sich das Experiment mit einem Gewicht an einer Stahlfeder (oder einem Gummiband) als hilfreich (Abbildung 2). Mit offenen oder geschlossenen Augen können die meisten Menschen bereits nach wenigen Zyklen die optimale Resonanzfrequenz des Systems bestimmen. Diese erreichen sie gewöhnlich dann, wenn sie einen Rhythmus finden, in dem ein winziges Heben des Haltefingers einen Sekundenbruchteil vor dem Umkehrpunkt die Dehnlast der Feder erhöht. Die ideale Resonanzfrequenz in einem vollständig elastischen System
hängt dabei hauptsächlich von zwei Faktoren ab: (1) der Länge des Schwungelements und (2) der Steifigkeit der gedehnten Gewebe.
Abb. 2
Experimente mit elastischen Rückstellkräften – Um die ideale Resonanzfrequenz eines elastisch schwingenden Systems zu finden, kann bereits eine wiederholt ausgeführte winzige Fingerbewegung (Amplitude unter 1 mm) einen ausreichenden muskulären Beitrag zum Erreichen einer großen, harmonischen Schwungbewegung darstellen. (Fotos mit freundlicher Genehmigung von fascialnet.com)
Umgesetzt auf Bewegung, bedeutet das: Beim Tanzen oder Springen auf Sand finden die meisten Menschen langsamere Musik passender, während ein schneller Rhythmus eher dem Barfußtanzen mit dem Vorfuß auf hartem Boden bei stark kontrahierten Wadenmuskeln zu entsprechen scheint. Bei rhythmischen Bewegungen, in denen sich beide Füße gleichzeitig vom Boden lösen, wie beim Laufen, Hüpfen, Seilspringen etc., eignen sich Rhythmen zwischen 150 und 170 Beats pro Minute (BPM). Als Musik für mühelose Schwungund Federbewegungen, in denen die Füße am Boden bleiben, empfinden die meisten Menschen langsamere Rhythmen zwischen 120 und 140 BPM angenehm (Tabelle 1). Was tun, wenn die Musik zu langsam oder zu schnell ist? Man kann entweder nur auf jeden zweiten Schlag tanzen oder die Länge des schwingenden Teils des Körpers verändern und/oder die Steifigkeit der belasteten Fasziengewebe anpassen, indem man den aktiven Tonus in einigen der dazugehörigen Muskelbereiche erhöht oder senkt.
Tab. 1
Resonanzfrequenzen verschiedener menschlicher rhythmischer Bewegungen – Normalerweise greifen Schwungbewegungen mit schwerkraftabhängiger Pendeldynamik nicht auf die elastischen Dehn- und Federeigenschaften von Fasziengeweben zurück. Sie bieten stattdessen andere Vorteile und sollten nicht als spezifisches Training für Faszienelastizität betrachtet werden.
Springen wie ein Känguru oder hüpfen wie ein Frosch?
In elastisch oszillierenden Bewegungen wie etwa beim Kängurusprung geht es bei der Energieerzeugung in den beteiligten Muskeln vornehmlich darum, den besten Rhythmus zu finden und zu halten. Das lässt sich mit den Bewegungen eines Dirigentenstabs oder den Stöcken eines Slalomskifahrers vergleichen. Es überrascht daher nicht, dass die Muskeln, die am Kängurusprung beteiligt sind, bei allen Geschwindigkeiten dieselbe Kraft erzeugen (Kram & Dawson, 1998). Ebenso belegt eine Studie zum Gang von Frauen der afrikanischen Stämme Luo und Kikuyu, die Lasten von bis zu 20 Prozent ihres Körpergewichts auf dem Kopf tragen, dass ihr Sauerstoffverbrauch größtenteils unabhängig vom getragenen Gewicht bleibt, solange sie in einer Geschwindigkeit gehen, die ihnen angenehm ist. Bei einer Untersuchung an britischen Soldaten, die bis zu 20 Prozent ihres Körpergewichts im Rucksack mit sich tragen, stieg der Energieverbrauch proportional zum getragenen Gewicht an. Interessanterweise zeigten die afrikanischen Frauen dasselbe gewichtsabhängige (und wahrscheinlich eher muskelbasierte) Muster im Energieverbrauch wie die Soldaten, wenn man sie bat, in unbequem schnellem oder langsamem Tempo zu gehen (Alexander, 1986; Zorn & Hodeck, 2011; Kapitel 17).
Im Vergleich zu diesen rhythmisch oszillierenden Bewegungen werden in einzelnen explosiven Bewegungen Muskeln und elastische Gewebeeigenschaften anders koordiniert. Wenn zum Beispiel ein Frosch hüpft (teils bis zu zehn Meter weit), nutzt er ebenfalls die elastischen Federeigenschaften seiner Beinfaszien. Allerdings ist dabei die Kontraktionsgeschwindigkeit der Muskelfasern von zentraler Bedeutung. Die Koordinierung von muskulärer Kontraktionsdynamik und der Rückstoßdynamik von Kollagengewebe lässt sich mit dem Auswerfen einer langen elastischen Angel vergleichen. Eine rasche Muskelbewegung übt dann eine starke Zugkraft auf die distale Gliedmaße sowie auf die verbundenen Kollagengewebe aus. Zuerst scheint ein Teil dieser Kraft im elastischen Nachfolgen von Sehnen und Aponeurosen »verloren« zu gehen. Doch in der Folge setzen diese Gewebe die gespeicherte Muskelenergie in einer rasch beschleunigenden Bewegung frei, deren Geschwindigkeit die potenzielle Muskelkontraktionsgeschwindigkeit um ein Mehrfaches übersteigt. Interessant ist, dass zu derartigen Einzelbewegungen nicht unbedingt ein Gefühl für Rhythmus oder Resonanzfrequenzen gehört wie bei oszillierenden rhythmischen Bewegungen. Zudem spielt die Stärke der anfänglichen Muskelkontraktion eine entscheidende Rolle: Je schneller und stärker die Muskeln zu kontrahieren beginnen, desto kräftiger ist der entstehende Rückstoß der Fasziengewebe.
Natürlich gibt es zwischen diesen beiden Extremen verschiedene komplexe Kombinationen. So entstehen beim Werfen eines Baseballs oder eines Speers Beschleunigungen, die die erzeugten Geschwindigkeiten bei allen anderen Primaten deutlich übertreffen (Rouch et al., 2013). Dies wird zum Teil durch eine muskelbasierte »Ausholbewegung« (d.h. ein Dehnen in die Gegenrichtung der geplanten Wurfbewegung) erreicht, bei der Bewegungsenergie in verschiedenen kollagenen Membranen und Sehnen gespeichert wird. Diese Anfangsphase simuliert einen Teil der oben beschriebenen Dynamik beim Kängurusprung, bei dem ein Gefühl für Rhythmus und Resonanzfrequenzen überaus wichtig ist. In der anschließenden Phase, die aus einer Schwungbewegung nach vorn besteht, kommen dagegen ähnliche Speicher- und Freisetzungsdynamiken zum Einsatz wie beim kraftvollen Froschsprung.
Plyometrie: zwei unterschiedliche Mechanismen
Für Wettkampfsportler ist plyometrisches Training ein alter Hut. Plyometrie (Kapitel 22), auch unter der Bezeichnung »Sprungtraining« bekannt, hielt Anfang der 1980er-Jahre Einzug in die westliche Sportszene. Im plyometrischen Training wird die gesamte Länge eines »Muskel-Sehnen-Komplexes« aus dem gestreckten Zustand schnell bzw. »explosiv« in einen verkürzten Zustand gebracht, zum Beispiel durch wiederholtes Springen. Diese Technik wird auch »Dehnungs-Verkürzungszyklus« genannt. Nachgewiesenermaßen ist die exzentrische Kontraktion der beteiligten Muskelfasern während der anfänglichen Dehnungsphase entscheidend: Je schneller und kräftiger die vorbereitenden exzentrischen Kontraktionen sind, desto mehr Kraft wird anschließend in der abschließenden Kontraktionsphase ausgeübt. Es ist erwiesen, dass plyometrisches Training die Sprunghöhe sowie zahlreiche andere sportliche Leistungen verbessert (Abbildung 3).
Abb. 3
Plyometrisches Training kann die Sprunghöhe verbessern und einen allmählichen Umbau von Sehnengewebe hin zu einer erhöhten kinetischen Speicherkapazität einleiten. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass die Leistungssteigerung bei trainierten Springern mit einer »trägeren« Muskelaktivierung und gleichzeitig einer erhöhten Nutzung passiver elastischer Rückstelleigenschaften einhergeht (Fouré, 2011).
Die allgemeine Erklärung für den Wirkungsmechanismus ist eine Kombination aus zwei Faktoren: (1) einer Veränderung der mechanischen Eigenschaften, die hier als Vorgang der elastischen Energie-speicherung plus Rückfederung innerhalb der Muskel-Sehnen-Einheit verstanden wird sowie (2) einer Optimierung neuraler Eigenschaften in Form eines verstärkten Dehnungsreflexes und der daraus resultierenden Aktivierung einer erhöhten Anzahl von motorischen Einheiten innerhalb der beteiligten Muskelfaserbündel (Kubo et al., 2007). Obwohl unklar blieb, welchen Anteil diese sehr unter-schiedlichen Mechanismen jeweils am Gesamtergebnis hatten, betrachteten die meisten Autoren und Sportler die verbesserte neuromuskuläre Koordination und die angenommene Erhöhung der myogenen Kontraktionskraft als vorherrschenden Faktor. Der Nutzung passiver biomechanischer Speicher- und Freisetzungseigenschaften dagegen wurde im Vergleich zur Komponente der aktiven Muskelkontraktion lediglich eine nachgeordnete, unterstützende Rolle zugeschrieben. Mithilfe moderner Ultraschalltechnologie gelang es einem Team französischer Sportwissenschaftler, das Verhältnis dieser beiden Mechanismen zueinander zu untersuchen (Fouré et al., 2011). Durch das Vermessen der Längenänderungen im Musculus triceps surae und in der Achillessehne stellten sie fest, dass 34 einstündige plyometrische Trainingseinheiten über 14 Wochen zu einer erhöhten Nutzung der passiven Gewebeeigenschaften und zu einer verringerten Nutzung aktiver kontraktiler Muskelelemente führten. Danach zeigten sich im systematischen Training neben der erhöhten Beschleunigung und der verbesserten Sprungleistung »bequemere« Muskelfasern während der Verkürzungsphase, aber erhöhte passive »elastische Rückstelleigenschaften« der federnden Elemente innerhalb der Muskel-Sehnen-Einheit.
Wenn der Speicherungs-Freisetzungs-Mechanismus »irgendwo« innerhalb des gesamten Muskel-Sehnen-Komplexes erfolgt, lohnt es sich, der Frage nachzugehen, ob er überwiegend in den kollagenen Elementen abläuft (Sehne, Epimysium und intramuskuläre Bindegewebe) oder ob er auch in den Muskelfasern selbst auftritt. Muskelfasern bestehen aus kleineren röhrenförmigen Myofibrillen, deren kleinste Funktionseinheit das Sarkomer ist. Mehrere in Reihe geschaltete Sarkomere bilden eine Myofibrille. Die aussichtsreichstenKandidaten für die elastische Energiespeicherung in den Sarkomeren sind die Titin-Proteine (Linke, 2000). Diese größten bekannten Proteine im menschlichen Körper bilden neben den bereits bekannten dicken (überwiegend Myosin-) und dünnen (überwiegend Aktin-)Filamenten ein jüngst entdecktes drittes Filamentsystem im Sarkomer. Diese besonderen Proteine besitzen zwar elastische Rückstelleigenschaften, doch ihr Beitrag zum Dehnungs-Verkürzungs-Zyklus in rasch beschleunigenden Einzelbewegungen wie Springen oder Werfen ist umstritten.
Eine detaillierte Untersuchung an isolierten Muskelfasern von Fröschen zeigte allerdings, dass die potenzielle elastische Rückstellkraft der TitinProteine von anderen intramuskulären Kontraktionsdynamiken deutlich beeinträchtigt wird. Möglicherweise können sie aus diesem Grund gar nicht wesentlich zu den elastischen Rückstelleigenschaften beitragen. Die Forscher kamen zum Schluss, dass die elastische Rückfederung des Titins die aktive Muskelverkürzung unter geringer Belastung oder bei Verkürzungen über längere Zeiträume von größeren physiologischen Sarkomerlängen unterstützen kann (Minajeva, 2002). Mit anderen Worten: Bei den hohen Belastungen in den meisten plyometrischen Trainingseinheiten scheinen die intramuskulären Titin-Elemente lediglich eine untergeordnete Rolle in der passiven Rückstelldynamik des gesamten Muskel- Sehnen-Komplexes zu spielen. Zwar müssen die vorgestellten Schlussfolgerungen aus dieser Tierstudie noch durch detailliertere Untersuchungen – beispielsweise an menschlichem Skelettmuskelgewebe – validiert werden. Jedoch deuten die aktuellen Ergebnisse darauf hin, dass die kollagenen, heißt faszialen, Gewebe höchstwahrscheinlich den größten Beitrag zum Energiespeichermechanismus und dem Mechanismus der Energiefreisetzung beisteuern, der für die gesteigerte sportliche Leistung durch plyometrisches Training verantwortlich ist.
Doch wie sieht es mit dem potenziellen Beitrag der intramuskulären Titin-Elemente zu den oszillierenden rhythmischen Federbewegungen, etwa beim Springen des Kängurus oder beim Laufen des Menschen, aus? Hier kommt es bei den Längenveränderungen der beteiligten myofaszialen Gewebe – ganz im Gegensatz zu den kollagenen Sehnenelementen (Abbildung 1) – lediglich zu einer geringfügigen Längenveränderung innerhalb der Sarkomere in den Muskeln Die Tatsache, dass die Titin-Elemente in die Sarkomere eingebettet liegen, lässt klar darauf schließen, dass der Großteil der elastischen Rückstelldynamik in solchen Bewegungen in den kollagenen Elementen erreicht wird und nicht etwa in den muskulären Titin-Komponenten. Das heißt: Beim Training der elastischen Speicherkapazität – ob bei Einzelbewegungen wie Werfen oder in oszillierenden Bewegungen wie Jogging – geht es hauptsächlich um eine Verbesserung der elastischen Eigenschaften des Kollagens und nicht um die Anpassung der intramuskulären Sarkomere.
Klinische Zusammenfassung
•• Fasziengewebe können wie eine elastische Feder Bewegungsenergie speichern und freisetzen.
•• Dieser »Katapultmechanismus« wurde in allen Einzelheiten erstmals an Kängurus untersucht; nachfolgende Forschungsarbeiten zeigten jedoch, dass er auch bei oszillierenden Bewegungen des Menschen wie beim Laufen, Springen oder Gehen eine große Rolle spielt.
•• Wie am energieeffizienten Gang bestimmter afrikanischer Frauen gezeigt wurde, gibt es bedeutende interindividuelle Unterschiede beim Grad der Nutzung dieses elastischen Rückstellmechanismus.
•• Ein angemessenes Training kann dazu führen, dass bei raschen beschleunigenden Bewegungen weniger Muskelenergie und mehr Faszienelastizität genutzt wird.
•• Ein Schlüsselfaktor bei der Koordinierung ist das richtige Timing: die präzise Anpassung der Muskelaktivierungen an die Resonanzfrequenz des schwingenden Systems.
Euer Robert Schleip
Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem Buch „Faszien in Sport und Alltag“. Jetzt bestellen!