Bereits in der Evolution lassen sich einige Unterschiede zu unseren engsten Verwandten feststellen. Immerhin verbindet uns mit einem Gorilla zu etwa 98,3 Prozent und mit einem Schimpansen zu 99 Prozent das gleiche Erbgut – woraus sich viele Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede ergeben. Der geringe prozentuale Unterschied der Erbanlage bringt sogar bedeutsame Differenzen mit sich.
Man findet solche einzigartigen Unterschiede nicht nur in zellulären oder biochemischen Untersuchungen, sondern auch in der topografischen Anatomie: Im Vergleich zum Menschenaffen, der eine einfache s-förmige Wirbelsäule besitzt, hat der Mensch beispielweise eine doppelt s-förmige Wirbelsäule. Bereits hier zeigt sich der Einfluss des aufrechten Ganges. Diese unterschiedlichen anatomischen Merkmale ziehen sich durch den gesamten Körper. So besitzt der Mensch auch eine andere Grundstellung des Kopfes, besitzt ein ausgeprägtes Fußgewölbe für den Stand und den Gang, er besitzt die Fähigkeit einer perfekten Oppositionsstellung des Daumens und zeigt ebenfalls einen breiteren Brustkorb sowie auch ein breiteres Becken. Das menschliche Becken ist hierbei schüsselförmig ausgerichtet, konträr zu dem länglichen, eher schaufelförmigen Becken des Menschenaffen.
Der menschliche Körper ist damit das perfekte Beispiel für die optimale Mischung aus anatomisch stabilem Schutz und großer Mobilität. Wären uns 16 Rippen gewachsen, in Verbindung mit einem Becken, das uns wie ein großer Blumentopf von unten umgeben würde, hätten wir sicherlich einen sehr hohen Schutzfaktor, insbesondere für unsere Organe, doch gleichzeitig hätten wir jede Form von Mobilität verloren. Das Becken ist der Kern, die Mitte des menschlichen Geschöpfes. Im Becken kommen durch die zentrale Lage und Stellungsform beim Menschen die höchsten Kräfte an und werden hier um- und weitergeleitet. Genau genommen ist diese größte Kraftverteilungsstelle das Sakroiliakalgelenk (Art. sacroiliaca), im verbreiteten Sprachgebrauch das sogenannte ISG. Während des menschlichen Gangs wird insbesondere über dem ISG die biomechanische Kraftverteilung von oben nach unten gespalten. Diese Kraftverhältnisse innerhalb des Beckens werden auch durch die Tatsache verdeutlicht, dass Menschen ohne Symphyse, also den vorderen Beckenanteil, gut laufen können.
Beispiele dafür sind u. a. Berichte über Frauen aus Afrika, denen während eines komplizierten Geburtsvorganges keine modernen Techniken zur Symphysenlockerung vorliegen und bei denen das Neugeborene letztlich mit einem Bruch der Symphyse gerettet wird. Im Anschluss daran können die Frauen nach einiger Zeit wieder normal laufen. Dies wäre mit einem hinteren Beckenbruch am ISG so nicht möglich.
Nur zu gut kennt man vom mitteleuropäischen Neuzeit-Menschen den stechenden und oftmals morgens beginnenden ISGSchmerz. In der klassischen Physiotherapie gibt es dahingehend unzählige Testreihen, die aufgrund ihrer unzureichenden Spezifität den Befund häufig erschweren oder sogar irreführend sein können. Das liegt vor allem ganz einfach daran, dass das Becken ein sehr komplexes Konstrukt mit vielen anatomischen Feinheiten ist.
Die Grundlage der funktionellen Anatomie ist und bleibt die topografische Anatomie. Bevor man in Funktionen denkt, sollten daher die Fragen zur Struktur geklärt sein. Das kann häufig ein langwieriges Unterfangen sein, denn die menschliche Anatomie ist alles andere als einfach. Wir alle wissen im Verhältnis gesehen sicherlich noch sehr wenig über den Körper und müssen uns dessen bewusst sein, dass es noch viel zu erforschen gibt.
Das Becken ist der Kern, die Mitte des menschlichen Geschöpfes
Die anatomische Basis des Menschen ist also anders und zeigt Unterschiede zum Menschenaffen. Was hat das für eine Relevanz? Durch ein breiteres Becken erhält das weibliche Geschlecht zunächst die Grundlage, den Nachwuchs mit größerem Schädel zu gebären. Irgendwie muss die sogenannte „Denkerstirn“, mit einem etwa vierfach größeren Gehirn als beim Menschenaffen, genügend Platz zum Freigang erhalten. Gleichzeitig ergibt die Form des menschlichen Beckens eine perfekte mobile Schüssel für alle Organe und kann somit sowohl Haltefunktionen als auch Schutzfunktionen für unsere Organe übernehmen.
Menschenaffen haben im Vergleich ein viel kleineres Sacrum und ein viel länglicheres Becken, somit einen riesigen Gluteus medius und einen kleinen Gluteus maximus. Menschenaffen haben zudem auch einen kleineren Hüftkopf und das Becken ist flach ausgerichtet. Beim Menschen ist das genau andersherum, wobei das Becken beim Menschen zudem physiologisch leicht nach vorne gekippt ist. An diese Form des Beckens sind sehr lange Hebel angebracht. Nicht nur unsere Extremitäten, sondern auch die Wirbelsäule sind gemeinsam letztlich am Becken fixierte Hebel, die durch Muskeln und Faszien zusammengehalten werden. Grundlegend gilt natürlich: Je stärker die tensegralen Nachbarn rund um das Becken sind, desto kräftiger sind unsere Hebel. Davon profitieren nicht nur das Becken selbst, sondern auch der restliche Körper und somit letztlich auch die sportlichen Leistungen.
Diese Tatsache zu der menschlichen Beckenstellung verdeutlicht vor allem die Relevanz des Gluteus maximus. Kommt es zu einer abgeschwächten Funktion und/oder einer verringerten Hüftstreckung leidet automatisch unser gesamter Körper darunter, da unsere ökonomische Gangfähigkeit funktionell geschwächt wird. Der moderne Mensch zeigt dadurch zunehmend die Tendenz, sich funktionell zurückzuentwickeln. Aus struktureller Sicht ist es zudem sehr spannend, dass man an menschlichen Kadavern Fasern des Gluteus maximus findet, die weit über dem Sacrum einstrahlen und unmittelbar eine Struktur mit der Sacralfaszie ergeben, die wiederum ein Kontinuum zur Thoracolumbalfaszie bildet. Unterhalb dieser Fasern entspringen gleichzeitig die Fasern der Musculi multifidi im Bereich des Kreuzbeins. Diese strukturelle Sicht verdeutlicht uns, dass beide Muskeln inklusive ihrer Synergisten wichtig für einen entsprechenden lokalen Kraftschluss sind und diese Kraftverteilungsstelle stützen. Ein entsprechendes Training für diese Strukturen zum „Körperkern“ des Menschen ist demnach unerlässlich. Aber wie und was sollte trainiert werden?
Krafttraining für das Becken
Ein gutes Krafttraining sollte unbedingt die genannten Muskelgruppen ansprechen, um lokal starke Fasern zu bilden. Gekräftigte Muskeln und Faszien in diesem Bereich können dann nicht nur Kraftfähigkeiten verbessern, sondern auch Schmerzen lindern. Dies ist vor allem dann zwingend und spätestens notwendig, wenn sich diese Fasern durch Überbelastung ungewollt (pathologisch) verdicken und unsere Muskeln einengen. Das kann beispielweise durch einseitige oder zu hohe Belastungen geschehen. In diesem Falle kommt es durch zu straffe Faszien (pathologisch) zu deutlich erhöhten Spannungen auf dem Muskelgewebe, die letztlich zu einer Art von Kompressionssyndromen führen können. Das können folglich auch häufig Gründe für die Schmerzen im unteren Rücken sein. Zumeist lässt sich dieser Zustand von einem geschulten Therapeuten erfühlen. In jedem Falle aber sollte sich bei leichtem Druck auf das Kreuzbein nicht nur nahezu knöchernhartes Gewebe ertasten lassen, sondern auch mobilweiches Gewebe zu spüren sein.
Spricht man über den „Core“, also den Kern- und Zentralpunkt unseres Körpers, gibt es die häufige Meinung, dass dies metaphorisch ein umschlossener Kreis unserer Wirbelsäule ist. Eine gängige Annahme hierbei ist zudem, dass Bewegungen dann von unseren Extremitäten eingeleitet werden. Ein daraus folgender Irrtum ist, dass der „stabile Rumpf“ dabei eine eher statische Rolle einnimmt. Doch im Grunde ist es tatsächlich das Becken, das diese gesamten Hebel kontrolliert. Zudem werden effiziente Bewegungen aus der Körpermitte initiiert. Bei dieser Aufgabe sind die Muskeln und Faszien rund um das Becken alles andere als statisch. Das bedeutet letzlich, dass der „Core“ viel mehr ist, als nur der Transversus abdominis. Tatsächlich stabilisieren viele Muskeln und Faszien das Becken gleichzeitig. Die gesamte Bauch- und Gesäßmuskulatur steht durch lockeres und straffes Bindegewebe in Verbindung mit der Rücken- und Beckenbodenmuskulatur.
Eine Vielzahl von Forschungsarbeiten sind alleine beruhend auf der Aktivität des Transversus abdominis durchgeführt worden. Hierbei wurde sehr häufig die Verbindung seiner Ansteuerung zum Rückenschmerz untersucht. Die Anpassungen an ein Krafttraining hängen allerdings in erster Linie von der Höhe des gewählten Wiederstandes ab und nicht ausschließlich von einer höchstmöglichen Innervation. Konkret bedeutet das, dass du eine hohe Ansteuerung des zentralen Nervensystems in diversen Muskeln haben wirst, wenn du auf einer Slackline stehst, allerdings dadurch nicht langfristig an Muskelmasse gewinnst. Insofern ist das Krafttraining durch beschleunigte Lasten geprägt und nicht zwingend durch Übungen mit langer Haltedauer oder instabilem Untergrund, die der angesteuerten Muskulatur im Grunde häufig eine fehlerhafte Aktvierung vermitteln.
Manche Muskeln können dadurch höher innerviert werden, als sie eigentlich für den Alltag oder die Sportart müssten. Oftmals wird in Artikeln auch suggeriert, dass das Training auf instabilen Flächen oder Vibrationsplatten die tiefer liegende Muskulatur, wie beispielsweise den Transverus abdominis oder die Musculi multifidi, besser trainiert. Hieran bestehen allerdings konkrete Zweifel, da bislang nur sehr wenig und umstrittene Publikationen hierzu vorhanden sind. Es gibt dahingehend keine Gegenüberstellung, die eine entsprechend geringere Aktivität bei anderen Übungen zeigt. Eine selektive Ansteuerung dieser Muskeln muss daher hinterfragt werden. Dies soll allerdings nicht heißen, dass es verkehrt ist, dem Menschen gewisse Körperareale wieder vollumfänglich bewusst zu machen. Die Körperwahrnehmung ist ein wichtiger Faktor in Alltag und Sport. Ob dies dann allerdings mit einer isolierten Ansteuerung möglich ist, bleibt offen.
Die oben abgebildeten Bilder zeigen eine zielgerichtete Übung für das Becken: technisch korrekt ausgeführte „Hip Thrusts“
Neben der Ansteuerung drängt sich zudem auch die Frage auf, ob es tatsächlich durch Übungen auf instabilen Flächen zum wesentlichen Ziel kommt: der Hypertrophie. Denn soll es langfristig durch ein Krafttraining zu einer gesteigerten Muskelmasse oder auch erhöhten funktionellen Ansteuerung kommen, braucht es eine langfristige und kontinuierliche Steigerung der Lasten bzw. des Widerstandes. Dies ist durch instabile Untergründe nicht in gleichem Maße umsetzbar, weshalb solche Übungen womöglich eher zur reaktiven Koordinationsverbesserung genutzt werden sollten. Hier konnten beispielsweise positive Effekte nach Sprunggelenksverletzungen erzielt werden. Für das Ziel einer Hypertrophie sind allerdings Kraftübungen, beispielsweise Kniebeugen, auf stabilem Untergrund jenen auf instabilem Untergrund vorzuziehen. Sie kräftigen auch die tief liegende Muskulatur entsprechend. Wichtige Inhalte zu einem entsprechenden Krafttraining für Muskeln und Faszien und deren entsprechender Trainingssteuerung findet ihr in meinem Buch „Faszien-Krafttraining„.
Letztlich ist das Becken ein hochkomplexer Kern unseres Körpers. Bereits wenige Millimeter Verschiebung innerhalb der Darmbeine und des Kreuzbeins können erhebliche Schmerzen verursachen, die für den Therapeuten nicht immer leicht zu lösen sind. Sicherlich ist auch nicht immer das, was Therapeuten meinen nach außen zu spüren, genau das, was innerhalb dieses komplexen Zentrums abläuft. Die langfristige Hilfe für den Kunden kommt durch gutes und zielgerichtetes Krafttraining, das die zu trainierenden aufgezählten Strukturen anspricht und aus Sicht der funktionellen Anatomie fortlaufend stärkt. Die therapeutische Hand ist dann der perfekte Partner, um die Struktur auf dem Weg der funktionellen Anpassung zu begleiten.
Euer Berengar Buschmann