Im Athletiktraining der Spielsportarten ist das Rückwärtslaufen deshalb im Idealfall ein fester Bestandteil. In manchen Fällen macht es jedoch auch aus therapeutischer Sicht Sinn, das Rückwärtsgehen bewusst zu üben und zu trainieren. Im Folgenden sollen die verschiedenen therapeutischen Nutzen des Rückwärtsgehens erläutert werden.
Funktionelle Anatomie und Biomechanik beim Rückwärtsgehen
Der Bewegungsablauf beim Rückwärtsgehen ist bis auf wenige kleine Unterschiede die Umkehrung des Vorwärtsgehens. In der Schwungbeinphase wird das Bein aktiv über die Hüftextensoren nach hinten geführt, wo der Fuß mit dem Vorfuß zuerst aufgesetzt und langsam von der Dorsalextension bis in die Plantarflexion abgerollt wird. In der Standbeinphase wird der Körper hauptsächlich durch eine aktive Kniestreckbewegung rückwärts beschleunigt. Die Hüftflexoren arbeiten beim Rückwärtsgehen exkonzentisch – genau wie es die Hamstrings beim Vorwärtsgehen tun – d.h. sie werden in der Schwungbeinphase exzentrisch gelängt (sog. „Load“), um danach in der Standbeinphase konzentisch zu arbeiten (sog. „Explode“). Beim Rückwärtsgehen kommt dem Sprunggelenk die Hauptrolle bei der Entwicklung des Vortriebs und beim Abfedern der Stoßbelastungen zu. (vgl. Lee et al., 2013).
Einsatzbereiche und Nutzen
Ein weit verbreiteter Einsatzbereich für Rückwärtsgehen stellt die Therapie von Patienten mit Streckdefizit im Kniegelenk dar, wie es beispielsweise häufig bei Patienten nach VKB-Operation der Fall ist. Hierbei wird einerseits das Kniegelenk des Standbeins aktiv beim Abstoßen vor dem Körper durch den Quadrizeps und andererseits passiv das Kniegelenk des Schwungbeins durch die Bewegung des Körperschwerpunkts relativ zum Fuß nach hinten (in der Phase des ersten Bodenkontakts) gestreckt. Hierbei wird der Quadrizeps aktiviert und gekräftigt, ohne die resultierende Gelenkskraft im Patellofemoralgelenk zu erhöhen (vgl. Lee et al., 2013). Diese Bewegungseigenschaft bietet somit auch gute Trainingsmöglichkeiten bei Patienten mit Patellofemoralem Schmerzsyndrom.
Außerdem stellt das Rückwärtsgehen eine optimale Bewegung dar, um die Hüftextensoren (v.a. m. gluteus maximus) zu aktivieren und die Hüftflexoren (v.a. m. iliopsoas und m. rectus femoris) dynamisch, exzentrisch zu längen. Für Sportler oder Patienten mit „verkürzten“ bzw. überlasteten Hüftflexoren (z.B. Fußballspieler, Personen mit sitzender Tätigkeit, usw.) können über das Rückwärtsgehen die optimalen myofaszialen Reize gesetzt werden.
Beim Rückwärtsgehen ist die Stoßbelastung auf das Kniegelenk etwas geringer als beim Vorwärtsgehen, da der Fuß zuerst mit dem Vorfuß aufgesetzt wird und dann langsam bis in Plantarflexion abgerollt wird. Das langsame Absenken der Ferse kommt durch eine exzentrische Längung des Gastrocnemius zustande. Dies ist unter anderem der Grund, warum durch Rückwärtsgehen die Mobilität im Sprunggelenk verbessert werden kann. Die Mobilitätsverbesserung im Sprunggelenk durch Rückwärtsgehen kommt außerdem dadurch zustande, dass das Sprunggelenk rückwärts eine größere Dorsalflexion macht als vorwärts (vgl. Lee et al., 2013). Der Fuß ist beim Rückwärtsgehen quasi gezwungen eine Abrollbewegung durchzuführen. Dies kann man sich zu Nutze machen für Patienten, die diese Bewegung verlernt haben. Durch das wiederholte Abrollen – auch wenn es beim Rückwärtsgehen in umgekehrter Richtung erfolgt – kann der Patient die Bewegung (wieder-) erlernen und nach einigem Trainieren auch beim Vorwärtsgehen wieder durchführen.
Des Weiteren eignet sich das Trainieren des Rückwärtsgehens sehr gut zur Bildung eines symmetrischen Gangbildes. Für Patienten, die aufgrund von Verletzungen oder neurologischen Ereignissen (z.B. Schlaganfall) ein unrhythmisches Gangbild haben, ist es sehr schwierig dieses „Hinke-Muster“ abzutrainieren, da es sich beim Vorwärtsgehen um einen automatisierten Bewegungsablauf handelt. Beim Rückwärtsgehen müssen die Patienten bewusst über den Bewegungsablauf nachdenken und können ihn so besser symmetrisch gestalten. Beim anschließenden Vorwärtsgehen kann dieses symmetrische Gangbild meist sehr gut beibehalten werden. In diesem Fall stellt das Rückwärtstraining quasi eine Art Reset-Funktion für das Gangbild dar. Außerdem konnte belegt werden, dass die Effizienz der Rekrutierung von motorischen Einheiten durch das Neuerlernen des Rückwärtsgehens gesteigert werden kann (vgl. Childs et al., 2002).
Nicht zuletzt zeigt die Erfahrung in der Praxis, dass das Rückwärtsgehen auf dem Laufband für viele Patienten mit LWS-Syndrom als sehr angenehm empfunden wird. Durch die im Vergleich zum Vorwärtsgehen geringere Stoßbelastung und die durch das Gehen erzielten leichten Rotationsbewegungen im LWS-Bereich scheinen diesen parallel zu aktivieren und zu entlasten.
Trainingsumfang
Im Idealfall wird das Rückwärtstraining auf einem Laufband mit Rückwärtsfunktion durchgeführt, sodass sich der Patient in der Eingewöhnungsphase noch festhalten kann. Wenn sich der Patienten das Training auf dem Laufband nicht zutraut, kann auch auf dem Boden geübt und trainiert werden, wobei man hierfür im Idealfall eine größere, freie Fläche zur Verfügung hat. Das Training kann durch das Einstellen einer Steigung (bis ca. 5 %) intensiviert werden. Der Trainingsumfang ist abhängig vom Trainingsziel, wobei man sich bewusst machen muss, dass strukturelle Veränderungen nur durch ausreichend starke Trainingsreize erreicht werden können. In der Praxis haben sich bei uns Intervalle von fünf bis sieben Minuten bewährt, die je nach Niveau und Ziel mehrmals wiederholt werden. Außerdem sollte das Rückwärtslaufen fester Bestandteil jedes Aufwärm- und Athletikprogramms jedes Spielsportlers sein.
Zusammenfassung
Das Rückwärtsgehen bietet zahlreiche Möglichkeiten, um gezielte neuronale und myofasziale Trainingsreize bei unterschiedlichen Symptomatiken zu setzen. Es eignet sich hervorragend zur Aktivierung der Hüftextensoren, dynamischen Dehnung der Hüftflexoren, Verbesserung der Streckfähigkeit im Kniegelenk und Verbesserung der Mobilität im Sprunggelenk. Außerdem kann es LWS-Schmerz-Symptome lindern und ein flüssiges, symmetrisches Gangbild fördern.
Eure Maria Härter und euer Jochen Gehring
Literatur:
Childs, J.D., Gantt, C., Higgins, D., Papazis, J.A., Franklin, R., Metzler, T. & Underwood, F.B. (2002). The effect of repeated bouts of backward walking on physiological efficiency. Journal of Strength & Conditioning Research 16(3):451-455.
Lee, M., Kim, J., Son; J. & Kim, Y. (2013). Kinematic and kinetic analysis during forward and backward walking. Gait Posture, http://dx.doi.org/10.1016/j.gaitpost.2013.02.014
sehr interessantes thema, vielen dank dafür
Ich trainiere oft das rückwärts Gehen mit meinen Patienten, einfach als koordinative Aufgabe. Unter den oben genannten Gesichtspunkten, bekommt es eine völlig neue Gewichtung, danke.
Vielen Dank, sehr gut!!!
Interessanter Artikel, allerdings herrscht Uneinigkeit über Plantarflexion, Dorsalextension.
Eine exzentrische Verlängerung des Gastrocnemius ist keine Plantarflexionsbewegung.
Und ich wage zu bezweifeln, dass bei verkürzten Hüftflexoren ein Rückwärstgang ohne verstärkte Lendenlordose möglich und somit wieder fragwürdig einsetzbar ist.
Hallo Marco, vielen Dank für dein kritisches Nachfragen.
Zu deinem ersten Punkt: wie ich im Artikel geschrieben habe, kommt der Fuß mit dem Vorfuß zuerst auf (meistens in etwa in Neutralnull-Stellung; bei machen Patienten in einer leichten Plantarflexions- oder einer leichten Dorsalextensionsstellung). Dann wird die Ferse abgesenkt, was nur über eine exzentrische Längung des Gastrocnemius möglich erst. Der Fuß wird dann weiter abgerollt, bis er vor dem Körper in Plantarflexionsstellung den Boden verlässt. Die Exzentrik im Gastrocnemius bezieht sich also nicht auf das Bewegungsende in Plantarflexion sondern auf das Absenken der Ferse nach dem initialen Bodenkontakt.
Zu deinem zweiten Punkt: Personen mit verkürzten Hüftflexoren neigen unbestritten zu einer verstärkten LWS-Lordose. Mir leuchtet jedoch nicht ganz ein, weshalb diese beim Rückwärtsgehen noch verstärkt werden sollte. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass diese Patienten ohnehin mit einer eher kleinen Schrittlänge starten (je nach Patient ca. Neutralnull-Stellung), weil die Spannung in den Hüftflexoren sie limitiert. Die gleiche Position haben sie auch beim Vorwärtsgehen beim Fußabdruck, was dann demnach auch zu einer verstärkten Lendenlordose führen müsste.