Es ist fast 20 Jahre her, seit Jeff Oliver, Kraft- und Konditionstrainer am College of Holy Cross, mir die erste Anregung für diesen Artikel gab. Als Jeff mein Assistent an der Boston University war, nahmen wir an Vern Gambettas Wochenend-Kurs „Building the Complete Athlete“ teil. Das muss um 1990 gewesen sein. Wir lernten damals das Konzept des einbeinigen Trainings schätzen und setzten vieles, was wir bei ihm gelernt hatten, mit unseren Athleten in die Praxis um. Unsere Programme galten in den 1990ern als progressiv und sind möglicherweise immer noch fortschrittlicher als viele Ansätze, auf die der eine oder andere Trainer auch heute nach wie vor zurückgreift.
Ich kann mich daran erinnern, wie Jeff seinerzeit auf die Gewichtheber-Plattform sprang und einige einbeinige Hang Cleans machte. Sein Argument lautete: „Wenn einbeinige Squats so sinnvoll sind, warum dann nicht auch einbeinige Cleans?“ Ich hielt ihn damals für übergeschnappt.
In den nächsten fünfzehn Jahren fuhren wir mit einer Mischung aus unilateralen und bilateralen Kraftübungen fort und bewegten uns mit der Zeit zunehmend in Richtung Unilateralität. Um 2008 traf ich schließlich die Entscheidung, alle bilateralen Squats zu streichen. Wir machen jetzt nur noch unilaterale, kniedominante Übungen. In diesem Zusammenhang wurde mir das Konzept des bilateralen Defizits bewusst.
Einfach ausgedrückt ist das bilaterale Defizit der Unterschied zwischen der Summe der Aktionen, die man mit seinen linken und rechten Gliedmaßen ausführt, und dem Gewicht, das man bilateral heben kann.
Der einbeinige Deadlift, den Max Shank meisterlich beherrscht, ist die perfekte Veranschaulichung des bilateralen Defizits – Max macht 5 einbeinige Deadlifts mit einer 142 kg schweren Hantel.
Dieses Gewicht entspricht einer Maximallast (1 RM) von etwa 166 kg. Max’ Bestleistung im (bilateralen) Deadlift liegt bei knapp unter 272 kg. Ich glaube, zum Zeitpunkt des Videos hat er einmalig einen konventionellen Deadlift mit einer 264 kg schweren Hantel geschafft. Sein bilateraler Romanian Deadlift muss wohl etwas weniger betragen haben. Wenn wir der Einfachheit halber annehmen, dass Max auf beiden Seiten symmetrisch ist, käme er mit seinen beiden einbeinigen Deadlifts zusammen auf insgesamt 284 kg. Das ist das bilaterale Defizit. In diesem Fall beträgt es 20 kg (284-264 kg). Natürlich ist diese Rechnung theoretischer Natur, aber ich denke, dass der dahinterstehende Gedanke klar wird.
Wie können wir uns dieses Phänomen erklären? Die Wissenschaft führt es auf die Funktionsweise der beiden Gehirnhälften zurück. Der Körper zieht es vor, eine Seite auf einmal zu bewegen. Wenn wir Anlauf nehmen, stoßen wir uns immer mit einem Bein höher ab als mit dem anderen. Bei einem Vertikalsprung stoßen wir uns mit dem linken Bein ab und strecken den rechten Arm. Die Gehirn- und Körperhälften sind diagonal verknüpft. Forscher haben die Theorie aufgestellt, dass bilaterale Kontraktionen die Hemisphären „verwirren“ und dadurch zu einer schwächeren Leistung führen.
Als wir dieses Phänomen genauer untersuchten, fielen uns überall Beweise dafür auf. Die Summe aus zwei Vertikalsprüngen, die man mit dem linken und dem rechten Bein ausführt, ist in der Regel höher als ein bilateraler Sprung. Die Summe aus linker bzw. rechter Griffkraft ist in der Regel höher als bilaterale Griffkraft. Die Beweise lagen jahrelang direkt vor uns. Als wir mit Squats in Schrittstellung (mit angehobenem hinteren Fuß) herumexperimentierten, stellten wir fest, dass die Athleten verblüffende bilaterale Defizite aufwiesen, als sie sich mit dieser Übung vertraut machten. Die Unterschiede zwischen linker und rechter Seite waren gravierend. Meinen Athleten an der Boston University schafften es aber schließlich, sich so zu verbessern, dass sie bei dieser Squat-Variante etwa dasselbe Hantelgewicht stemmen konnten wie beim bilateralen Front Squat!
Warum hat es so lange gedauert, bis sich einbeinig ausgeführte Langhantelübungen im Kraftraum etablieren konnten? Mir fallen mehrere Gründe dafür ein. Ihr seltsames Aussehen zum Beispiel. Die möglicherweise negativen Reaktionen vieler Sportler auf die bizarr anmutenden, fremdartigen Übungen. Meine Vorbehalte gegenüber dieser unkonventionellen Form des Krafttrainings glich der skeptischen Haltung vieler Menschen, die zum ersten Mal mit diesem Ansatz in Kontakt kommen. Ich gebe es nicht gerne zu, aber letztlich verhielt ich mich nicht anders als jene Personen, die ich zu verändern suchte.
Was die Veränderung schließlich endgültig herbeiführte war eine Live-Vorführung des Konzepts. Im Sommer 2010 besuchte Patrice Bergeron von den Boston Bruins unseren Kraftraum an der BU. Ich sah erstaunt zu, wie er mühelos 5 einbeinige Hang Cleans mit einem Hantelgewicht von 60 kg schaffte und dann weitere 5 Wiederholungen mit 80 kg. Ich fragte ihn, wer ihm das beigebracht hatte, und er antwortete, dass sein Kraft- und Konditionstrainer in Quebec dafür verantwortlich war. Patrices Demonstration führte mir vor Augen, dass das bilaterale Defizit, das ich im Maximalkrafttraining festgestellt hatte, auch im Schnellkrafttraining vorhanden ist. Ich kenne Patrices 1 RM Hang Clean zwar nicht, bin mir aber ziemlich sicher, dass es damals unter 135 kg lag. Seine 5 einbeinigen Cleans mit einer 80 kg schweren Hantel führten uns das bilaterale Defizit ein weiteres Mal vor Augen.
Ich hatte ein kleines Problem. Ich brauchte eine Gruppe guter Kraftsportler, mit denen ich meine Theorie ausprobieren konnte. Zeitsprung ins Jahr 2013. Das Eishockey-Team der US-Damen bot sich als Testgruppe an, und gleich am ersten Tag wurde ich nicht enttäuscht. Ich bat die Spielerinnen darum, 5 Wiederholungen mit der Hälfte ihres normalen Hantelgewichts zu machen, was für sie kein Problem war. Bei den Übungen handelte es sich um den einbeinigen Hang Clean, den einbeinigen Hang Snatch und den einbeinigen/einarmigen Kurzhantel-Snatch. In allen Fällen war das bilaterale Defizit offensichtlich. Die Sportlerinnen, die mit Mühe 5 bilaterale Wiederholungen mit 60 kg schafften, führten problemlos 5 einbeinige Cleans mit jeweils 32 kg aus. Die Snatch-Ergebnisse waren noch eindeutiger. Molly Schaus schaffte spielend 5 einbeinige Snatches mit einem Hantelgewicht von 25 kg, was einem 1 RM von etwa 50 kg entspricht.
Mein Freund Mark Verstegen verwendet gerne die Formulierung „logischer Gedankenzug“. Sie sollten auf diesen Zug aufspringen. Wir haben einbeiniges Krafttraining in unsere Programme aufgenommen und gute Erfahrungen damit gemacht. Wir beobachten seit Jahren, wie vorteilhaft es ist, beidbeinige Sprünge sowie einbeinige Sprünge und Hopserläufe in unsere plyometrischen Programme einzubeziehen. Warum hat es so lange gedauert, denselben Ansatz auf das olympische Gewichtheben zu übertragen? Ich kann dazu nur sagen, dass ich vor fast zwanzig Jahren besser gleich auf Jeff Oliver gehört hätte.
„Wenn der Schüler bereit ist, wird der Lehrer erscheinen.“ Danke Patrice, der Lehrer ist endlich bereit.
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Euer Mike Boyle
Ich kann, ich möcht, ich wollte….
Zu wenig fachbereich