Allzu oft werden heutzutage im Bezug auf Verletzungen vorschnell gravierende Entscheidungen getroffen, die das Leben für immer verändern können. Arthrose, Impingements und andere Diagnosen klingen häufig so radikal, dass die Betroffenen meist alle Infos aufnehmen, die von „Experten“ an sie rangetragen werden. Doch helfen Tabletten, OP’s und die modere Medizin im Allgemeinen diese Welle an degenerativen Veränderungen zu bekämpfen oder gibt es Alternativen, dieser Epidemie entgegen zu wirken? Kann ich Schmerzen selbst behandeln? Gibt es Möglichkeiten meinen Körper auf alle Gegebenheiten des Lebens vorzubereiten, so dass ich mit den genannten Problemen besser umgehen kann bzw. diese gar nicht erst auftauchen?
Die Theorie
Der komplizierte Körper
Unser Körper-Design kann auf extrem komplizierte Weise dargestellt werden. Als Säugling besitzen wir noch bis zu 350 Knochen und Knorpel, von denen einige während der körperlichen Entwicklung zusammenwachsen, so dass wir schließlich aus insgesamt 206 Knochen bestehen, davon alleine 22 Schädelknochen. Das menschliche Skelett macht dabei rund 12% unseres Körpergewichtes aus (schwere Knochen, jaja).
Desweiteren besitzt jeder gesunde Mensch ca. 650 Muskeln, die meisten davon in Gesicht und an den Händen. Die Muskulatur macht je nach Geschlecht 30 (Frauen) bis 40% (Männer) des Gesamtköpergewichtes aus.
Nehmen wir nun noch unsere Gelenke hinzu. Zählen wir nur unsere „echten Gelenke“, welche aus zwei Gelenkpartnern, einem knorpeligen Gelenkspalt und einer Gelenkkapsel bestehen, so sind es etwa 100 echte Gelenke in unserem Körper. Nimmt man allerdings alle gelenkigen Verbindungen, also auch Strukturen, die durch Sehnen, Bänder und Knorpelstrukturen miteinander verbunden sind und Bewegung zulassen in die Summe mit auf, so sind es über 350 gelenkige Verbindungen im menschlichen Körper. Tausende Kilometer Nervenbahnen, das Fasziensystem und jede Menge weitere Strukturen machen unser komplexes Modell komplett.
Einfach halten
Wir können allerdings auch ein sehr vereinfachtes Körper-Modell wählen, welches nicht mit Details verwirrt und dennoch die Funktionen unserer großen Gelenke (Sprunggelenke, Knie, Hüfte und Schultern) verdeutlicht.
Anhand dieses Modells fallen einige Punkte auf:
– Ziehen wir vertikale und horizontale Linien durch die Gelenkspunkte, so entstehen rechte Winkel, welche die Basis für dieses Model darstellen
– Alle großen Gelenke liegen parallel zueinander
– Die rechten Winkel sorgen für hohe Stabilität und Beständigkeit im System.
Mit diesem Modell können wir Rückschlüsse auf die Funktionalität des Körpers schließen. Eine verminderte Beweglichkeit in einem der Gelenke kann sich so auf das komplette System auswirken. So kann sich zum Beispiel eine eingeschränkte Beweglichkeit der Sprunggelenke auf die Knie, die Hüfte bis hoch zu den Schultern auswirken. Befindet sich ein Gelenk außerhalb des Lots, so wirkt es sich zwangs-läufig über kurz oder lang auf andere Gelenke und damit auf die komplette Funktionalität des Körpers aus. Liegen unsere Gelenksbahnen nicht mehr rechtwinklig zueinander, so entstehen Probleme. Bewegungseinschränkungen bis hin zu strukturellen Schädigungen sind die Folge.
Wir sind bilaterale Wesen
Das vorgestellte Körper-Modell zeigt, dass wir bilateral funktionieren. Wir besitzen zwei Hände, Arme, Schultergelenke, Kniegelenke und so weiter. Aus diesem Grund sollten bei Aussagen wie „Mein rechtes Bein ist 1cm länger als mein linkes Bein“ die Alarmglocken läuten. Denn pathologisch ist dies tatsächlich nur bei weniger als 1% der Menschen der Fall. Viel wahrscheinlicher ist, dass die Zugbahnen aus dem Lot geraten sind. Dies kann zum Beispiel durch eine Problematik in der Hüfte zurückzuführen sein. Vielleicht verlagert die Person das Gewicht unbewusst mehr auf die linke als auf die rechte Seite. Oder das linke Sprunggelenk ist eingeschränkt und sorgt so für eine inkorrekte Kraftübertragung beim Gehen, was sich wiederum auf die Hüfte auswirken kann. Wir sollten rausfinden woher diese Problematik kommt.
Bewegung ist Leben
Unser gesamter Körper ist für Bewegung ausgelegt. Muskulatur, welche nicht regelmäßig aktiviert wird, atrophiert. Muskulatur wird bei Nichtbenutzung also nicht erhalten, sondern abgebaut.
Das Problem: Werden atrophierte Muskeln schließlich doch benötigt (zum Beispiel für einen spontanen Sprint zum Bus), so „leiht“ sich der Körper einen anderen Muskel um die Aufgabe verrichten zu können. Durch diese Funktion werden Muskeln Aufgaben gestellt, für die sich nicht geeignet sind. Dies kann zu veränderten Kraftübertragungen führen.
Die Folge: Überlastung und Verletzungen.
Wo die moderne Medizin versagt
Lange Zeit in der Geschichte der Menschheit mussten sich Arzt und Patient auf die äußeren körperlichen Anzeichen von Verletzungen konzentrieren. Beobachtungen wie ein schlecht ausgerichtetes Knie, eine rotierte Hüfte oder eine hochgezogene Schulter gaben Auskunft darüber, dass etwas nicht im Lot ist. Heutzutage wird schnell geröntgt, Knorpel überprüft und andere Diagnosen gestellt, anstatt zu überprüfen woher die strukturellen Schäden überhaupt kommen. Größtenteils sind es muskuläre Probleme, die zu dauerhaften strukturellen Schäden führen. Das größte Problem heutzutage ist: Es werden Symptome behandelt, nicht Ursachen. Schmerzen werden gerne mit Tabletten „mundtot“ gemacht, Bandagen und Einlagen verschrieben um den Körper wieder in die richtige Position zu zwingen bzw. die Gelenke zu entlasten und, desweiteren, ganze Gelenke im extremsten Fall durch künstliche Gelenke ersetzt.
Die soll natürlich nicht heißen, dass bildgebende Verfahren Unnütz oder gefährlich sind. Natürlich macht es Sinn zu überprüfen ob struktureller Schaden entstanden ist. Allerdings sollten wir uns immer die Frage stellen: Woher kommt dieser Schaden? Und macht es Sinn die verletzte Struktur ruhig zu stellen oder sie mit Bewegung zu beanspruchen?
Ursachen- nicht Problembehandlung
Unser Ziel sollte sein die Ursache für das Problem zu behandeln, nicht das Problem selbst. Im folgenden pratkischen Teil arbeiten wir an der Position der Sprunggelenke, richten unsere Hüfte neu aus und schaffen damit optimale Verhältnisse für unsere Knie. Zudem bringen wir die Zuglinien der Schultern und der Hüfte in Einklang. Wir arbeiten mit einem ganzheitlichen Modell: Der sogenannten „Egoscue Methode“.
Die Praxis
Das folgende Video führt durch die einzelnen Übungen. Wir beginnen mit den Sprunggelenken, der Basis für eine gute Haltung und hohe Performance. Schritt für Schritt arbeiten wir uns dann bis zu den Schultern. Wir arbeiten konzentriert und mit kontrollierten Bewegungen. Im besten Fall führen wir die Übungen morgens nach dem Aufstehen aus, so dass wir für den Tag optimal vorbereitet sind. Da wir hier größtenteils statisch arbeiten, sollten wir darauf verzichten die Übungen direkt vor dem Training auszuführen. Viele der Übungen aktivieren zudem den Parasympathikus und wirken entspannend. Dies wirkt für die meisten Sportarten eher kontraproduktiv. Nach dem Training können die Übungen helfen die Regeneration einzuleiten und den Körper zu entspannen.
Übersicht
Die Sprunggelenke
Foot Circles (30x) & Point Flexes (20x)
Diese Übung stellt die Beweglichkeit der Sprunggelenke wieder her und stärkt die Muskeln des Fußes, welche für die Extension und Flexion verantwortlich sind.
Gravity Drop (3min)
Diese Übung stellt die Verbindung von den Füßen bis hin zu den Schultern wieder her und sorgt für die Ausrichtung der Zugbahnen.
Die Knie
Standing Gluteal Contractions (3 sets of 20 reps, each)
Diese Übung dient der Reaktivierung der Gesäßmuskulatur.
Sitting Floor (5min)
Diese Übung stellt, wie der Gravity Drop, die Verbindung zwischen Schultern, Hüfte, Knie und Sprunggelenken wieder her.
Die Hüfte
Static Back Press (10min)
Wir möchten mit dieser Übung die Hüfte wieder auf eine Parallellinie bringen.
Supine Groin Stretch (10min per side)
Wir arbeiten hier an der Flexion und Extension der Hüftmuskulatur und involvieren Ab- und Adduktoren. Eine Stütze im Nacken kann die Position etwas angenehmer machen.
Die Schultern
Pullovers (15x)
Diese Übung verbessert das „Ball&Socket“ – Zusammenspiel der Schultern.
Floor Block I-Y-T (one minute each)
Durch die I-Y-T-Positionen bringen wir die Schultern Schritt für Schritt durch ihren Full-Range-Of-Motion.
Zusammenfassung
Das hier vorgestellte Modell zeigt die Zusammenhänge zwischen unseren großen Gelenken und verdeutlicht die Wichtigkeit der bilateralen Ausrichtung. Mithilfe der vorgestellten Übungsreihe lassen sich eine Vielzahl an Einschränkungen beheben, welche durch unser Training und Alltag entstehen können. Wir möchten dabei vermehrt die Ursache der Problematik behandeln, nicht das Problem selbst. Sofern wir die Ursache des Problems erkennen und diese beseitigen können, so ist es uns möglich langfristig unsere Performance in Training und Alltag zu erhalten und weiter auszubauen. Wir bleiben gesund und schmerzfrei.
Euer Benjamin Heizmann
Hallo Benjamin! Prima, endlich mal ein Artikel über das Alignment, mit dem wir beim Pilatestraining ja auch sehr bewusst arbeiten. Überrascht hat mich allerdings die „hüftbreite“ Fußposition. Hüftbreit bedeutet ja hüftgelenksbreit und wie man in dem vereinfacht dargestelltem Modell auch sieht, liegen die Hüftgelenke ziemlich mittig in den Leisten. Fälle ich von dort das Lot, geht dieses mittig durch die Kniescheibe und landet beim 2. Zeh. Bedeutet im Klartext: Ein ca. fußbreiter Abstand zwischen den Füßen. Ist zwar nicht so komfortabel, aber physiologisch gesehen richtig und zeigt das Modell ja auch. Hervorragend ausprobieren lässt sich das übrigens im Hängen an der Klimmzugstange, dann fallen die Bein ganz natürlich in die richtige Position. Jeder andere Stand ist mit muskulärer Kompensation verbunden. Ich freue mich auf eine angeregte Diskussion, herzliche Grüße, Christiane Figura, Entwicklerin des NIM© (Naturall Intelligent Movement) Trainings