Ob im Kontext sportartspezifischer Fertigkeiten von Spitzensportlern [1], der Optimierung von Sicherheit und Leistung bei Alltagsathleten [2], oder der Sturzprophylaxe in der Gerontologie. Schon in den 90er Jahren wurde das Gleichgewichtstraining zu einem größeren Thema der Fitnesswelt, als Geräte wie Bosu-Bälle, Pads, Kissen und weitere Varianten von instabilen Untergründen, ihren Weg in die Fitnessstudios fanden. Vor allem aber durch die jüngere Entwicklung des funktionellen Trainings wird das Thema erneut in den Vordergrund gerückt und differenzierter betrachtet.
Andererseits wird über das Gleichgewichtstraining noch nicht so tiefgründig gesprochen wie über das Kraft-, Ausdauer- oder Mobilitätstraining und vielen Menschen wird die Wichtigkeit des Gleichgewichtssystems erst dann klar, wenn dieses in seiner Funktion eingeschränkt oder sogar beschädigt wurde (z.B. Seekrankheit oder Morbus Menière).
Diese Tatsache kann zum einen daran liegen, dass viele Sportler, Trainer und Therapeuten bis heute noch Balance als schwer greifbare Fähigkeit erfahren und nicht genau wissen, wie sie diese effizient trainieren können. Vor allem durch die Tatsache, dass unsere Gleichgewichtsfähigkeit informationsabhängig und hauptsächlich auf unterbewusste Prozesse aufgebaut ist, wird der direkte Zugang zur Trainierbarkeit erschwert. Zum anderen bleibt zumeist die Notwendigkeit eines Gleichgewichtstraining unerkannt, da sich der Zusammenhang zwischen der sportlichen Leistungsfähigkeit und einem guten ausgeprägten Gleichgewichtssinn in den weitverbreiteten Sportarten wie Laufen, Schwimmen, Hand- oder Fußball noch etabliert werden muss. Was es zu zeigen gilt: Gleichgewichtstraining ist vielmehr als der sichere Stand auf einem Bein oder die Meisterung eines Schwebebalkens oder der Slack-line. Zudem ist Balance wie Kraft, Ausdauer und Beweglichkeit im höchsten Maße trainierbar und für sportartspezifische Leistungen fundamental.
Zunächst ist es hilfreich den Aufbau und die Funktionsweise unseres Gleichgewichtssystems genauer aufzuzeigen.
Um unseren Körper im Gleichgewicht zu halten sind die folgenden drei Systeme involviert:
– das vestibuläre System (Sinnesorgan: das innere Ohr).
– das visuelle System (Sinnesorgan: die Augen).
– das propriozeptive System (oder auch Tiefensensibilität genannt: bestehend aus einer Vielzahl von Rezeptoren, die unter anderem mechanische Eingangssignale wie Zug- & Druckstimuli, in Muskeln, Gelenken, Sehnen und auf der Haut aufnehmen).
Alle aufgenommenen Informationen dieser Teilsysteme werden in unserem zentralen Nervensystem (ZNS) zusammengeführt, integriert und verarbeitet. Die daraus kontinuierlich generierten Ausgangssignale leiten relativ komplexe und vielschichtige physiologische Anpassungen ein. Zusammengefasst dienen diese der Kontrolle des Körperschwerpunktes und damit einer effizienten, sicheren Körperhaltung und -Bewegung unter Berücksichtigung der Gravitation [3] (vgl. Abb.1). Hierbei wird die Wichtigkeit für die sportart-spezifische Leistungssteigerung deutlich: Die optimale Ausprägung kann also sicherstellen, dass wir uns mit kleinstmöglicher Vorbereitung in jede Richtung bewegen können – sei es nun die Einleitung eines schnellen Richtungswechsels auf dem Fußballfeld oder die sturzvermeidende Gewichtsverlagerung im Judo.
Abb.1: Das menschliche Gleichgewichtssystem
Es folgt ein kurzer Selbstversuch zur praktischen Verdeutlichung dieser drei Systeme. Suche dir dafür eine freie, gerade Fläche und ziehe im Idealfall deine Schuhe aus:
– Test #1: Stelle dich jeweils für 20sek auf ein Bein und blicke dabei mit neutraler Kopfposition nach vorn. Hiermit testest du hauptsächlich das propriozeptive System – was die Fußsohle, die Gelenke und Muskeln empfangen und welche Anpassungsreaktionen im ZNS generiert werden. Im Normalfall wird das Sprunggelenk einige kleine lokale Bewegungen zeigen, welche dich jedoch relativ stabil stehen lassen sollten.
– Test #2: Wiederhole nun den Aufbau von Test #1 und führe im Einbeinstand für 10sek eine 90° Rotation des Kopfes nach Rechts und dann für 10sek nach Links aus. Der Blick folgt jeweils.
Durch die Kopfbewegung kommt primär das vestibuläre System hinzu. Hier können sich schon einige Entwicklungsfelder in deiner Balancefähigkeit zeigen.
– Test #3: Wiederhole erneut den Aufbau von Test #1. Nun suche dir mehrere Blickpunkte aus, die du langsam mit deinen Augen abfährst, während dein Kopf in neutraler Position stehen bleibt. Probiere zum Beispiel von oben-links diagonal nach unten-rechts zu schauen. Somit schließt du das visuelle System auf einen von vielen möglichen Wegen in die Aufgabe ein (weitere wichtige Aspekte sind scharfe Zielfixierung bei gleichzeitiger Kopfbewegungen, Größe des peripheren Sichtfeldes, Nah-Fern-Fokussierung, Augenkonvergenz etc.).
In diesem Test wird sich mit Sicherheit eine Kombination von Blickrichtung und Standbein gefunden haben, die ein größeres Entwicklungsfeld aufzeigen.
Der Zusammenhang vom visuellen System und unserem Gleichgewicht wird weiterhin deutlich, wenn während des Einbeinstands die Augen geschlossen und somit die Aufgaben gänzlich an die zwei anderen Systeme delegiert werden.
Abb.2: Vision & Balance Training mit Hilfe eines Targets
Die Integrierung dieser vielschichtigen Gleichgewichtsfähigkeit in alltägliche und sportartspezifische Bewegungen verhelfen uns nicht nur auf kognitiv bzw. bewusster Ebene zu mehr Sicherheit, sondern es existieren darüber hinaus eine Vielzahl an unbewussten Prozessen, die im ZNS entweder den Zustand von Sicherheit (bei konfliktfreier Informationsintegrierung) oder von Gefahr (bei Informationskonflikten) signalisieren können. Letzteres kann abhängig vom Ausmaß sogar zu einem globalen Leistungsabfall führen, da das ZNS grundlegend die primäre Aufgabe verfolgt unseren Körper vor Verletzungen zu schützen und u. a. die Inhibition von Muskeln als Schutzmechanismus einsetzen kann [4].
Wie kommen diese Defizite zustande und was können wir dagegen tun?
Vergangene und akute Verletzungen, Krankheiten und das Alter sind zunächst wichtige Faktoren, welche die Funktion unseres Gleichgewichtssystems einschränken bzw. stören können.
In den häufigsten Fällen sind es jedoch die Dinge und Situationen in unserem alltäglichen Leben, wie die zeitintensive und einseitige Nutzung von Computer- und Smartphone-Bildschirmen, die hauptsächlich sitzend vollrichtete Arbeitsbeschäftigung und das weitreichende Ausbleiben von abwechslungsreicher Bewegung in der Freizeit. Es benötigt keiner wissenschaftlichen Erhebung um herauszustellen, welche Kopf- & Augenposition größtenteils über den Tag eingenommen werden und welche teils gänzlich aus dem Repertoire verschwunden sind (Man denke nur an den rudimentären Schulterblick beim Autofahren). Dabei gilt auch für das Gleichgewichtssystem die Maxime aller anderen physiologischen Systeme:
Use it or lose it!
Wie also können wir Balance unter Berücksichtigung aller Teilsysteme trainieren?
Ist die Nutzung von instabilen Untergründen eine gute Idee? Eher nicht.
Denn zum einen wissen wir heute, dass unser Bewegungssystem so komplex und spezifisch arbeitet, dass wir nur in exakt der Bewegung besser werden, die wir auch trainieren (vgl. das SAID Prinzip [5]). Dies bedeutet im Falle der instabilen Untergründe: wir werden nur auf instabilen Untergründen besser und ein direkter Transfer in den Sport oder Alltag bleibt aus. Es gibt hierzu ausreichend Studien, die den Vorteil des Trainings auf stabilen Untergründen herausstellen konnten [6][7]. Mit Sicherheit können Wackelbretter einen interessanten Stimulus für das ZNS erzeugen und die Zentrale der Propriozeption interessiert aufleuchten lassen. Dies ist vor allem in der intensiven Entwicklungsphase des vestibulären Systems im Kindesalter von großer Bedeutung (Indikator ist u.a. die Affinität von Kindern zur Nutzung von Karussellen und Klettergerüsten). Diese Art der “Überstimulierung“ sollte jedoch nicht den Kern eines holistischen Gleichgewichtstrainings für Sportler oder Alltagsathleten ausmachen. Mit dem Wissen über das enge Zusammenspiel aller Teilsysteme werden dadurch nicht nur das visuelle und vestibuläre System im Training vernachlässigt, sondern auch der wichtige Prozess der Integration und der Verarbeitung der Signale der jeweiligen Systeme im ZNS gänzlich ausgeklammert. Darüber hinaus werden weitere wichtige, größtenteils vernachlässigte Prozesse wie die Ausnutzung des Dehnungsverkürzungszyklus und die Schulung des korrekten Timings in der Kontraktion von Synergisten und Agonisten nicht beachtet.
Auch wenn noch keine genauen Studien zur Hierarchie der einzelnen Systeme zueinander vorliegen, ist anzunehmen, dass diese im Fundament im gleichen Maße zu priorisieren sind (mathematisch formuliert geht ‚Neuroexperte‘ Dr. Eric Cobb von folgender Hierarchie aus: 40% visuelles, 30% vestibuläres und 30% propriozeptives System = 100% Balance System) und zudem dass, abhängig von der Situation in die wir uns begeben, ein System kurzzeitig mehr im Vordergrund gerückt werden kann: Befinde ich mich auf unebenem Terrain (z. B. Cross Running) steht das propriozeptive System im Vordergrund. Turnerische Elemente geben vorwiegend dem vestibulären System wichtige Eingangssignale, so dass solche bei z. B. einem Rückwärtssalto priorisiert werden usw.
Ganzheitliche Gleichgewichtsübungen
Ähnlich wie bei den vorrangegangen Tests geht es zunächst um die fundamentalen, primitiven Funktionsfähigkeiten der einzelnen Teilsysteme. Als Aussicht und unter Berücksichtigung des Prinzips der progressiven Belastungssteigerung und der Variation, des SAID Prinzips und der „Safety first“- Maxime, können und sollten die Übungen allmählich dem sportartspezifischen oder alltagsspezifischen Anforderungshorizont angepasst werden [8]:
Auf propriozeptiver Ebene kann die Ausgangslage wie folgt progressiv variiert werden:
- Liegend
- Sitzend
- zweibeiniger Stand
- leichter Ausfallschritt
- Einbeinstand
- Gehen und spezifischere Bewegungen (Squat, Pushups etc.).
- Augen schließen
Auf visueller Ebene kann wie folgt progressiv variiert werden:
- Augenbewegung mit fixierter neutraler Kopfposition (auf-ab/links-rechts/diagonal)
- Augenfixierung auf ein Target und gleichzeitiger Kopfbewegung
- Augenbewegung und Kopfbewegung gleichzeitig und konträr zueinander
Auf vestibulärer Ebene können folgende Bausteine progressiv variiert werden:
- Rotation des Kopfes
- Auf- und Ab-bewegungen des Kopfes
- Vor- und Zurück-schiebung des Kopfes
- Diagonale Bewegungen des Kopfes
Die Kombinierung der Bausteine in jeglicher Variation und der eigenen funktionellen Kapazität entsprechend, fördert die Integration und Verarbeitung der Signale im ZNS.
Darüber hinaus kann man die hier angeführten Erkenntnisse in das bestehende Kraft- oder Ausdauertraining integrieren. Vor allem mit Hilfe eines Partners kann bei jeder Bewegung bewusster auf die Augen- & Kopfposition geachtet werden um Rückschlüsse auf die Signalqualität und -Verarbeitung machen zu können. Bespielhafte Leitfragen dafür sind:
- Kompensiert die Kopfüberstreckung beim Deadlift meine fehlende Augenbewegung?
- Wie nehme ich mein peripheres Sichtfeld beim Laufen wahr?
- Warum halte ich mein Kopf schief, wenn die Übung anstrengender wird?
- Ist meine Balance nach dem Training besser oder schlechter?
Abb.3: Auch im Kraft- & Ausdauertraining sollte die Augen- & Kopfposition mit berücksichtigt werden
Zusammenfassend ist die Balancefähigkeit also eine komplexe Orchestrierung von Nervenimpulsen, die aus einer korrekten Aufnahme und Integrierung von Signaleingängen resultiert. Sie lässt uns in jeder Bewegung sicher und effizient mit der Schwerkraft ‘tanzen‘ und ist beim Trainieren einer Bewegungsfertigkeit immer im Kontext zu den anderen motorischen Fähigkeiten wie Kraft & Ausdauer zu betrachten.
Fazit:
1. Unser Gleichgewichtssystem besteht aus drei Teilsysteme: Das visuelle, das vestibuläre und das propriozeptive System. Für jedes gilt: Use it or lose it!
2. Das Trainingsprinzip des spezifischen Reizes (SAID Prinzip) besagt, dass wir nur exakt in der Bewegung besser werden, die wir auch trainieren. Demnach werden wir bei Nutzung von instabilen Untergründen nur besser auf instabilen Untergründen und der direkte Transfer in den Sport oder Alltag bleibt aus.
3. Instabile Untergründe können kurzfristig interessante “Überstimuli“ erzeugen, zielen jedoch nur auf das propriozeptive System ab. Diese Trainingsmethode wurde nur für spezielle Fälle konzipiert und letztendendes völlig verzerrt und ohne wissenschaftliche Stütze in die große Fitnesswelt transferiert (ursprünglich fand diese nur im kleinen Rahmen der Sprunggelenks-Reha & des ‚Proprioceptive Retraining‘ Protokolls von Janda Anwendung).
4. Balance bedeutet für das ZNS Sicherheit. Sicherheit bedeutet globale Leistungssteigerung (& Schmerzreduktion)!
5. Ein ganzheitliches Gleichgewichtstraining sollte unterschiedliche Körper-, Augen- & Kopfbewegungen und deren Kombination beinhalten.
Euer Patrick Preilowski