Neue Erkenntnisse aus der Trainingswissenschaft
Seit Jahrzehnten erforschen Wissenschaftler die Faktoren, welche die Leistungsfähigkeit des Athleten limitieren. Während in der Vergangenheit hauptsächlich hämodynamische und metabolische Vorgänge in der Körperperipherie als leistungsbegrenzend herausgestellt wurden, hat mittlerweile ein Paradigmenwechsel in der Weise stattgefunden, welcher das Zentralnervensystem als leistungslimitierenden Faktor hervorhebt. Dementsprechend stellt sich die Frage, ob die hohe funktionelle Plastizität des Gehirns durch sportliche Akutbelastungen und Interventionsmaßnahmen zugunsten der Verbesserung der Leistungsfähigkeit gefördert werden kann. In diesem Zusammenhang wurden am Department Sportwissenschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg in den letzten Jahren zahlreiche Studien durchgeführt um Antworten auf diese Fragestellung zu finden und relevante Empfehlungen für die trainingsmethodische Praxis daraus abzuleiten. Mit Hilfe der Elektroenzephalografie (EEG) konnte dabei durch Oberflächenelektroden auf der Kopfhaut die zentralnervale Aktivierung (Hirnaktivität) während verschiedener sportlicher Akutbelastungen registriert werden. Ziel war es sowohl den Einfluss unterschiedlicher Belastungsnormative (u.a. Belastungsdauer, Belastungsintensität, Bewegungsfrequenz) als auch die Wirkung von spezifischen Trainingsinterventionen mit möglichst ungewohnten Trainingsreizen auf die Hirnaktivität zu quantifizieren und zu analysieren. Die Studien wurden exemplarisch an Radsportlern durchgeführt um eine hohe Datenqualität bei relativ stabiler Körperposition zu gewährleisten. Die Ergebnisse können jedoch auch auf andere ausdauerakzentuierte zyklische Sportarten übertragen werden (z.B. Laufen, Schwimmen, Rudern, Skilanglauf). Fernab von der Sportartspezifik können die Erkenntnisse zudem in die Gestaltung des Konditions- (Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit) und Koordinationstrainings respektive sensomotorischen Trainings einfließen.
Ohne auf die genauen Studienergebnisse einzugehen, haben die Untersuchungen gezeigt, dass Belastungsdauer, Belastungsintensität als auch die Bewegungsfrequenz, neben den typischen Reaktionen auf das Herz-Kreislauf-System und den Stoffwechsel, einen direkten Einfluss auf die zentralnervale Aktivierung haben. Für die Umsetzung eines hohen Leistungsoutputs scheint eine hohe Aktivierung notwendig zu sein. Die Ergebnisse unterstützen die These, dass wir auch das Gehirn schulen bzw. trainieren können. Trainingsinterventionen mit ungewohnten und variablen Reizen haben insofern große Auswirkungen auf zentralnervaler Ebene, da hierbei Ermüdungsprozesse verzögert sowie ökonomisierende Regelprozesse aktiviert werden können. Die Erforschung und Quantifizierung zentralnervaler Aktivität während definierter sportlicher Akutbelastungen kann somit eine bedeutende Grundlage für die fundierte Belastungs- und Beanspruchungssteuerung im Trainingsprozess darstellen. Kenntnisse zur zentralnervalen Beanspruchung sowie Anpassung an definierte Trainingsbelastungen können zu einer gezielteren Reizsetzung im Training beitragen. Dem Prinzip größtmöglicher Variabilität im Trainingsprozess obliegt dahingehend höchste Aufmerksamkeit. Es kann somit nicht länger davon ausgegangen werden, dass nur hämodynamische und metabolische Vorgänge allein die Leistungsfähigkeit des Sportlers bestimmen. Im Gegenteil, sportliche Höchstleistung erfordert die Optimierung aller Funktionssysteme bis in Grenzbereiche hinein. Im Zentralnervensystem laufen dabei alle Steuer- und Regelprozesse ineinander, die für dieses Zusammenspiel notwendig sind. Das Zentralnervensystem und speziell das Gehirn gibt dabei die nötigen Impulse für die Quantität und Intensität einer körperlichen Beanspruchung und stellt die höchste Steuerebene für psychologische und physiologische Vorgänge dar.
Doch was bedeuten diese neuen Forschungsergebnisse nun für Sportler, Trainer und die methodische Gestaltung des Trainings? Die in den letzten Jahren ersichtliche Entwicklung in der Trainingsvielfalt und ‑methodik bieten neue trainingswissenschaftliche Ansätze für eine verbesserte und zeitökonomischere Leistungsentwicklung. Die Wissenschaft hinkt der Sportpraxis dabei häufig hinterher. Somit werden mit den vorliegenden Ergebnissen viele erfolgreiche Trends und Erfahrungswerte von hoch qualifizierten Coaches im Fitness- und Leistungssportbereich erklärbar.
Schlussfolgerungen für die Trainingspraxis
Ganz gleich ob Breiten- oder Leistungssport, wer seine Leistung ohne signifikante Erhöhung der Gesamttrainingszeit steigern will, muss sportartspezifisch und sportartübergreifend möglichst abwechslungsreich trainieren. Zu verändernde Parameter könnten neben der Variation der Belastungsnormative (z.B. Dauer, Umfang, Intensität, Dichte) die Veränderung von Streckenprofil und -beschaffenheit (z.B. Asphalt, Waldboden) sowie Umweltbedingungen (z.B. Höhe, Wetter, Klima) sein. Auch eine Änderung der Trainingszeit (morgens, abends) und die Integration von störenden Faktoren in den Trainingsprozess (z.B. sportliche Gegner, Zuschauer) sind in diesem Zusammenhang zu nennen. Schließlich tragen differenzierte Bewegungsfrequenzen (z.B. Schritt-, Tritt-, Armzug- oder Schlagfrequenz) und sogenannte Pacing-Strategien zur Variabilität in der Belastungsgestaltung in Training und Wettkampf bei und können sich positiv auf die Leistungsfähigkeit und die langfristige Leistungsentwicklung auswirken. Pacing-Strategien beschreiben in diesem Zusammenhang die Gestaltung der Intensität (z.B. Wechsel der Laufgeschwindigkeit) im Bezug zur Belastungszeit.
Funktionelles (Kraft-)Training und variable Trainingskonzepte wie Freeletics oder CrossFit, welche sowohl konditionelle, koordinative und sensomotorische Aspekte als auch beweglichkeitsfördernde Inhalte integrieren und verschieden kombinieren, müssen in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Hochintensive Intervallbelastungen (HIT) sind durch den systematischen Wechsel von hohen Belastungen und Erholungsphasen bestens geeignet, um das Zentralnervensystem und speziell das Gehirn mit in das Training einzubeziehen. Die Veränderung von Druckbedingungen (z.B. Präzisionsdruck, Zeitdruck, Komplexitätsdruck) sowie die erhöhte Inanspruchnahme verschiedener Informationsaufnahmewege (z.B. optisch, vestibulär) ergänzt die Palette der kreativen Möglichkeiten. Die innovative Gestaltung des Trainings bildet die Basis für eine abwechslungsreiche Reizsetzung in den verschiedenen funktionellen Ebenen des Organismus. Nur so können Deckeneffekte und Leistungsstagnation vermieden werden. Die dabei auftretenden vielfältigen Rückmeldungen aus Organismus und Umwelt über das Ergebnis einer sportmotorischen Handlung, wahrgenommen über verschiedenste Rezeptoren (u.a. Propriozeption, Kinästhesie), sind eine wesentliche Voraussetzung für die Bewegungsausführung und für die Entwicklung der sportlichen Leistungsfähigkeit. Die funktionelle Einheit von Wahrnehmung und Bewegung gilt hierbei als Grundlage (u.a. neuromuskuläre Bewegungskontrolle). Die benannten Prozesse stehen in einer ständigen Interaktion und sind das gemeinsame Ergebnis der Kopplung des peripheren mit dem zentralen Nervensystem. Der Trainingsprozess sollte unter bewusster Berücksichtigung dieser Einheit geplant und durchgeführt werden. Die verletzungspräventive Wirkung eines abwechslungsreichen Trainings hinsichtlich der Vermeidung von Überlastung des Stütz- und Bewegungssystems durch einseitige Belastungsreize ist dabei nicht zu vernachlässigen.
Auf das gerätegestützte Krafttraining kann das Trainingsprinzip ebenfalls übertragen werden. Hierbei sollten Übungsauswahl, Übungsreihenfolgen, allgemeine (u.a. Kraftausdauer, Maximalkraft) und spezielle Trainingsmethoden (z.B. Intensivwiederholungen, Supersätze, Pyramidentraining) sowie Trainingspläne regelmäßig verändert und abwechslungsreich gestaltet werden. Es existieren fast unendlich viele Möglichkeiten für ein und dieselbe Zielstellung adäquate Trainingsübungen zusammenzustellen. Dabei können sowohl Gelenkwinkel als auch Freiheitsgrade in die Überlegungen mit einbezogen werden. Der Wechsel aus geführten und eher freien Übungen, je nach Leistungsniveau und bestehender Bewegungsqualität, schafft zudem die Möglichkeit die gelenk- und rumpfstabilisierende Muskulatur sukzessive mit zu integrieren. Im Hinblick auf die Gehirngesundheit in primärpräventiven (z.B. Demenz) sowie sekundär- und tertiärpräventiven Anwendungsfeldern (z.B. Bewegungstherapie, Rehabilitationssport) ist die neuroprotektive Wirkung und das Potential eines individuellen und stetig variablen Trainings ebenfalls nicht zu unterschätzen. Evidenzbasierte Studien fehlen dazu noch. Die Anzahl der verschiedenen Stellschrauben bei der Planung des Trainings bieten somit unendlich viele Möglichkeiten Kreativität einfließen zu lassen. In diesem Zusammenhang sind qualifizierte und erfahrene Coaches gefragt um die Vielfalt der Trainingsmethoden und ‑mittel sowie Belastungsbereiche und deren Proportionierung unter Berücksichtigung von Zyklisierung und Periodisierung adäquat auf das jeweilige Trainingsziel abzustimmen. Belastung, Beanspruchung und Belastbarkeit sind dabei stetig im Auge zu behalten.
Los geht’s!
Vielen Dank für Euer Interesse.
Euer Dr. Thomas Gronwald