Ich freue mich natürlich über die gute Rezeption und möchte die Gelegenheit nutzen, meine Trainingsphilosophie, die eigentlich eine Lebensphilosophie ist, zu erklären und dabei ein paar Missverständnisse aufzuklären.
Zuerst möchte ich sagen, dass ich niemandem vorschreiben möchte, wie er zu trainieren hat. Jeder Mensch hat einen eigenen Kopf und sollte diesen auch benutzen. „50 Jahre Kampf mit dem Eisen“ soll zeigen, welche Übungen ich als junger Mann gemacht habe und mit damals 63 Jahren immer noch gemacht habe. Ich mache diese Übungen heute mit 67 Jahren natürlich weiterhin, denn das Training muss weitergehen! Das bedeutet allerdings nicht, dass ich jede der Übungen, die man in meinem Film sieht, ständig mache, noch bedeutet es, dass jeder diese Übungen machen sollte. Jeder muss selber die Übungen finden, die zu seinen Zielen und seiner Lebenssituation passen. Noch viel wichtiger: Jeder sollte das Training nicht nur als eine Ansammlung von Übungen verstehen, die man dann einfach abarbeitet. Lasstmich erklären, was ich damit meine. Ich verstehe, dass viele Leute trainieren oder zumindest mit dem Training begonnen haben, um gut auszusehen. Dafür gibt es dann Begriffe wie Bodybuilding oder Fitnesstraining. Andere trainieren auf Leistung in einem Sport hin oder wollen generell fit für die Welt sein, wie z.B. im CrossFit. Ich habe nichts an diesen Zielen auszusetzen. Im Gegenteil, vor allem als junger Mann waren für mich gutes Aussehen und die Leistungsfähigkeit der sowjetischen Gewichtheber, die ich als Kind im Kino sah, sicher die Hauptgründe, mit dem Training zu beginnen. Es war für mich aber immer wichtig, nicht nur ein gut aussehender Mann oder ein starker Gewichtheber zu sein, sondern Zeit meines Lebens ein Athlet zu sein und jederzeit auszusehen wie ein Athlet. Ich habe immer neben dem Leistungstraining im Gewichtheben, Kettlebellsport oder Zirkustraining darauf geachtet, auch in anderen athletischen Disziplinen kompetent zu sein wie Akrobatik, Volleyball, Basketball, Tischtennis, u.s.w. und im Leben auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Kurzum: Alles was ich tue soll professionell auszusehen. Ich habe diese Einstellung bis heute beibehalten und denke, damit gut gefahren zu sein.
Im Laufe der Zeit habe ich natürlich immer mehr verstanden, dass bei allem Training – für welche Ziele auch immer – die Gesundheit immer im Vordergrund stehen sollte. Was hilft es, wenn ihr in euren Zwanzigern 180kg Stoßen oder 300kg Kreuzheben könnt oder einen definierten, schöne Oberkörper habt, aber mit Anfang 40 nicht mehr richtig laufen könnt? Darum ist es für mich immer gleichermaßen wichtig gewesen, auf Training, Aussehen, allgemeine athletische Fähigkeiten und Gesundheit zu achten. Das bedeutet für mich auch, jeden Tag auf einen gesunden Lebenswandel und eine gesunde Ernährung zu achten und immer die Kontrolle über meinen eigenen Körper zu behalten. Nicht eure Umgebung bestimmt, was ihr mit eurem Körper macht, sondern ihr selbst. Das ist natürlich in manchen Lebenslagen schwierig und auch für mich nicht leicht. Aber die Entscheidung liegt immer bei einem selbst!
Wie sieht also mein Training aus? Einige Leute haben beobachtet, dass ich z.B. Kettlebells jongliere oder sie aufeinander stecke, drücke und aufstehe während ich die aufeinander stehenden Kettlebells balanciere (manche nennen diese Übung auch „Türkisches Aufstehen“, aber als ich mit dieser Übung vor 40 Jahren begonnen habe, wusste ich nicht, dass „türkisch“ genannt wird). An einigen Stellen wurde darauf verwiesen, ich würde auf diese Übung schwören. Für mich war und ist diese Übung allerdings nichts weiteres als ein Trick. Lasst es mich es so erklären: Ich baue mein Training und das meiner Schüler auf mehreren Säulen auf. Das sind vor allem Übungen zur Leistungssteigerung und allgemein-athletische Übungen mit dem eigenen Körper. Dazu kommen dann Tricks, mit denen man sich testen kann. Die Leistung wird am besten mit der Langhantel oder der Kettlebell trainiert. Hier kann man mit Übungen wie Reißen, Umsetzen, Stoßen, Zug, Kniebeuge, Drücken u.s.w. methodisch die Intensität und den Trainingsumfang anpassen und steigern. Diese Übungen bilden die Basis der Leistung und sollten immer in irgendeiner Weise Teil des Trainings sein. Durch die Regulierbarkeit von Langhantel und Kettlebell eignen sich diese Übungen am besten, um Kraft und Explosivität zu trainieren und Muskeln, Sehnen und Bänder zu entwickeln. Nur, wenn man diese Übungen ernst nimmt und beständig trainiert, kann man in ihnen selbst gute Leistungen erbringen und diese auf andere Sportarten oder Tätigkeiten übertragen.
Wer nur mit der Langhantel und Kettlebells trainiert, wird sicher gute Erfolge erzielen. Es war und ist für mich aber immer wichtig gewesen, dass ich und meine Athleten den eigenen Körper beherrschen, auch außerhalb ihres Sportes professionell auftreten können und im Alltag auf alle Eventualitäten gefasst sind. Hier kommen Akrobatik und allgemein-athletische Übungen mit dem eigenen Körper ins Spiel: Rollen, Springen, Handstand, Flugrolle, Klimmzüge, Seilklettern u.s.w. Es geht dabei nicht darum, diese allgemein-athletischen Übungen auf eine Leistung hin zu trainieren. Ist man einmal kompetent in diesen Übungen, muss man sie nicht mehr in jeder Einheit trainieren. Man sollte sie lieber als Fähigkeiten verstehen, die man hin und wieder im Training auffrischt, so dass sie im Alltag und im Bedarfsfall sofort abrufbar und benutzbar sind. Diese Übungen sind wichtig und können über euer Leben entscheiden. Dazu möchte ich euch eine kleine Geschichte erzählen: Als ich damals in Kasachstan auf der Straße lief, sprach mich auf einmal ein junger Mann, Mitte dreißig, an und bedankte sich bei mir, ich habe ihm das Leben gerettet. Ich verstand zuerst nicht. Dann erinnerte ich mich: Er hatte vor etwa zwanzig Jahren bei mir trainiert. Er erzählte, er sei auf seinem Motorrad auf der Jagd gewesen, habe Gas gegeben, um seine Beutetiere einzuholen und sei auf einmal aus dem Sattel geschleudert worden. Die meisten Leute hätten sich jetzt alle Knochen gebrochen. Aber im Flug gab es für ihn einen Moment, in dem die Zeit stillstand und er es vor seinen Augen wie in einem Film sah: Er und meine Jungs standen nach jedem Training in einer Reihe und ich erklärte Ihnen, warum wir trainieren: Reißen und Stoßen sind wichtig, aber für das Leben außerhalb der Sporthalle muss man vor allem Körperbeherrschung aus dem Training mitnehmen. Mit einer Übung wie der Flugrolle lernt man nicht einfach nur zu rollen, sondern die Energie von einem Flug oder Sturz abzufangen, so dass einem nichts passiert. Daran hatte er sich blitzschnell erinnert. Durch das Training der Akrobatik reagierte sein Körper automatisch, traf die richtige Entscheidung und er kam mit ein paar blauen Flecken davon. In so einer Notsituation holt der Körper alles heraus, was er vorher auf seiner Festplatte gespeichert hat. Aber wenn diese Festplatte leer ist…
Darum rate ich dringlich, nicht nur die Langhantel und Kettlebell ernst zu nehmen, sondern auch beständig an der Beherrschung des eigenen Körpers zu arbeiten. Wenn die Situation kommt, muss der Körper ein Repertoire besitzen, mit dem er richtig reagieren kann. Ich kann mich nur wiederholen: Was hilft es, wenn ihr mit 200kg auf Ihrem Rücken Kniebeugen machen könnt, aber dann beim Gehen plötzlich ausrutscht und euch die Knochen brecht, weil ihr euch nicht abrollen konntet?
Zuletzt gibt es dann natürlich die Tricks: Versteht mich nicht falsch, ich liebe diese Tricks! Kettlebells jonglieren, Kettlebells aufeinander stellen, drücken und balancieren, die Kettlebells hochwerfen, drehen lassen und mit der flachen Hand über dem Kopf fangen… Ihr kennt sie mittlerweile. Aber ich mache diese Übungen nicht, um meinen Körper zu entwickeln. Dafür machen ich und meine Athleten schon andere Übungen, bei denen man sich nicht gleich den Kopf kaputt macht, wenn mal eine Kettlebell herunterfällt. Es sind Tricks, mit denen ich mich und meine koordinativen Fähigkeiten regelmäßig teste. Als solche sollten sie auch behandelt werden.
Natürlich sind die Abgrenzungen nicht immer klar: Tricks wie Kettlebelljonglage trainieren natürlich auch die Beine, Hüfte, Rücken und Griffkraft, Seilklettern fördert selbstverständlich Griff- und Zugkraft und Reißen und Stoßen die Koordination. Es gibt aber grundlegend Übungen, die zur Leistungssteigerung genutzt werden sollten, allgemein-athletische Übungen, um auch außerhalb des Trainingsraums einen sicheren Auftritt haben zu können und Tricks, mit denen man sich testen kann. Die Schwerpunkte des Trainings und die vordergründige Zielsetzung können sich natürlich im Laufe der Zeit ändern. Das Prinzip, in allen Lebensbereichen eine gute Figur abgeben zu wollen ist für mich dagegen immer gleich geblieben.
Wie kann man also bis ans Lebensende möglichst gesund, leistungsfähig und athletisch sein und dabei auch gut aussehen? Für mich beginnt alles mit einer positiven Einstellung zu mir selbst: Ich gebe jeden Tag mein Bestes, der Rest liegt in den Händen des Schicksals. Natürlich können Lebensumstände hart sein, das Altern ist unvermeidbar und Krankheiten machen das Leben schwer. Niemand hat gesagt, dass es leicht sei. Aber jeder kann sich selbst dazu entscheiden, zum Training zu gehen und sich jeden Tag gesund zu ernähren. Genau wie beim Training, gibt es natürlich unzählige Meinungen, welche Ernährung die beste sei. Im Laufe der Zeit habe ich mein eigenes Programm entwickelt. Wichtig ist, zu seiner eigenen Entscheidung zu stehen, sonst hilft alles nichts.
Ein Bekannter fragte mich letzthin, als ich eine Süßigkeit aus gesundheitlichen Gründen ablehnte:
„Johann, wie kannst du so leben, so ganz ohne Genuss?!“ Ich antwortete ihm: „Wenn meine Jungs gut Reißen und Stoßen und ich das auch noch kann, das ist Genuss.“
Eine positive Einstellung zu sich selbst und harte Arbeit, jeden Tag. Denn ihr wisst schon:
Wer denkt ein Athlet zu sein, hört auf, einer zu werden.
Euer Johann Martin
Toller Bericht,
Die Idee für alle Alltagssituationen gerüstet zu sein macht für mich mehr Sinn als die Fitnesstrends von heute.
Viel Weisheit von jemandem der es auch vorlebt. Es wurde Zeit, dass Johann in das Licht der Szene gesetzt wurde. Vielen Dank.