Inzwischen wissen wir mehr über funktionelles Training oder das Konzept der geschlossenkettigen (Closedchain-) Übungen und können begründen, warum Vorreiter im Kraft- und Konditionsbereich wie Bill Starr, Fred Hatfield oder Ken Leistner bestimmte Übungen seit Langem erfolgreich einsetzen.
Aufgrund des Erfolgs meines ersten Buches, Functional Training, meinen viele Fachleute, sie könnten unsere Athleten im Trainingszentrum dabei bestaunen, wie sie allerlei außergewöhnliche Übungen ausführen. Das ist aber nicht der Fall. In aller Regel beschränken wir uns tatsächlich auf Frontkniebeugen, Umsetzen aus dem Hang und verschiedene Arten von Druckübungen. Wenn unsere Sportler darüber hinaus spezielle Übungen trainieren, gibt es dafür immer einen guten Grund. Unterhalten wir uns dann mit anderen Trainern über deren Trainingskonzepte, so erfahren wir oft, dass sie Teile unserer Trainingsphilosophie übernommen haben, ein paar Ideen von Mark Verstegen dazumischen und mit weiteren Vorstellungen kombinieren – und damit kommt es zu einem abenteuerlichen Mix aus verschiedenen Ansätzen. Um die Problematik einer solchen Vorgehensweise zu erläutern, möchte ich ein Beispiel aus der Kochkunst bemühen: In der Restaurantbranche gibt es Köche und Küchenchefs. Köche folgen einem Rezept, Küchenchefs kreieren die Rezepte.
Allgemeine Richtlinien
Wenn du gerade im Begriff bist, dein allererstes Trainingsprogramm selbst zusammenzustellen, dann bist du vermutlich noch immer als Koch zu bezeichnen. Würdest du als Koch, der ein Gericht zum ersten Mal zubereitet, bereits zwei Rezepte nehmen, diese zusammenwerfen, einige Zutaten weglassen und andere hinzufügen? Wohl kaum. Im Bereich der Trainingsplanung passiert dies jedoch immer wieder. Manchmal bitten mich ehemalige Sportler meiner Trainingsgruppe, die nun selbst als Trainer arbeiten, ihre Programme zu evaluieren. Nicht selten beinhalten diese eine wilde Mischung mehrerer Rezepte, sodass ich nur zu einer negativen Gesamtbeurteilung kommen kann. Wenn nämlich ein unerfahrener Coach beschließt, Trainingspläne abzuändern und wahllos zusammenzufügen, kommt in der Regel nichts Gutes dabei heraus. Stattdessen sollte besser ein Rezept ausgewählt und dieses nach besten Möglichkeiten zubereitet werden. In anderen Worten: Wähle ein Programm aus, halte dich daran, und coache es, so gut du kannst.
Hast du bereits einige Jahre Erfahrung im Zusammenstellen von Trainingsprogrammen, bist du vielleicht ein stellvertretender Küchenchef, ein Souschef. Du bist nun in der Lage, Rezepte abzuwandeln, kennst das Verhältnis und die Wichtigkeit der verschiedenen Zutaten, musst aber immer noch einem strikten, vorgegebenen Plan folgen.
Nach etwa fünf Jahren Erfahrung hast du es dann geschafft: du bist selbst Küchenchef und in der Lage, Rezepte zu entwerfen bzw. beliebig abzuwandeln. Vern
Gambetta sagt in diesem Zusammenhang gerne: »Es ist in Ordnung, Regeln zu brechen, solange man die Regeln kennt und versteht.«
Nun bist du hoffentlich an einem Punkt angelangt, an dem du nicht mehr deine ganze Trainingsphilosophie über den Haufen wirfst, nur weil du irgendwo etwas Neues aufgeschnappt hast. Du nimmst stattdessen neue Informationen kritisch auf, und wenn sie dir nützlich erscheinen, nutze sie, um kleine Modifikationen vorzunehmen.
Fazit: Finde heraus, ob du ein Koch oder ein Küchenchef bist. Ein Koch sollte sich damit begnügen, ein gutes Trainingsprogramm zu kopieren. Gute Programme als Vorlage zu nutzen, ist überhaupt nicht schlimm – vermeide nur, Pläne quasi blind zu übernehmen, schlechte Konzepte zu kopieren oder Programme wild zusammenzumischen. Kopiere so lange, bis du eines Tages genug Erfahrung hast, um dein eigenes Trainingsprogramm zusammenzustellen.
An diesem Punkt angelangt, kommt es schließlich darauf an, Übungen auszuwählen, die speziell auf deine Athleten zugeschnitten sind. Dazu musst du deine Ziele
kennen und genau formulieren und die folgenden Fragen beantworten können:
- Was ist das Beste für meine Sportler?
- Warum wähle ich diese Übung aus?
- Welche Resultate will ich erzielen?
Dein erstes Ziel: Verletzungen im Training vermeiden
Eigentlich sollte dieses Ziel gar nicht erwähnt werden müssen. Leider gibt es aber mehr und mehr Trainingsprogramme, die diesen Grundsatz missachten, sodass wir die Wichtigkeit der Risikominimierung an dieser Stelle noch einmal klar herausstellen wollen: Jede Übung ist im Hinblick auf ihren Nutzen und ihr Risiko zu evaluieren. Das Risiko hängt vom Alter des Trainierenden und auch von seinem sportlichen Niveau ab, was eine generelle Einschätzung schwierig gestaltet. Übungen wie Kniebeugen, Kreuzheben und Gewichthebeübungen sind nicht für jeden Sportler geeignet, und der Trainer muss sich darüber im Klaren sein, dass
- Verletzungen, die im Training passieren, immer die
Schuld des Trainers sind, - sich eigentlich kein Sportler im Training verletzen
sollte.
Ich selbst habe diesen wichtigen Grundsatz vor etwa 15 Jahren anlässlich eines Seminars mit Vern Gambetta übernommen. Er erklärte damals, dass ein Trainer grundsätzlich die Verantwortung für Verletzungen seiner Sportler übernehmen muss. Bis dahin war ich der Auffassung, dass es normal ist, wenn Gewichtheber nach dem Training Rücken- und Schulterschmerzen haben. Heute ist meine erste Devise, meine Athleten gesund zu erhalten. Dazu muss ich individuelle Entscheidungen treffen: Was für einen 20-jährigen, gesunden Sportler angemessen scheint, ist für einen 35-jährigen Athleten noch lange nicht das Richtige. Und Übungen, die ein 35-jähriger NFL-Spieler absolvieren kann, sind für einen 55-jährigen Hobbysportler ganz bestimmt nicht durchführbar. Risikominimierung ist der Grund dafür, dass wir Frontkniebeugen anstelle von Back Squats ausführen, Gewichthebeübungen nicht vom Boden aus machen und grundsätzlich keine Boxbeugen im Programm haben.
Dein zweites Ziel: die Verletzungshäufigkeit in Spiel- bzw. Wettkampfsituationen reduzieren
Unser erstes Ziel ist also nicht, die Leistungsfähigkeit zu steigern, sondern so sicher wie möglich zu trainieren. Analog dazu ist es unser zweites Ziel, die Spielfähigkeit des Sportlers zu erhalten. Der Sportler muss zu Spielen und Wettkämpfen antreten können, und gleichzeitig sollte sein Verletzungsrisiko auf dem Spielfeld minimiert werden. Es kann nicht darum gehen, Verletzungen komplett auszuschalten – das wäre unmöglich. Aber Training muss so gestaltet sein, dass das Verletzungsrisiko so klein wie möglich gehalten wird. Wer diesen Grundsatz nicht beachtet und reihenweise verletzte Sportler produziert, ist bald arbeitslos.
Dein drittes Ziel: die Leistungsfähigkeit steigern
Die Steigerung der Leistungsfähigkeit kommt also erst an dritter Stelle. Wer nun aber denkt, er könne die ersten beiden Ziele verwirklichen und die Leistung der Athleten steigern, indem er Krafttraining ausschließlich an Maschinen durchführt, der irrt. Solche Übungen verbessern nicht die funktionelle Leistungsfähigkeit und bereiten daher auch nicht auf reale Belastungssituationen vor. Ein ideales Trainingsprogramm berücksichtigt immer alle drei Ziele. Es trainiert auf progressive Weise alle Aspekte der Leistungsfähigkeit und vermeidet stets übermäßige Belastungen des Körpers. Eine Leistungssteigerung darf nie auf Kosten der Gesundheit erfolgen.
Kontinuität
Ein schlechtes Training ist immer noch besser als gar kein Training. Es ist wichtig, kontinuierlich zu trainieren. Daher sollte ein Sportler im Zweifelsfall lieber mal ein lockeres Bewegungstraining absolvieren, anstatt das Training komplett ausfallen zu lassen.
Zeitstruktur
Der Trainer muss genau wissen, wie viel Trainingszeit ihm zur Verfügung steht, und diese optimal nutzen. Die Zeit sinnvoll auf die verschiedenen Übungen bzw. Trainingsziele zu verteilen, ist die Herausforderung.
Effizienz
Je mehr in der Trainingszeit erreicht wird, desto effizienter das Programm. Der beste Weg, die Effizienz des Trainings zu steigern, ist, Kraftübungen paarweise zusammenzufassen. Wer nicht gerade ein professioneller Gewichtheber ist, muss eine Übung nicht in mehreren Sätzen und mit den entsprechenden Pausen dazwischen trainieren. Stattdessen können Ihre Sportler zwei Übungen im Wechsel absolvieren oder die Pausenzeiten mit Dehnen und Rumpfstabilitätstraining verbringen. Dieses Prinzip praktizieren wir an unserer Trainingsstätte regelmäßig.
Programmstruktur
Es ist wichtig, im Training eine feste Struktur einzuhalten. Jede Vorbereitung einer Trainingseinheit sollte Folgendes beinhalten:
- Ausrollen auf der Hartschaumrolle zur Minderung der Gewebedichte
- Stretchingübungen zur Dehnung des Gewebes
- Aktivierungsübungen
Nun kommt die Zeitplanung wieder ins Spiel: Wie viel Zeit steht für diese Maßnahmen zur Verfügung? Als Faustregel gilt, dass junge, gesunde Sportler etwa 10% – 20% ihrer Trainingszeit damit verbringen sollten. Bei älteren, weniger trainierten Sportlern müssen Sie mehr Zeit einplanen. Ist die Muskulatur angemessen vorbereitet, kann sich der Sportler auf die anstehende Belastung einstimmen. Das geschieht mit dynamischen Aufwärmübungen, die in der Regel etwa fünf bis sechs Minuten in Anspruch nehmen.
Euer Michael Boyle