Welche Neuigkeiten gibt es im Bereich der Faszienforschung?
Unter den zahlreichen Erkenntnissen ist die größte Neuigkeit aus der Faszienforschung dass unser Bild des Muskels, wie es vor 400 Jahren festgelegt wurde, fehlerhaft ist. Unser Körper besteht zu 40% aus Muskelmasse aber unser Bild von Muskeln ist veraltet. Der Brustmuskel (Pectoralis major), die Schultern (Deltoiden), der Nacken (Trapezmuskel) und andere Muskeln wurden so benannt, da sie isoliert betrachtet und aus dem Körper herausgenommen wurden. Es wurde angenommen, dass die Muskeln nur von ihrem Ursprung zum Ansatz arbeiten und daraus der Einfluss der Muskeln auf den Bewegungsapparat und das Skelett abgeleitet werden könne. Sprich wenn man im Falle der Hamstrings den Muskel mit einem Skalpell herausschneidet und dann daran veranschaulicht, dass der Muskel von der Tuberositas nach unten zur Rückseite des Schienbeins verläuft, ist das Fehlerhaft.
Der Körper organisiert seine Bewegungen nicht gemäß den Muskeln. Deine Deltoiden oder dein Pectoralis wird nicht im Gehirn dargestellt. Damit beschäftigen sich Personal Trainer und Physiotherapeuten, weil wir den Körper mit einem Messer auseinander genommen haben. Deshalb sehen wir auch die Strukturen, die wir sehen, wenn man den Körper mit einem Messer auseinandernimmt. Aber in Wirklichkeit trennen wir die Muskeln von ihren Nachbarn wenn wir den Körper mit einem Messer auseinandernehmen. Muskeln beeinflussen aber ihre Nachbarn. Wir trennen die Muskeln von ihren nördlichen und südlichen Nachbarn. Genau das habe ich in Anatomy Trains dokumentiert: die Nord- und Süd-Verbindungen, die längslaufenden Verbindungen entlang des Körpers. Man separiert den Muskel von seinen Bändern, doch der Muskel schützt die Bänder, genau so wie er die Sehnen schützt. Also wenn man solch eine Annahme über den Muskel macht und jeden einzelnen Muskel separiert und analysiert was welcher Muskeln ist, begeben wir uns auf einen Pfad, wie der Körper absolut nicht „denkt“. Meine größte Mission im Leben ist also dieses Konzept des Muskels loszuwerden, weil jeder so denkt. Sogar ich denke so und ich versuche seit 20 Jahren nicht so zu denken. Aber es gibt eindeutige Beweise dafür, dass Fehler gemacht wurden, wenn es um solche Ansichten geht.
Da haben Sie einen großen Schritt für uns alle getan, um ein neues konkreteres Verständnis darüber zu erlangen. Um weiter darauf einzugehen: Ihnen ist sicherlich bewusst, dass ein paar andere Anatomen Teile aus Ihrem Anatomy Trains-Buch nicht finden konnten; Primärverbindungen, wie zum Beispiel der Bereich zwischen der Plantarfaszie und der Unterschenkelfaszie über der Ferse.
Was ist bezüglich Anatomy Trains Ihre aktuelle Sichtweise?
Oh, da bin ich mir sicher. Ich meine, Anatomy Trains ist der Wissenschaft weit voraus. Der Zweck war ein visionäres Buch zu schreiben und so genau wie möglich zu sein. Aber ich bin mir sicher, es gibt Stellen die noch modifiziert werden. Robert Schleip hat dennoch gezeigt, dass Kraftübertragungen in der Tat stattfinden. Man muss sich nur auch Franklin Miller anschauen, und noch jemand anderes, auf dessen Name ich gerade nicht komme. Frank Miller zum Beispiel, mit dem Straight Leg Raise Test, den jeder Phyiotherapeut kennt. Das Heben des Beines mit der Hand unterhalb der Ferse bei gestrecktem Kniegelenk. Wenn man die Leistungsfähigkeit der hinteren Oberschenkelmuskeln (Hamstrings) als 1 betitelt, dann wird 0,25 bzw. ein Viertel dieser Dehnung über die Superficial Backline (SBL) auf die Plantarfaszie übertragen.
Ich denke die Beweise sind eindeutig, dass es tatsächlich eine Verbindung von der Achillessehne zur Plantarfaszie, um die Ferse herum, gibt. Ist sie sehr fest an der Ferse fixiert? Ja! Kann man sie von der Ferse separat trennen? Ja, kann man, ich habe es schon viele male in diesem Abschnitt gemacht. Gibt es dort eine Übertragung von Kommunikation? Nun, Franklin Miller sagt ja, und der andere Kollege, der mir gerade nicht einfällt, sagt ebenfalls ja. Ich bin mir dennoch sicher dass es viele Dinge in Anatomy Trains geben wird, die von zukünftigen wissenschaftlichen Erkenntnissen in Frage gestellt werden. Der Grundgedanke wird sicherlich gleich bleiben, Details wiederum werden auf jeden Fall bestätigt oder nicht bestätigt werden.
Also ist es vielleicht mehr eine funktionelle Verbindung als eine strukturelle. In der Fascia Reseach Summer School haben wir kürzlich ebenfalls diese Art von Sezierung erprobt, und ich habe die Verbindung zwischen Achillessehne und Plantarfaszie gesucht, aber nicht gefunden.
Aber vielleicht fehlte diese Struktur in diesem Fall einfach?
Es hängt davon ab, wie man seziert. Es gibt die Achillessehne und den Teil der Sehne, welche die Achillessehne umgibt und um das Äußere des Fersenbeins verläuft. Es war uns möglich diese Erkenntnis aus Sezierungen zu gewinnen. Haben Sie an einer unbehandelten Leiche gearbeitet?
An einer vorbehandelten Leiche.
In meinen DVDS haben wir mehrfach in unserer Sezierung gezeigt, dass eine Verbindung der Plantarfaszie um die Ferse herum zur Achillessehne existiert.
Das fixiert also das Bindegewebe und erschwert manchmal solche Verbindungen. Aber wenn man diese Stelle näher betrachtet, sieht man, dass wir mehrere Male die Plantarfaszie mit der Achillessehne verbunden haben, indem wir die Faszie benutzten, welche um die Ferse herum verläuft.
Ja, das habe ich gesehen.
Bei der Sezierung muss man aber etwas ganzheitlicher vorgehen. Die Verbindung ist in der Tat sehr fest. Ich kann Leute verstehen, die sagen dass, es sehr schwer ist eine Kommunikation von Faszie zu Faszie um diesen Knochen herum zu finden, weil sie eben ziemlich fixiert ist.
Was mich interessieren würde ist, ob sich die Verbindung um die Ferse herum stark verändert hat, seitdem ich beim Laufen nicht mehr so stark mit meiner Ferse aufsetze, sondern mehr über den Vorfuß laufe. Das würde die Faszie verändern.
Die meisten Menschen, die man seziert, haben ihr gesamtes Leben jedoch in Schuhen verbracht und liefen auf ihren Absätzen. Und das kann die Faszie und die Kommunikation der Faszie um die Ferse herum ebenfalls beeinflussen.
Noch eine weitere… oder zwei Fragen. Eine persönliche Frage von mir dreht sich um die Adaption der Faszienstruktur bei unterschiedlichen Trainingsarten.
Wie denken sie über Trainingsformen wie z.B. exzentrisches oder plyometrisches Training?
Was sind ihre Vorschläge um diese Techniken zu kombinieren?
Ich persönlich bevorzuge ein variables Programm, egal bei welcher Tätigkeit. Ich knöpfe mir die Leute vor, die im Fitnessstudio ständig dieselben Maschinen, Laufbänder und Crosstrainer benutzen. Wenn man kontinuierlich sasselbe macht, beansprucht man den Körper auch einseitig. Obwohl diese Systeme die Ausdauer fördern und die beanspruchten Körperteile mit trainiert werden, werden die nicht stimulierten Bereiche vernachlässigt. Das gute an Yoga und Pilates ist, dass diese Systeme bereits gut ausgearbeitet sind und den Körper mehr involvieren um nicht immer die gleichen Dinge zu tun. Die Implementation von plyometrischen Übungen und ähnlichen Methoden (sehr interessant in diesem Kontext ist das Trainieren mit Ropes) vergleiche ich mit der Frage der Leute welche Schuhe sie tragen sollen. Meine Antwort ist immer: Wechselt eure Schuhe!
Ich wechsle meine Schuhe drei bis viermal am Tag, sodass sich meine Füße konstant an neue Gegebenheiten anpassen. Denn selbst wenn du die besten Schuhe der Welt täglich trägst, wären es nicht die besten Schuhe der Welt, weil du dich nicht anpasst und deine Füße nur auf eine bestimmte Art belastest. Das Beste ist, seine Füße in unterschiedlicher Weise zu benutzen. Da ich im nördlichen Klima lebe, kann ich draußen nicht immer barfuß im Schnee herumlaufen, also muss ich Schuhe tragen. Ich arbeite außerdem nahe der Uferpromenade, wo ich meine Füße verletzen könnte, wenn ich keine Schuhe trage. Die Frage ist also nicht „Schuhe tragen oder nicht?“; es ist eine Frage der Abwechslung.
Und das Gleiche würde ich über Training sagen. Mache für eine Zeit plyometisches Training und dann etwas anderes. Dann mach wieder etwas anderes. Einen Monat später änderst du es wieder und machst andere Übungen. So sorgst du dafür, dass dein Körper geschmeidig und biegsam bleibt, und für das Leben gewappnet ist. Wenn du immer dieselben Übungen ausführst und dieselben Maschinen im selben Winkel benutzt – das gleiche gilt für Gewichte und Kettlebells – machst du stetig das Gleiche und trainierst deinen Körper auf dieselbe Art und Weise. Du beanspruchst dieselben Bänder immer und immer wieder.
Die letzte Frage: Über welche Schwerpunkte werden Sie im Februar auf dem Faszien Summit in München sprechen?
Ich habe keine Ahnung. Ich habe Leute dafür, die mir sagen über was ich reden soll (lacht). Wenn wir über den Faszien Summit reden und Robert Schleip dort sein wird, gibt es schon jemanden, der über die aktuelle Forschung sprechen wird. Ich werde vor allem über Die Belastbarkeit und Spannkraft reden, und wie man den Körper dahingehend trainiert, sodass er Stress aushält und sich wieder normalisiert. Es geht um Plastizität; Plastizität im Nervensystem, Plastizität im faszialen System, im genetischen System, und auch Plastizität in der Art wie das Verdauungssystem funktioniert. Wir sehen den Körper mittlerweile als viel veränderbarer als zuvor. Darüber werde ich sprechen.
Ich bedanke mich für das Gespräch, und freue mich auf das Treffen mit Ihnen im Februar in München. Ich bin gespannt über was Sie im Detail referieren werden. Vielen Dank!
Euer Berengar Buschmann und Tom Myers
toller Bericht…
mit vitalen Gruss
Rüdiger Heinrich
Interessantes Interview!