1. Einleitung
Das Flossing (auch Voodoo- oder Ninja Flossing, oder Kompressionsbandagen genannt) ist eine relativ junge bzw. wiederentdeckte Therapiemöglichkeit und bietet ebenfalls die Chance Trainingseffekte zu unterstützen. Eine Dokumentation über Kompressionstherapie findet sich bereits im alten Rom. Das Flossing erinnert dabei etwas an die Schnürbandagen der Gladiatoren. Manchmal können es die einfachsten Mittel sein, welche die größten Effekte erzielen. Das gilt auch heute noch. Heutzutage, in Zeiten des 21. Jahrhunderts, steht das Kolosseum allerdings still. In der Therapie- und Trainingsbranche besitzen wir mittlerweile zum Glück in den meisten Fällen mehr Literatur, mehr Evidenz und dadurch auch insgesamt mehr Wissen. In der Regel folgen allerdings auf erforschte Aspekte zumeist auch fortführende Fragestellungen in der Wissenschaft…
2. Mögliche Effekte
Die aktuell behaupteten Effekte müssen kritisch betrachtet und diskutiert werden. Leider gibt es zum Flossing nicht viel mehr als Praxiserfahrungen, die im Laufe der letzten Jahre gesammelt wurden. Ein erneutes Wiederaufleben erlang das Flossing u.a. durch Dr. Kelly Starrett, der es in einem seiner Bücher („Werde ein geschmeidiger Leopard“) thematisierte. Abschnürende Kompressionsbandagen werden allerdings bereits seit den 70er Jahren untersucht. Daraus ergab sich, dass durch mechanischen Druck (Kompressionsmanschetten), der von außen auf das Gewebe gebracht wird, vegetative Veränderungen ergeben. Bei der Stimulation von Mechanorezeptoren erfolgt eine Reduzierung der Sympathikusaktivität (Sato & Schmidt, 1977), auch postexzitatorische Depression genannt. Gleichzeitig kommt es durch diese Stimulation zu einer erhöhten Fluidität in der Extra-Zellular-Matrix. Das bedeutet, dass sich das wässrige Milieu verändert und der Wassergehalt der Grundsubstanz erhöht wird (Schleip, 2003). Seit geraumer Zeit ist demnach bekannt, dass extern auf den Menschen einwirkende Kompressionen durch die Kommunikation zwischen Nervensystem und Faszien unterschiedliche Effekte hervorrufen können. Dazu gehören u.a. die Schmerzlinderung, eine verminderte Muskelaktivität, erhöhte Durchblutung, ein verbesserte Resorption des Lymph- und Gefäßsystems und ggf. sogar höhere Hypertrophie-Effekte.
2.1 Ödeme
Zu unterscheiden sind hierbei jedoch ganz deutlich die Druckstärken. Die mechanischen Drücke die durch bspw. Foam Rolling oder Flossing hervorgerufen werden, sind für einen konkreten Flüssigkeit-Abtransport über das Lymphsystem viel zu hoch. Diskutiert werden in diesem Zusammenhang sofortige Rücktransporte über das venöse System, sodass das Lymphsystem quasi „übergangen wird“. Hierbei stellt sich jedoch die Frage, inwieweit gewisse Stoffwechselendprodukte (Makromoleküle, die nicht durch die semipermeable Membran kommen) „vergessen“ werden.
Das Flossing selbst kann dadurch ggf. auch bei Ödemen indiziert sein, wobei ebenfalls die Gefahr vorhanden sein kann, durch die hohen Kompressions- und Scherkräfte Lymph- und Gefäßkapillaren zu zerstören. Letztlich wäre dieser Prozess kontraproduktiv.
Je nachdem, ob entödematisierende oder flexibilisierende Effekte als Ziel im Vordergrund stehen, sollten die Anlagetechniken daher variiert werden. Denn auf das Abbinden (erzeugte Vasokonstriktion = Minderdurchblutung) folgt eine erhöhte Durchblutung (Vasodilatation). Kommt es von arterieller Seite zu einer Mehrdurchblutung erhöht sich die Filtration von Flüssigkeit ins Gewebe. Darauf würde demnach eine erhöhte lymphpflichtige Last folgen, was bedeutet, dass sich das Ödem verstärken bzw. erhöhen würde, sofern wir dadurch nicht in der Lage sind, das Ödem direkt in das Venensystem zurück zu pressen. Gleichzeitig ergeben sich vermutlich biochemische Prozesse, die durch eine verstärkte Entzündung auch den Heilungsprozess anregen können. Dennoch bliebe das, sofern eine Insuffizienz des Lymphsystems vorliegt, relativ irrelevant, da der Abtransport weiter erschwert bliebe. Die Aufgabenlast würde sich erhöhen, bei herabgesetzter Leistungsfähigkeit. Bislang gibt es keine untersuchten Nachweise hierzu, dass durch das Flossing und die ausgeübte enorme Kompression vorhandene Ödeme direkt in das venöse System gepresst werden können, weswegen bei Ödemen die Anwendung mit Vorsicht zu genießen sein sollte. Insbesondere gilt dies für chronische Zustände. Unmittelbar nach einem Trauma, in einem akuten Zustand, kann das Flossing eine einzigartige Hilfe, ebenfalls in Kombination mit Eis, darstellen. Dadurch kann die Einblutung und Ödembildung minimiert werden.
2.2 Mobilität und Flexibilität
Sofern ein gesundes Lymphsystem vorliegt und die Mobilität verbessert werden soll, eignet sich das Flossing erfahrungsgemäß sehr gut. Im Grunde können damit alle Gelenkregionen der Extremitäten behandelt werden (Im Fallbeispiel bspw. das Kniegelenk). Im Rahmen der gesteigerten Beweglichkeit ist es ebenfalls denkbar, dass es durch die passive, assistive oder aktive Bewegung während der Anwendung zu einer vermehrten Zerreißung pathologischer Crosslinks im Bindegewebe kommt. Dadurch, dass Gewebe an zwei Enden massiv fixiert wird, erhöht sich der Flexibilitätsstress auf das dazwischen liegende Gewebe. Gleichzeitig kommt es allerdings auch direkt unter den applizierten Floss-Bands zu spürbaren Scherkräften. Welche Techniken daher primär angewendet werden, ist im Einzelfall, je nach Ziel, zu entscheiden. Zudem kommt es, wie bereits beschrieben, zu einem erhöhten Wassergehalt. Es ist anzunehmen, dass in der Region, die primär dieser Scherkraft ausgesetzt ist, neue Hyaluronsäureketten gebildet werden, welche das Wasser binden und dadurch ein geschmeidigeres Milieu erzeugen können. Leichte Verschiebungen der Gelenkpartner (Distraktion) während der Bewegung könnten dadurch ebenfalls einen positiven Effekt haben. Daher kann die Anwendung von manuellen Mobilisationstechniken während der Applikation sehr von Vorteil sein.
2.3 Kraft und Hypertrophie
Die energetische Auslastung der Skelettmuskulatur stellt neben hohen Spannungszuständen den entscheidenden Reiz dar, um einen Hypertrophie-Effekt erzielen zu können. Die energetische Auslastung wird durch das Flossing (wie bereits in den 70er Jahren durch Manschetten mehrfach untersucht) erhöht. Dies erzeugt eine künstlich hervorgerufene Ischämie (Minderdurchblutung), welche der Muskulatur quasi eine frühere Ermüdung „unterjubelt“. Dadurch genügen bei einem Training mit Manschette (Zugkompressionen) verhältnismäßig geringere Lasten, um einen Dickenwachstum des Muskels zu erreichen. Daher kann, insbesondere bei atrophierter Muskulatur, ein Training unter diesen Bedingungen sinnvoll sein, um einen Mehreffekt erzielen zu können.
3. Anwendung
Fallbeispiel: Daniel F., 24 Jahre, Rugby-Spieler litt seit mehreren Wochen unter Schmerzen im rechten Kniegelenk und einer Extensionseinschränkung mit in etwa fehlenden 20 Grad. Seine Hauptschmerzen konnten durch Kniebeugen oder Kastenaufsteiger (ABB.: 1) reproduziert werden. Den Schmerz beschrieb er dabei konzentrisch mit 5/10 und exzentrisch mit 7/10. Die Schmerzen nach Trainingsbelastungen hatten immer mehrere Tage angehalten. Sobald er in die Knieextension gefordert wurde beschrieb er einen Schmerz mit 3/10. Akute Traumata lagen nicht vor, die Einschränkungen entstanden nach einem Spiel.
Die Anwendung wird nun für das in der Bilderreihe vorgestellte Fallbeispiel beschrieben.
Die 5cm breiten und 1,5mm dicken Floss-Bands wurden hier im Hochsitz halb-überlappend angelegt (ABB.: 2), wobei das Kniegelenk in der Ausgangsstellung an das Bewegungsende positioniert wurde. Dabei wird ein etwa gleichmäßig zirkulärer Zug (etwa 75%) um das Kniegelenk aufgebracht. Hierbei kann bereits die Gelenkmechanik berücksichtigt werden. Da es die Absicht war die Knieextension fokussiert zu verbessern, kann die Tibia mit vermehrtem Zug nach ventral (vorne) und den Femur nach dorsal (hinten) „gezogen“ werden.
In diesem Beispiel wurde ein Floss-Band unterhalb und das andere oberhalb des Kniegelenks angebracht, da freie Gelenkkörper noch nicht zweifelsfrei auszuschließen waren.
Im Video wurden insgesamt 5 Sätze mit 2 Minuten Anwendungsdauer durchgeführt. Die Pausendauer sollte dabei mindestens ein Verhältnis von 1:1 betragen, je nach Patient kann auch eine dreifach längere Pause gewährt werden. Sollten Taubheitsgefühle, brennende Schmerzen oder nicht gewollte vegetative Entgleisungen auftreten muss das Floss-Band sofort abgenommen werden. Zwischendurch helfen leichte Palpationen des Fußes oder der Hand (je nach behandelter Region), um festzustellen, ob noch etwas Blutzufuhr gegeben ist. Sollte auf einen Druck in das Gewebe hinein, die Haut ihre Farbe nicht mehr verändern, oder gar bläulich erscheinen, sollte das Floss-Band ebenfalls abgenommen werden.
Während der Applikation sollten dann (je nach Zustand des Patienten) passive, assistive, aktive Bewegungen oder manuelle Grifftechniken durchgeführt bzw. angewendet werden. In diesem Fall wurde ein leichtes Dorsalgleiten des Femurs in Rückenlage, die fokussierte aktive Knieextension in Rückenlage (ABB.: 3) und die aktive Knieflexion + Knieextension im Sitz integriert. Oftmals kann man sich sonst auch an den problematischen Handlungen des Patienten orientieren. Wiederholende Sätze können dabei grundsätzlich 5-15 Mal durchgeführt werden.
4. Kombinationen
In Kombination eignet sich, wie bereits erwähnt, eine Eisapplikation bei akuten Traumata innerhalb der ersten zwei Tage. Dann können die Anlagen in der Therapie auch mehrmals am Tag erfolgen.
Das Foam Rolling könnte eine geeignete Ergänzung darstellen, um nach lokaler Entlastung durch das Floss-Band, eine gesamten myofaszialen Verbindungen global zu regulieren.
Das myofasziale Taping nach Erhard kann sowohl die neuroreflektorische Schmerzreduzierung, als auch die mechanische Gewebskorrektur positiv beeinflussen und einen dauerhafteren Effekt erzielen. Nach der massiven Flossing-Therapie stellt das vermutlich dadurch ausgelöste gleitfähigere Gewebe eine perfekte Ausgangssituation dar, um Gewebe spezifisch dahin zu entlasten, wo es der Patient benötigt. Allgemein sind durch das Flossing positiv ausgelöste Langzeiteffekte noch nicht bestätigt, können allerdings aus der Praxiserfahrung durchaus dokumentiert und bestätigt werden.
5. Fazit
Im Fallbeispiel wurde die Kniegelenks-Extensionseinschränkung unmittelbar nach den Flossing-Applikationen über 5 Sätze deutlich verbessert. Ein normales Bewegungsausmaß war das Resultat (ABB.: 4+5).
Der Schmerz ließ sich durch das Flossing in diesem Beispiel in der Streckstellung komplett beseitigen (0/10). Bei den Kniebeugen und Kastenaufsteigern konnte das Schmerzempfinden hingegen trotz der Beweglichkeitsverbesserung nur geringfügig verbessert werden. Ergänzend zum Flossing konnten die überbelasteten Gewebsregionen der oberflächlichen Frontallinie durch myofasziales Taping (fokussierter Kniefaszienrelease) entlastet werden. Danach war ein Schmerzempfinden mit konzentrisch 2/10 und exzentrisch 4/10 festzuhalten.
Infolge dieser Sitzung nach der Trainingseinheit wurde das gleiche Procedere täglich mit dem Floss-Band wiederholt. Daraus folgte, dass durch die weiteren Therapiesitzungen die volle Mobilität erhalten blieb, welche dann auch schmerzfrei nach sieben Tagen in den aktiven Bewegungsapparat übertragen werden konnte. Ergänzend zu anderen Therapietechniken kann das Flossing – zunächst rein erfahrungsgemäß – eine sehr schmerzhafte aber sinnvolle und sehr effiziente Alternative darstellen. Die behaupteten physiologischen Effekte müssen zukünftig überprüft werden. Sicherlich ist die Kompressionstherapie mit dieser Methode nochmals ergänzt, wobei hingegen stark abgegrenzt werden muss, welche Techniken für welche Ziele sinnvoll sind.
Erfahre mehr über das Thema Flossing und erlerne selber die grundlegenden Techniken beim „Functional Flossing“ Workshop!
Viele Grüße
Euer Berengar
Literaturhinweise:
Sato A, Schmidt RF (1977). Somatosympathetic Reflexes: Afferent Fibers: Afferent Fibers, Central Pathways, Discharge Characteristics. Physiological reviews; 53: pp. 916–947.
Schleip R. (2003). Faszien und Nervensystem. Zeitschrift für osteopathische Medizin. Heft 1/2003
Toller Artikel!!!
Ich kann das gute Fazit nur unterstützen.
Ich arbeite als Physiotherapeut schon seit ca. 1,5 Jahren mit dem Flossing, und habe sehr gute und dauerhafte Erfolge erzielt.
Sehr interessant sind die Effekte auch bei pathologischen Tonus Erhöhungen bzw. Spastizität
Sehr sehr guter Artikel! Bitte mehr davon :)
Finde Flossing auch super. Wie sieht es denn mit Trombosen aus? Besteht da eine Gefahr? Kann es bei „allen“ Patienten angewendet werden? Thema alter?
Danke für Eure Hilfe…..