Ich denke schon mein ganzes Leben lang über Bewegung nach.
Ich halte mich selbst für einen eher durchschnittlichen Sportler mit durchschnittlichen körperlichen Fähigkeiten, aber ich hatte schon immer ein gutes Auge für Bewegungsmuster. Ich sehe förmlich die Schwerkraftvektoren und Impulsdreiecke, aus denen eine Aktivität besteht. Ich kann es nicht erklären, aber ich habe einen Großteil meiner beruflichen Laufbahn damit zugebracht, dies zu artikulieren. Als ich mich ausführlicher mit der Thematik zu befassen begann, hatte ich das Gefühl, mein intuitives Verständnis von Bewegung hinterfragen zu müssen. Ich brauchte schnelleres und besseres Feedback, um sicherzustellen, dass ich das, was ich sah, auch wirklich objektiv wahrnahm. Um mir selbst und allen jenen gegenüber ehrlich zu sein, denen ich zu helfen versuchte, wollte ich eine Baseline setzen – in beruflichen Dingen wollte ich nie nur meiner Intuition trauen. Meine Intuition kann zwar einen Anhaltspunkt liefern, aber bevor ich aktiv werde und bestimmte Maßnahmen verordne, gehe ich einige Fragen durch – Fragen, die so einfach und naheliegend sind, dass jeder sie auf den ersten Blick für wichtig und richtig hält. Dann geht es darum, die Theorie in die Praxis zu setzen.
Ob du nun Sportlehrer, Physiotherapeut, Trainer oder Coach bist, es liegt in deiner Verantwortung, andere Fachleuten zu unterstützen und ihnen zu erklären, warum du bestimmte Interventionen vornimmst. Als ich mit Physiotherapie, Personal Training und Coaching anfing, stellte ich fest, dass so ziemlich jeder davon überzeugt ist, mehr Fachwissen und bessere Fähigkeiten zu besitzen als seine Kollegen.
Sehen wir uns doch einmal die Fakten an
Eine Umfrage ergab, dass beinahe 93 Prozent der befragten Autofahrer glauben, überdurchschnittlich gut zu fahren. In diesem Fall hätten wir eine Glockenkurve, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Doch nicht jeder Fahrer kann überdurchschnittlich gut sein. Viele sind durchschnittlich oder unterdurchschnittlich, ihre Einschätzung beruht also auf extrem subjektiven Kriterien. Es handelt sich um eine vermeintliche Überlegenheit, die auf keinerlei Tatsachen beruht. Doch was sagen die Fakten?
Wir alle lachen darüber, wenn wir erkennen, dass wir uns selbst für einen überdurchschnittlich guten Fahrer halten, während wir gleichzeitig annehmen, dass alle anderen Befragten sich und ihre Fähigkeiten falsch einschätzen. Jetzt können wir vielleicht auch verstehen, wie in einem beruflichen Umfeld Fehleinschätzungen entstehen können.
Wenn du dir wirklich Gedanken über Bewegung machst und mehr über dich selbst erfahren willst, sind diese Fragen ein guter Ausgangspunkt:
- Kannst du den Movement Screen einer Person korrekt einschätzen, indem du sie ansiehst, beim Sport beobachtest oder im Rahmen ihrer Aktivität in Bewegung siehst?
- Kann dein Klient, Athlet oder Reha-Patient seinen eigenen Movement Screen einschätzen?
- Hast du eine objektive Feedbackschleife für eine einzelne Session?
Ich möchte, dass du diese Fragen in Gedanken durchgehst und abhakst, wenn du dich angesichts deiner Fähigkeit oder Situation sehr sicher und zuversichtlich fühlst. Zuerst müssen wir uns auf eine Baseline einigen. Ich benutze den Functional Movement Screen, den du weder gut noch schlecht finden musst. Wichtig ist nur, dass du zur Kenntnis nimmst, dass er in den meisten Studien als verlässliche Baseline gilt. (Diskrepanzen entstehen, wenn Leute in Worte zu fassen versuchen, was der Movement Screen für sie bedeutet. Sie nehmen zahlreiche Dinge an und lassen andere Dinge weg, doch konzentrieren wir uns einfach auf die Tatsache, dass der FMS verlässlicher ist als das eigene subjektive Empfinden.)
- Kannst du den Movement Screen einer Person korrekt einschätzen, indem du sie ansiehst, beim Sport beobachtest oder im Rahmen ihrer Aktivität in Bewegung siehst?
Wenn du diese Frage schon beantwortet hast, hast du einen Fehler gemacht. Sieh zu, wie sich jemand bewegt, schätze sein FMS-Ergebnis und führe anschließend den Movement Screen durch. (Wenn du jemanden kennst, der den Movement Screen durchführen kann, ist das sogar besser, weil du dann ein neutraler Beobachter bist.)
Wenn du den Movement Screen einer Person nicht schätzen kannst, denkst du vermutlich, dass die daraus gewonnenen Informationen unnötig sind, oder du hast soeben zugegeben, dass dein Auge für Bewegung trainiert werden muss und eine Feedbackschleife benötigt, die dir zurzeit fehlt. Wenn du richtig geschätzt hast, sollte die nächste Frage lauten: Wie oft deckt sich deine Einschätzung mit dem Screen?
- Kann dein Klient, Athlet oder Reha-Patient seinen eigenen Movement Screen einschätzen?
Du wirst vielleicht erstaunt sein, weil nicht nur Autofahrer, sondern auch viele Freizeitsportler ihre eigenen Fähigkeiten über- oder deutlich unterschätzen. Manche unfitte Personen nehmen an, dass sie sich schlecht bewegen, während manche fitte Personen der Überzeugung sind, keine Bewegungsdysfunktionen zu haben.
Beide schätzen nur, obwohl die Wahrheit nur einen Steinwurf entfernt ist.
Wie wir bereits wissen, müssen wir manche Individuen drängen, während wir andere bremsen müssen. Abhängig davon, wie der Screen ausfällt, können sich die Empfehlungen unterscheiden, die wir für jedes Bewegungsmuster geben.
Einigen wir uns auf einen gemeinsamen Nenner. Orientieren wir uns an diesem Anker der objektiven Bewegungseinschätzung – betrachten wir die Muster.
Aus wissenschaftlicher Sicht gilt: Wenn deine Muster gut sind, sollten wir deine Teile und Abläufe nur dann analysieren, wenn sich in der Vergangenheit gezeigt hat, dass die einzelnen Komponenten deines Systems nicht zusammenpassen. Wenn wir in deinen (auch bewegungsspezifischen) Verhaltensmustern keine Dysfunktion erkennen, könnten wir die Dinge leicht in ihre Einzelteile zerlegen – aber was hätten wir davon?
Wenn die Grundmuster kompetent ausgeführt werden, können wir uns komplexeren Bewegungsmustern zuwenden. Wenn deine Muster gut sind, sollten wir deine Teile und Abläufe nicht zerlegen. Schlechte Muster verdienen es, zerlegt zu werden, gute Muster hingegen nicht. Sind die Verhaltensmuster durchschnittlich oder überdurchschnittlich, ist das noch lange kein Grund, in Reduktionismus zu verfallen. Das heißt nicht, dass Bewegung nicht verbessert werden kann, sondern einfach nur, dass Bewegung vermutlich nicht der Flaschenhals ist und ein anderes Problem vorliegt. Dann sollte man sich komplexere Verhaltensmuster ansehen, wie beispielsweise die Leistung, Sportspezifität oder Verbesserung der körperlichen Kondition.
Nur wenn die Basismuster stimmen, solltest du dich komplexeren Dingen zuwenden. Denn sonst fehlt dem Gebäude, das du errichten willst, das Fundament.
- Hast du eine objektive Feedbackschleife für eine einzelne Session?
Es dauert in der Regel Wochen und sogar Monate, bevor sich echte, messbare Veränderungen der Körperkomposition, Muskelhypertrophie, Physis oder sogar der sportlichen Fertigkeiten einstellen – also eine greifbare Veränderung mit einem sichtbaren Effekt. Das menschliche neurologische System wird sich jedoch bereits in einer einzigen fünfminütigen Session besser bewegen (bessere Qualität). Es gibt genügend Fallstudien, die das belegen. Wenn wir den FMS oder sein medizinisches Pendant, das SFMA, dazu verwenden, um den Flaschenhals zu finden, konzentrieren wir uns auf ein einzelnes Muster und wissen genau, dass dieses einzelne Muster nicht nur sich selbst zu verändern. Es kann auch andere Muster verändern – wenn es das schwächste Glied ist, kann es die ganze Kette beeinflussen, und das kann gemessen werden.
Wenn wir die richtige Korrekturübung zur richtigen Zeit auf das richtige Muster anwenden, verändert sich die Bewegung in einer einzelnen Trainingseinheit. Ich hoffe, du kannst eines Tages hinter diesen Punkt einen Haken setzen.
Die Frage, die immer aufkommt, ist: „Wie lange hält es?“ Das hängt davon ab, was du tust, um es zu verstärken. Wenn du ständig ein negatives oder unproduktives Bewegungsverhalten (z.B. zu viele Überkopfbewegungen unter Last mit schlechter Technik) pflegst, solltest du im Rahmen des Movement Screen zuerst das Negative entfernen (falsche Ausführung eines schlechten Musters) – und nichts Positives hinzufügen (Korrekturübung für ein schlechtes Muster).
Wende die Regel Schutz vor Korrektur an. Schon Hippokrates sagte: „Zuerst einmal nicht schaden“. Dieses Ziel erreicht man mit der eben genannten Regel Schutz vor Korrektur. Warum würden wir versuchen wollen, etwas zu korrigieren, das möglicherweise umgebungsbedingt ist? Wir haben schon oft gesagt: Nur wenn die betreffende Person eine einschlägige medizinische Vorgeschichte hat oder im Movement Screen über Schmerzen klagt, die eine zweite Meinung erforderlich machen, bevor sie Sport machen oder ihren Körper nennenswert belasten darf, betrachten wir den Organismus als beschädigt.
Aus biologischer Sicht müssen wir eine Entscheidung treffen: Wollen wir den Organismus oder die Umgebung modifizieren? Wenn ich versuche, einen Muskel zu aktivieren, der nicht feuert, versuche ich im wahrsten Sinne des Wortes, den Organismus zu manipulieren.
Wenn ein Organismus beschädigt ist oder nicht reagiert, wird es ihm normalerweise erst mit einer Form von ganzheitlicher und systematischer medizinischer Intervention besser gehen – ganz gleich, in welche Umgebung man ihn setzt. Das heißt nicht, dass wir immer ein medizinisches Problem entdecken, sondern dass wir vielleicht etwas finden, dass medizinisch evaluiert werden sollte, um eine unangemessen hohe Belastung des empfindlichen Körpersystems zu verringern.
Merke: Schutz geht vor Korrektur
Wenn sich im Movement Screen dyfunktionale Muster offenbaren, geht der Trainer oder Coach automatisch davon aus, dass der Organismus beschädigt ist. Ich fordere dich dazu auf, deine Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten: Wenn die Person keine medizinische Vorgeschichte hat und sich schmerzfrei bewegt, rate ich zuerst dazu, die Umgebung zu verändern. Die besten Trainer und Coaches sollten die Umgebung verändern und anpassen – das Workout und alltägliche Gewohnheiten (Erholung, Pause, Regeneration, unnötiger Stress und unnötige Faulheit). Wenn du im Training oder Konditionsprogramm einer Person diese Änderungen vornehmen willst, sollten deine Entscheidungen auf mehr beruhen als auf deiner subjektiven Meinung – um sicherzustellen, dass du auf der richtigen Spur bist, aber auch um denen Klienten zu zeigen, dass sie dir völlig zu Recht vertrauen.
Euer Gray Cook
Gray Cook ist Autor der Buches „Der perfekte Athlet“