Worauf muss man beim Myofascial Taping achten?
Markus Erhard: Auf sehr viel. Es kommt dabei auf mehrere Parameter an. Zuerst braucht es eine Faszien bezogene Diagnostik und dann das „richtige“ Bearbeiten der Faszie. Dabei kommt es vor allem auf das Verschieben der Faszie an, das bedeutet:
- Wo fängt man an?
- Wie Stark ist der Zug auf dem Tape?
- In welche Richtung wird verschobe?
- Von wo bis wo hin geht der Zug?
- Wie lange bleibt das Tape dran?
Wird richtig verschoben, dann kommt eine intensiver Release-Effekt.
Passt ein Parameter nicht, kann es gut sein, dass man überhaupt keinen Effekt sieht. Schlimmer noch, geht der Zug in die falsch Richtung, kann es ebenfalls einen intensiven negativen Effekt haben.
Grundsätzlich kommt es auch darauf an ob die Problematik durch eine eher angepasste, verkürzte, verklebte Faszie kommt oder ob es eher von Mikroverletzungen mit gerissene Fasern kommt. Wenn durch Risse, da reichen ganz kleine Verletzungen, ein Schmerz verursacht wird dann reicht es nicht, „nur“ die myofasziale Spannung über die Rezeptoren zu normalisieren. Da würde nämlich meist gezieltes Verschieben in dem Bereich der Golgi-Rezeptoren reichen. Bei Rissen muss die Faszie so verschoben werden, dass der Riss entlastet wird und kein zu hoher Zug mehr auf die verletzte Stelle kommt.
Wenn der Sportler jetzt wieder dehnt oder den Muskel anspannt oder sich einfach wieder normal bewegt, dann kommt dort die Spannung nicht mehr so stark im Gewebe an, dass die Schmerzrezeptoren genügend gereizt werden könnten, um nozizeptive Signale zu senden, dass ein Schmerz entsteht. Und falls doch, wäre dieser deutlich weniger. Es gelingt mir aber häufiger die Leute komplett schmerzfrei zu bekommen als „nur“ deutlich zu lindern.
Komplexer wird es wenn eine oberflächliche und tiefe Faszie verkürzt ist oder Adhäsionen hat, da sich diese bei Bewegung viel mehr anpassen muss und verschiebbar sein muss. Das bedeutet man muss die Schmerzen, Dysfunktionen und Restriktionen 4 Dimensional betrachten. Es kommt auf die spezielle Bewegung und letztlich auf den Zeitpunkt an wo dann ein bestimmter Teil der Fasern zu viel Zug erfährt. Diese Fasern müssen bei einer bestimmten Bewegung, einem bestimmten Vektor entlastet werden. Aber genau diese Komplexität finden wir ständig im Alltag und Sport – bei Bewegung eben. Da geht es dann um individuelles Arbeiten mit dem Patient oder Sportler. Im Sport kommt es da wirklich auf’s „Zehntel“ an, aber genau das macht auch so großen Spaß, wenn man die Bewegung so schnell schmerzfrei bekommt. Durch die Spannungsnormalisierung kann die Bewegung wieder richtig umgesetzt, die Kraft wieder richtig entfaltet werden. Leistungssteigerung ist durch das Myofasziale Taping dadurch sofort möglich.
Wann kann man das Myofascial Taping einsetzen und wann sollte man es lassen?
Markus Erhard: Es funktioniert bei allem was mit Faszien zu tun hat sehr erfolgreich. Bei Muskeln, bei der Faszie, also bei kollagenen Strukturen, bei den Bändern, beim Periost. Das bedeutet, ich setze es ein wann immer Patienten und Sportler eine zu hohe Spannung, Schmerzen oder eine Verletzung haben oder einfach eine höhere Leistung haben möchte. Das Beeindruckendste ist und bleibt aber die schnelle und revolutionäre Schmerzbehandlung durch Myofascial Taping.
Nicht einsetzen sollte man das Taping, wenn die Haut nicht optimal ist. Zum Beispiel bei Sonnenbrand, Wunden, Allergien – wobei Allergienselten beim Taping auftreten, weil es gut verträglich ist, da im Kleber kein Latex ist.
Darüber hinaus gibt es aber durchaus noch weitere Limitationen. Zum Beispiel extrem starke Entzündungen, so dass man den Bereich kaum berühren kann ohne einen Schmerz zu verursachen. Oder eine sehr starke Schwellung, die so viel Raum einnimmt und Druck erzeugt, dass man den Bereich nicht genügend entlasten kann um die Schmerzen zu beseitigen.
Gute direkte Effekte auf sehr tief liegende Stukturen im Bauchbereich sind ebenfalls schwer zu erreichen.
Trotzdem kann man durch die weite Vernetzung der Faszien und die Anatomy Trains auch viel weiter distal von der verletzten und schmerzhaften Stelle die Spannung reduzieren. Es gibt einige sehr starke myofasziale Verbindungen die einen extrem intensiven Effekt an einem weit entfernten Bereich des Tapes hervorrufen.
Damit kommen wir zur Diagnose dem Bearbeiten der Faszie. Wie findet man den eigentlichen Übeltäter heraus und wann sollte ich mit dem Tapen beginnen?
Markus Erhard: Man kann davon ausgehen, dass jeder irgendwo eine erhöhte myofasziale Spannung hat als normal. Die zwei größten Faktoren sind Gewohnheiten (aktiv – man macht irgendetwas zu oft und zu einseitig und passiv – man macht irgendetwas nicht oft genug) und Verletzungen. Davon ist kein Mensch gefeit. Aber nicht jeder Mensch oder Sportler (wobei Sportler auch Menschen sind) hat schmerzen. Aber irgendwann kommt es meist zum Schmerz wenn nicht frühzeitig eingegriffen wird – dabei muss die Faszie nicht einmal eingerissen sein, sondern auch einfach nur verkürzt oder nicht mehr gleitfähig was zu einer zu hoher Spannung führt.
Grundsätzlich gibt es viele Möglichkeiten zu diagnostizieren. Welche Parameter von der Faszie abhängen haben ich vorher ja schon gesagt.
Um in der Praxis effizient zu arbeiten sind der Schmerz, Bewegungsausmaß (aber auch Qualität) und die Haltung die Wichtigsten Testparameter welche ich vor und nach dem Taping vergleiche. Schon allein durch visueller Diagnostik (Body Reading) kann man erkennen welche Bereiche verkürzt sind (konzentrisch) oder in ständiger Dehnung (exzentrisch aufgeladen) sind. Man sollte diese Bereiche behandeln, unabhängig davon ob diese Bereiche schmerzhaft sind oder nicht. Dadurch schafft man wieder eine strukturelle und myofasziale Balance und erzielt gute Langzeiterfolge.
Nichts desto trotz ist es wichtig die schmerzhaften Bereiche zu tapen, da diese akut Entlastung und Heilung (Wundheilung) brauchen.
Wenn ich zum Beispiel sehe, dass jemand beim Vorbeugen nicht richtig auf den Boden kommt, d.h. einen auffälligen Finger-Boden-Abstand hat oder Schmerzen beim nach vorne Beugen hat, und er nach dem Taping weiter nach vorne Beugen kann und oder der Schmerz geringer ist, dann weiß ich, dass dort vorher eine hohe, bzw. zu hohe Spannung war. Dann lasse ich das Tape dran und weiß, ich tue ihm was Gutes, jetzt hat er wieder eine normale Spannung, jetzt ist das Tape nicht mehr „nur“ Diagnosemittel, sonder Therapie. Das Tape bleibt dann meist für ein paar Tage dran, ich wiederhole die Anlage eventuell noch ein paar Mal und dann hat sich das meist normalisiert. Der Körper und das Bewegungsprogramm ist wieder neu definiert und „programmiert“ und dann benötige ich auch kein Tape mehr. Das ist dann auch nachhaltig.
Man muss aber nicht unbedingt einen Schmerz haben, damit man vom Taping profitiert. Es kann ja sein, dass man kurz vorm Schmerz steht, weil die Spannung schon so hoch ist und es fehlt eigentlich nur noch ein kleiner Tick, eine kleine Provokation oder Belastung. Meistens lässt sich das gut über das Bewegungsausmaß vor und nach dem Taping testen. Ist die Differenz hoch, dann bleibt das Tape ebenfalls drauf, damit sich die Spannung langfristig normalisiert. In diesem Fall dient das Myofasziale Taping zur Verletzungsprävention. Durch diese Diagnostik weiß ich aber auch wo ich ebenfalls noch manuell mit Faszientechniken arbeiten sollte.
Der Grund warum das Taping bei Bewegung so gut funktioniert und im Sport so beliebt ist, ist weil das Myofasziale Taping die Faszie verschiebt und sie auch verschoben hält. D.h. die Effekte bleiben wärend der Bewegung erhalten. Ich kann die Patienten und Sportler über das myofasziale Taping in eine myofasziale Balance bringen und halten. Jetzt ist man optimal für Bewegung, Training und Sport vorbereitet. Die Bewegungen verlaufen schmerzfreier, bzw. schmerzfrei.
Die myofasziale Spannung ist wieder normalisiert, der Muskeltonus und die Muskelfunktion sind wieder physiologischer, die Faszienelastizität ist wieder verbessert, das Bewegungsausmaß ist erweitert und die Kraft ist wieder größer, weil das System wieder richtig funktioniert. Dies bedeutet, dass ich durch die Wiederherstellung eines gut funktionierenden myofaszialen Systems die Leistung durch Myofascial Taping steigern kann.
Macht das Tapen nur im Sport Sinn oder bringt es auch im Alltag Nutzen, z. B. wenn jemand zehn Stunden pro Tag am Schreibtisch sitzt?
Markus Erhard: Es bringt definitiv auch im Alltag etwas, da überall wo Bewegung stattfindet auch die Faszien und Myofaszien auf Spannung kommen und bei Überlastung oder Verletzungen Schmerzen entstehen können. Nur im Sport ist es eben besonders wichtig eine myofasziale Balance und Funktion zu haben, da die Belastung viel höher und intensiver ist. Da ist es sehr wichtig, dass die Spannung normalisiert ist; eigentlich schon bevor man Sport macht, spätestens jedoch, wenn ich eine Verletzung habe. Denn durch eine Verletzung und dem Schmerz steigt die Spannung reflektorisch noch mehr. Mit Taping kann ich diese dann wieder senken. Dadurch verläuft die Wundheilung wieder optimal. Man hat weniger Schmerzen und kann meist früher wieder zum Sport gehen, zumindest wenn nichts gerissen war. Es kann sogar sein, dass man ein Tape anlegt und sofort wieder loslegen kann. Das muss man aber von Fall zu Fall betrachten.
Aber auch zu wenig Bewegung ist „gefährlich“. Ständig am Schreibtisch sitzen bedeutet, dass sich vor allem in der Frontallinie und Tiefen Frontallinie (Anatomy Trains), vor allem die Faszien im Hals, sternalen Bereich, Bauch, Organbereich und Hüftbeuger verkürzen und die Gleitfähigkeiten reduziert wird. Einfaches, effizientes aufrechtes Stehen z.B. ist dadurch schwerer. Die verkürzte Front ist der „Täter“, das eigentliche Problem, „Opfer“ sind vor allem die Rückenmuskeln die viel mehr arbeiten müssen um in eine aufrechte Haltung zu kommen und den Kopf in einer guten Position zu halten.
Deswegen kommt es nicht auf die Frage an, ob das Myofasziale Taping für Sportler oder Nicht-Sportler ist, sonder ob man wieder schmerzfrei bewegen und leben möchte. Wo auch immer Schmerzen, Bewegungseinschränkungen, Dysfunktionen schlechte Bewegungsqualität und schlecht arbeitende Muskulatur zu finden ist und dies nicht von knöchernen Strukturen abhängt, sonder von der Faszie, dann wird man faszieniert sein wie schnell und zuverlässig man Patienten und Sportlern mit Myofaszialem Taping nach Erhard helfen kann.
Euer Markus Erhard