Unser Körper verfügt über große Leidensfähigkeit und lässt sich offenbar die zweifelhaftesten Lebensstile erst einmal gefallen – doch genau das ist das Problem. Wir sollten eben nicht den Fehler machen, unser wunderbares genetisches Erbe durch eine ungesunde Ernährung, falsche Liegepositionen beim Schlafen oder fehlerhafte Bewegungen auf die Probe zu stellen oder gar zu schädigen. Bei den meisten Problemen mit dem Bewegungsapparat handelt es sich um vermeidbare Erkrankungen.
Wenn man von Bewegungseinschränkungen spricht, ist es sinnvoll, Schmerzen und Verletzungen in vier Kategorien einzuteilen. Diese habe ich an dieser Stelle nach Häufigkeit geordnet.
Zwei Prozent der Ursachen für Bewegungseinschränkungen in einem typischen Sportstudio:
• Krankheit
• schwerste Verletzungen (etwa durch Unfälle)
Etwa 98 Prozent aller Bewegungseinschränkungen, die wir typischerweise bei Sportlern beobachten:
• Verspannungen (fehlender Bewegungsumfang)
• Fehler durch offene Kreisläufe (Bewegen in schlechter Körperhaltung)
Krankheit
Ernsthafte Erkrankungen gehören in den Bereich der klassischen Medizin. Im Fitnessstudio sind nur etwa ein Prozent aller typischen Probleme von pathologischer Natur. Aber so denkt und handelt jeder gute Trainer, wenn er sich mit einem Sportler unterhält: »Ich glaube nicht, dass du nur unter einfachen Rückenschmerzen leidest, sondern es sieht vielmehr nach einer Niereninfektion aus.« Oder: »Ich glaube nicht, dass du übertrainiert bist. Wenn ich mir den hellen roten Ring um den Stich an deinem Arm anschaue, solltest du dich auf Lyme-Borreliose untersuchen lassen.« Beide Beispiele haben sich wirklich so zugetragen. Ein guter Arzt fragt stets nach Veränderungen der Blasen- und Darmfunktion, Gewichtsverlust oder -zunahme, Nachtschweiß, Schwindel, Fieber, Übelkeit und Erbrechen, um sicherzugehen, dass er mit seiner Diagnose auf dem richtigen Weg ist. Wir halten unsere Trainer an, ihre Athleten zum Arzt zu schicken, wenn sie das Gefühl haben, dass mit der Art und Weise etwas nicht stimmt, wie sie über Probleme mit ihrem Bewegungsapparat sprechen. Fazit: Wer krank ist, gehört zum Arzt.
Schwerste Verletzungen
Zu dieser Kategorie gehört, von einem Auto angefahren zu werden, des nachts mit einem Fallschirm aus einem Flugzeug zu springen und auf einem Baumstumpf zu landen oder von einem 100-Kilogramm-Verteidiger im Handball einen Schlag aufs Knie zu bekommen. In solchen Fällen ist moderne Sportmedizin nicht zu übertreffen. Wenn Menschen an ihre Grenzen gehen, passieren immer wieder hässliche Unfälle. Die Versorgung der Verletzung und die Rehabilitation sind heutzutage so gut wie noch nie, und glücklicherweise haben wir in unseren Sporthallen nur zu knapp einem Prozent mit solchen Fällen zu tun. Das waren nun zwei Prozent der typischen Bewegungsstörungen, die in unseren Studios vorkommen. Welcher Art ist aber der große Rest? Ganz einfach: Sie gehören zu den Kategorien vermeidbarer Phänomene in Form von »zu hoher Muskelspannung« und »Fehler durch offene Kreisläufe«.
Verspannungen
Wir sehen immer wieder Sportler, denen es erheblich an Bewegungsumfang mangelt. Einen Olympiamedaillengewinner zu treffen, dem 50 Prozent Bewegungsumfang in der Streckerkette von Hüfte und Quadrizeps fehlen, ist gar nicht so ungewöhnlich. Stellen Sie sich vor, Sie essen mit einem guten Freund zu Abend und merken, dass er seinen Ellenbogen nicht mehr als 90 Grad beugen kann. »Was ist mit deinem Ellenbogen?«, fragen Sie. »Och, nichts«, antwortet er. »Ich halte den Weltrekord im Bankdrücken, aber beim Essen bringen mich mein Nacken und mein Handgelenk um.«
Dieses Beispiel mag ein wenig albern sein, doch im Allgemeinen tritt genau dieses Phänomen in Sprunggelenk, Schulter und Hüfte häufiger auf. Nur mit Beugen und Strecken ist es natürlich nicht getan. Denn zum vollen Bewegungsumfang gehören auch die Drehfähigkeiten unseres Körpers. Bewegen Sie Ihre Hand zum Gesicht, als wollten Sie essen. Spüren Sie einen Widerstand? Das sollte nicht sein. Erst am Ende der möglichen Bewegung erreichen Ihre Extremitäten und Gelenke langsam, aber sicher den Punkt, an dem sie nicht mehr weiterkönnen. Weder darf die Bewegungsspanne insgesamt eingeschränkt sein noch darf es unterwegs schwergängige Abschnitte geben. Beide Symptome wären ein sicheres Zeichen dafür, dass gespanntes Gewebe einen normalen Bewegungsumfang verhindert.
Fast jedes Mal, wenn wir Athleten wegen Ausgleichsbewegungen oder schmerzender Gewebestrukturen untersuchen, finden wir unmittelbar über oder unter der Stelle mit Dysfunktion erhebliche Einschränkungen im Gelenk und dem Gewebe. Tendinopathie der Achillessehne? Merkwürdig, dass deine Wade hart und verkürzt ist und dein Sprunggelenk keine Dorsalflexion zeigt. Du hast einen Knorpelschaden am Knie und leidest unter Chondropathia patellae? Ich wette, dass deine Hüftstreckung eingeschränkt ist und deinem Oberschenkel der volle Bewegungsumfang fehlt. Einfach ausgedrückt: Wenn Ihr Sprunggelenk schmerzt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Wade hart und verkürzt ist, am Sprunggelenk zieht und so den Bewegungsumfang einschränkt. Wenn Sie Knieschmerzen haben, kann es gut sein, dass Waden, Oberschenkel und Hüfte sehr hart sind.
Warum Sie Schmerzen haben, ist klar: Sie sind nicht in der Lage, sich in optimalen Körperhaltungen zu bewegen, da Ihnen entscheidende Teile des Bewegungsumfangs
fehlen. Mobilisationstechniken verringern die Spannung und verbessern die Wirkungsweise des Systems aus Gelenken, Bändern, Sehnen und Muskeln. Ich nenne das die »Aufwärts-/Abwärts-Herangehensweise«, über die Sie in Kapitel 6 mehr erfahren. Wenn es um Verspannungen im Gewebe und daraus abgeleitete typische Paarbildungen wie »hintere Oberschenkelmuskulatur und Rückenschmerzen« geht, richten wir – auf der Suche nach dem Schuldigen – unser Augenmerk gerne auf den Aspekt »verkürzter Muskel«. Aber so einfach ist es nicht. Muskellänge ist ein komplexes Phänomen, das u. a. durch intramuskuläre Viskosität, das Nervensystem, motorische Kontrolle, Gelenkmechanik und sogar den Flüssigkeitshaushalt im Körper beeinflusst wird. Was aber letztendlich zählt: Wenn das System unter zu hoher Spannung leidet, muss diese gesenkt werden – indem man z. B. im Training Bewegungseinschränkungen gezielt bearbeitet. Wie das geht, schildere ich im Folgenden.
Fehler durch offene Kreisläufe
Diese Kategorie umfasst die meisten ernsthaften Schäden im Bereich Sport und Fitness. Verletzungen wie Risse des vorderen Kreuzbands, Bandscheibenvorfälle, gerissene Bizeps- oder Achillessehnen sowie Risse in den Gelenkpfannen von Hüfte und Schulter gehören dazu. Unser Bewegungsapparat ist ein mechanisches System, das sich aus »feuchtem« Gewebe zusammensetzt. Er funktioniert am besten, wenn er Kraft aus optimalen – weil dann stabilen – Körperhaltungen heraus einsetzt.
Den meisten ist der Grundsatz bekannt, dass funktionelle Bewegung in einer Welle von Kontraktionen vom Körperzentrum zu den Extremitäten und vom Rumpf zur Peripherie stattfindet. Dieses Prinzip ist ein gutes Beispiel dafür, dass der Körper am besten funktioniert, wenn alle Kreisläufe geschlossen sind – rückenstabil, hüftstabil, schulterstabil und stabil im Sprunggelenk –, bevor die Bewegung eingeleitet wird. Das Problem ist, dass der Körper immer in der Lage ist, Kraft zu entwickeln, selbst in schlechten Körperstellungen. Das ist vergleichbar mit einer Autofahrt ohne Öl oder mit einem platten Reifen. Man kann es schon machen, aber es wird teuer. Der Körper wird auf alle Fälle ein Stabilisationssystem zweiter Ordnung aufbauen – er kompensiert – mit rundem Rücken, nach innen rotierten Schultern, kollabierten Knien und Sprunggelenken etc. Das ist es, was ich mit »offenem Kreislauf« und »Bewegungskompensation« meine: Wenn Sie in eine schlechte Haltung ausgleichen, weil es Ihnen an Bewegungsumfang oder motorischer Kontrolle mangelt, gehen Stabilität und darüber hinaus Kraft und Stärke auf der Seite des offenen Kreislaufs verloren. Falls Sie den Rücken rund machen, um etwas vom Boden aufzuheben, dann ist der runde Rücken der offene Kreislauf.
Ein Beispiel: Kinder mit Cerebralparese leiden unter einer Störung der willkürlichen Motorik. Sie sind kognitiv in keiner Weise eingeschränkt, aber ihre Bewegungen
werden vom Gehirn nicht ausreichend gesteuert. Trotzdem sind diese Kinder mobil. Dabei kollabieren Fußgewölbe und Sprunggelenk, die Knie rotieren nach innen in eine X-Bein-Stellung, die Hüfte rotiert nach innen, und die Lendenwirbelsäule wird überstreckt. Diese Kinder können also ihren Bewegungsapparat in ein Stabilisations-system zweiter Ordnung versetzen, das für ihre Zwecke gut funktioniert – bis es sich abnutzt.
Vergleichbare Körperstellungen kann man beobachten, wenn eine Kniebeuge mit Gewicht vor der Brust (Front Squat) buchstäblich schiefgeht. Wenn man versäumt oder nicht in der Lage ist, aus einer stabilen Haltung heraus Kraft zu entwickeln, wird der Körper eine einnehmen. Es wäre theoretisch nicht nötig, das Sprunggelenk oder die Hüfte anzusteuern, das übernimmt der Körper, indem er die Füße nach außen dreht. Es wäre nicht nötig, den Bewegungsumfang der Hüftrückseite wiederherzustellen, der Körper überstreckt die Lendenwirbelsäule.
Fehler durch offene Kreisläufe:
• runder Rücken
• nach vorne gerollte Schultern
• überstreckte Lendenwirbelsäule
• nach außen gedrehte Füße
• nach oben oder unten geneigter Kopf
• ausgestellte Ellenbogen
Das Problem liegt darin, dass wir Funktionalität mit Physiologie verwechseln. Körperhaltungen, die funktionell sein können – wie das Landen auf »Entenfüßen« – werden schnell zur Belastung, wenn Geschwindigkeit, Gewicht oder Ermüdung ins Spiel kommen. Klar, Sie können sehr oft schwere Gewichte mit rundem Rücken (Stabilitätsstandard der Wirbelsäule) heben, aber ab einem bestimmten Punkt macht der Bewegungsapparat das nicht mehr mit, und Sie verletzen sich. Dann findet das großzügige Überschreiten der Zulassungsgrenzen ein jähes, meist schmerzhaftes Ende. Die Konsequenzen dieser Erkenntnis sind ganz wunderbar: Die meisten Kreuzbandrisse dieser Welt sind … vermeidbar, vor allem bei Kindern. Die meisten Schulterluxationen sind … vermeidbar. Die meisten Bandscheibenvorfälle sind … vermeidbar. Denken Sie daran: Der Bewegungsapparat ist auf eine Lebenszeit von 110 Jahren angelegt. Sie müssen nur die stabilen, gewebeschonenden, verletzungs-vermeidenden Haltungen kennen – und sie natürlich anwenden. Immer! Aber nicht nur das. Es gilt darüber hinaus, weitere Elemente Ihres Lebensstils anzupassen. Ich spreche von ausreichender Flüssigkeitszufuhr, der Qualität der Nahrung, Schlaf und anderen Faktoren, die im schlechten Fall dem Bewegungsapparat schaden und Leistung beeinträchtigen können.
Vermeide Fehler
Ich werde Ihnen die sichersten und effektivsten Körperhaltungen vermitteln, mit denen Sie Ihre Leistung optimieren und Dysfunktionen und Schmerzen in den Griff
bekommen. Bevor wir aber zu Diagnose, Bewegung und Mobilisation kommen, will ich Ihnen nahebringen, dass Ihre Lebensweise einen direkten Einfluss darauf hat,
wie gut oder wie schlecht Sie sich bewegen. Gehen wir nun darauf ein und legen die Grundlage für Ihren Erfolg! Es wird nicht funktionieren, wenn wir uns einerseits dem süßen Leben hingeben und andererseits von unserem Körper erwarten, dass er die Konsequenzen puffert und auf das Training mit optimaler Leistungsentwicklung reagiert. Es kommt natürlich vor, dass man zu wenig trinkt und schläft, sich schlecht ernährt und trotz zusätzlichem Stress das Ergebnis am Bizepstrainer in Ordnung ist. Trotzdem kann jeder gut trainierte Athlet eine direkte Verbindung zwischen den oben genannten Fehlern und der Möglichkeit des Leistungsverlusts herstellen. Schon eine zu geringe Flüssigkeitszufuhr von nur zwei Prozent kann den Verlust an maximaler Sauerstoffaufnahme von fünf bis zehn Prozent zur Folge haben. Weniger als sechs Stunden Schlaf? Begrüßen Sie ein erhöhtes Blutzuckerniveau (Vorstadium der Diabetes)! Stressgeplagt? Vergessen Sie eine gesunde Anpassungsreaktion auf die schwierige Trainingseinheit! Sie werden am Boden sein.
Die weniger sichtbaren Auswirkungen leichtfertiger Lebensweise schlagen sich im Bewegungsapparat nieder. Bindegewebe, Menisken, Bandscheiben, Faszien, Gelenk-knorpel, Sehnen und Bänder leiden unter den negativen Effekten eines ungesunden Lebensstils. Wie man die eigene Lebensweise im Sinne sportlichen Erfolgs verändert
und optimiert, ist zwar nicht Thema dieses Buches, ich wäre aber nachlässig, wenn ich nicht erwähnen würde, dass wir immer wieder erhebliche Veränderungen in der
Mobilität (und damit in den Körperhaltungen) von Sportlern beobachten, die beginnen, bewusst sportgerecht zu leben.
Grundsätzliche Fehler sind:
• fehlendes Aufwärmen und Abwärmen
• Schlafmangel
• zu geringe Flüssigkeitszufuhr
• schlechte Ernährung
• zu langes Sitzen
• Stress
Es ist schon beeindruckend, wenn man sich betrachtet, wie kompliziert die Bewegungen des Menschen sein können und wie viele unterschiedliche Aspekte des Lebens
einen Einfluss auf Mechanik und Bewegungsapparat haben. Aber Grundlage der wunderbaren Methode ist eine einfache Wahrheit: Unser Körper verfügt über erstaunliche Fähigkeiten im Umgang mit eingeschränkter Biomechanik. Noch einmal: Ihr Körper kann jede Menge Kraft entfalten und hält viele »Strafen« aus, die Sie ihm durch schlechte Technik und Einschränkungen des Bewegungsapparats zumuten. Sie können schnell rennen, schwer heben, den ganzen Tag in schlechter Haltung sitzen und trotzdem passable Leistungen bringen. Aber irgendwann teilt Ihnen Ihr Körper mit, dass Sie etwas falsch machen. Und er flüstert es Ihnen nicht nur ins Ohr, sondern rammt Ihnen die Botschaft tief in den Schlund, indem er Ihnen die Fähigkeit, Kraft zu entwickeln, nimmt und dem Schmerz Tür und Tor öffnet. Falls Sie in diesem Moment unter Schmerzen leiden, warten Sie nicht bis morgen, bis Sie anfangen, sich richtig zu bewegen. Das Problem kann mit großer Wahrscheinlichkeit behoben werden. Und wenn es Ihnen gut geht, warten Sie erst recht nicht, bis Sie sich wegen Schmerzen oder Verletzung mehr um Ihren Körper kümmern müssen. Der richtige Zeitpunkt, um anzufangen, ist jetzt!
Euer Dr. Kelly Starrett