Wie merkst du, dass du ein Problem mit dem Bewegungsapparat hast?
Genauer gesagt: Wie merkst du, dass du etwas falsch machst? Normalerweise orientiert sich ein Sportler an typischen Hinweisen wie Schmerz, Schwellung, verringertem Bewegungsumfang, Kraftverlust oder Taubheit und Kribbeln. Das Selbstgespräch beginnt ungefähr so: »Als ich neulich gelaufen bin, taten mir die Knie weh. Ich frage mich, was da los war.« Doch in diesem typischen Gedanken stecken schon einige Fehler.
Zunächst einmal sind Schmerzen und andere Verletzungssymptome verzögert einsetzende Indikatoren. Eine Schwellung etwa kann eine Überlastung des Gewebes anzeigen oder durch eine Zerrung bedingt sein. Sie tritt aber immer erst danach auf – der Schaden ist bereits eingetreten. Es wäre also sinnvoll, über ein Diagnosewerkzeug zu verfügen, das die Fehlfunktion deutlich macht und Ihnen hilft zu erkennen, dass etwas falsch läuft – und zwar bevor ein Schaden entsteht.
Stell dir vor, du müsstest den Motor deines Autos in die Luft sprengen, um herauszufinden, dass der Ölstand zu niedrig ist. Oder einem Soldaten muss im Gefecht die Waffe klemmen, bevor ihm klar wird, dass er sie besser schon vorher pflegt. Das wäre lächerlich, nicht wahr? Doch so arbeitet im Großen und Ganzen die moderne Sportmedizin. Wir warten, bis etwas gezerrt, gerissen oder gebrochen ist, bevor wir Ärzte und Physiotherapeuten hinzuziehen, damit sie es reparieren. Immerhin: Diese Einstellung hält Unfallchirurgen auf Trab.
Was wird dein Arzt denken, wenn du – nach Jahren schlechter Bewegungsausführung und dadurch verhärtetem Gewebe – mit einem Knorpelschaden am Knie in seine Praxis kommst? Das Knie sollte 110 Jahre halten. Du hast es in 20 Jahren geschafft, es zu ruinieren (wahre Geschichte). Oder stell dir vor, du wartest, bis du unter unerträglichen Rückenschmerzen leidest und dein Bein taub wird, bevor du herausfindest, dass du als junger Soldat den 50-Kilogramm-Rucksack falsch getragen hast (wahre Geschichte).
Unser Körper ist zwar dafür gebaut, Bewegungsabläufe millionenfach zu wiederholen. Aber jedes Mal, wenn du in schlechter Haltung die Knie beugst, dich bückst oder gehst, schlägst du eine immer tiefer werdende Kerbe in diese Bewegungsabläufe oder besser gesagt in die daran beteiligten Strukturen des Bewegungsapparats. Wenn es einmal so weit gekommen ist, dass dein Knorpel am Knie beschädigt, deine Bandscheibe vorgefallen oder die Knorpellippe der Hüftgelenkspfanne gerissen ist, dann sind dafür Millionen von Bewegungsabläufen nötig gewesen. Es handelt sich dabei aber nicht etwa um üblichen Verschleiß, sondern dein Körper musste sich wieder und wieder die Wirkungen deiner schlechten Haltungen und Bewegungen gefallen lassen. Jeder Mensch ist unterschiedlich – genetische Veranlagung, Trainingsumfang und andere Faktoren üben einen erheblichen Einfluss aus –, aber wenn du lernst, dich in der Art zu bewegen, für die dein Körper ausgelegt ist, minimierst die Belastung des Bewegungsapparats.
Der Mensch ist zum Überleben geschaffen
Unser zentrales Nervensystem kontrolliert die Empfindungs- und Bewegungsinformationen des ganzen Körpers. Es ist kein Zufall, dass Nervenbahnen für Schmerz- und Bewegungsempfinden im Stammhirn identisch sind. Wenn ein Kind sich den Finger anschlägt, beginnt es erst einmal, sich zu bewegen.
Warum? Weil so das Schmerzsignal durch das Bewegungssignal überlagert wird – eine sinnvolle Einrichtung, die Menschen in Bewegung und damit am (Über-)Leben hält. Schmerzsignale werden vom Gehirn zu Hintergrundgeräuschen herabgestuft und erst in Ruhe mit aller Deutlichkeit wahrgenommen. Anders gesagt: Bewegung überschreibt Schmerz – man kann weitertrainieren. Kein Wunder also, dass Ihre Schulter anfängt zu pochen, wenn du dich zum Schlafen ins Bett legst. Dein Gehirn empfängt nun keine Bewegungssignale mehr, sondern nur noch die deiner Schmerzen, und zwar in voller Stärke. Stell dir vor, du trainierst wie ein Leistungssportler. Stunden um Stunden vergehen, während derer du in Training und Wettkampf die Schmerzsignale ignorierst, die dein Körper sendet.
Die Chance, dass du eine (beginnende) Gewebeverletzung aus dem allgemeinen Bewegungs- und Schmerzrauschen »heraushörst«, ist recht gering. Schmerz tritt während Phasen großer körperlicher Anforderungen und Belastungen in den Hintergrund. Bringt man noch zusätzlich Stress in die Gleichung ein, ist die Grundlage für ein Desaster gelegt. Kampfsportarten zeichnen sich dadurch aus, dass die beiden Gegner so gut wie nie unmittelbaren Schmerz empfinden. Professionelle Kämpfer berichten von gewaltigen Einschlägen und Erschütterungen, aber nicht von spontanen Schmerzen. Menschen können den Schlag einstecken, weiterkämpfen und sich den Konsequenzen später stellen. Und ein Kampf hat immer Konsequenzen.
Während des Trainings passiert Ähnliches wie in einem Kampf
Du kannst dir sicher sein, dass du es nicht unmittelbar spürst, wenn du die richtige Haltung verlierst und so deinen Bewegungsapparat beeinträchtigst – beispielsweise wenn du während des Kreuzhebens den Rücken rund machst. Aber so wie den Kämpfer der Schmerz einholt, wenn nach und nach das Adrenalin aus der Blutbahn verschwindet, wird sich dein Rücken nach einiger Zeit womöglich mit Schmerzen melden, wenn er in einer Trainingseinheit 20-mal Kreuzheben mit rundem Rücken hinter sich bringen musste. Man könnte die Regel aufstellen: Je besser ein Kämpfer ist, umso weniger Schmerzen muss er erleiden. Oder: Je besser du die Technik des Kreuzhebens beherrschst, desto besser ist es für deinen Rücken.
Unsere Einstellung, die das Erfüllen einer Aufgabe über alles setzt, ist ein weiteres Problem. Es ist eine Art »Eins-oder-Null«-, »Aufgabe-erfüllt-oder-nicht«-, »Gewicht-zur-Hochstrecke-gebracht-oder-nicht«-, »Distanz-geschwommen-oder-nicht«-Mentalität. Als würde man sagen: »Ich habe beim Kreuzheben 250 Kilogramm geschafft, mir dabei aber einen Bandscheibenvorfall geholt.« Oder: »Ich bin den Marathon gelaufen, habe aber jetzt einen Knorpelschaden im Knie.« Übertragen auf den Alltag: »Ich habe Toast gemacht und dabei das Haus abgebrannt.«
Wer sich im Zielbereich einer Marathonlauf-Veranstaltung aufhält, stellt fest, dass etliche der Finisher offensichtlich leiden. Sie sehen aus, als seien sie vom Auto überfahren oder von einer schweren Krankheit niedergestreckt worden. »Ja«, sagst du, »aber sie haben das Ziel erreicht.« Klar, vom Erfüllen einer Aufgabe besessen zu sein, hat seine Berechtigung – in einem olympischen Finale, einer Weltmeisterschaft oder dem Super Bowl. Doch selbst dann ist der Preis womöglich hoch. Und wenn man den unbedingten Willen, eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen, mit dem reduzierten Schmerzempfinden in Bewegung verbindet, versteht man, wie sich Sportler in so tiefes Verderben bringen können.
Viele Sportler leben Jahrzehnte über ihre Verhältnisse, verschwenden ihre genetischen Anlagen, trainieren tagtäglich mit Schmerzen, bis eines Tages das Spiel aus ist. Man kann nur begrenzte Zeit mit rundem Rücken Gewichte heben und sich achtlos im Sessel fläzen. Wie also hält man Leute davon ab, sich selbst zu schaden? Man braucht maßgebliche Indikatoren, verlässliche Diagnosewerkzeuge, mit denen man mess- und wiederholbar mögliche Probleme erkennen kann, bevor sie zu einer echten Störung werden. Die gute Nachricht: Es gibt diese Informationen bereits. Man nennt sie Körperhaltung.
Es geht um leistung
Die Bewegung des Menschen und im weiteren Sinne die Körperhaltungen während der Bewegungen sind eine Kombination aus Biomechanik und Bewegungstechnik. Indem wir Sportler viele Bewegungen ausführen lassen und dabei die Körperkontrolle über den ganzen Bewegungsumfang verlangen, sind wir in der Lage, Defizite in ihrer motorischen Kontrolle und Mobilität aufzudecken. Wir machen das Unsichtbare sichtbar.
Das bedeutet: Während wir trainieren, um die Beine zu kräftigen oder die Lungen zu vergrößern, denken wir gleichzeitig schon an Diagnose. Das Kreuzheben ist dann nicht mehr nur eine Übung, während der etwas Schweres vom Boden gehoben wird. Die Frage lautet vielmehr: Kann der Sportler mit stabiler Wirbelsäule und unter Ausnutzung des vollen Bewegungsumfangs seiner Körperrückseite etwas aufheben und dabei unter Stress effizient atmen? Wir können darauf verzichten, eine vollständig neue Reihe von Tests mit speziellen Diagnosebewegungen zu entwickeln, um zu verstehen, was passiert, wenn jemand etwas vom Boden aufhebt. Stattdessen sehen und verstehen wir, was während der Bewegung, die der Sportler zeigt, abläuft. Das bedeutet, ein Sportler muss nicht nur verstehen, warum er eine Bewegung absolviert, sondern er muss auch verinnerlichen, wie er sie korrekt ausführt.
Das Training als Diagnosewerkzeug einzusetzen ist aus mehreren Gründen sinnvoll und effizient. Die systematische und effektive Suche nach Bewegungsproblemen von Sportlern und deren Beurteilung kann im besten Fall ein außerordentlicher Antrieb sein – im schlimmsten Fall aber auch gründlich danebengehen. Grundsätzlich gilt: Alles, was uns hilft, besser zu verstehen, was unter der Oberfläche passiert, ist willkommen. Der Schlüssel: Jedes gute Instrument zur Beurteilung – sogar eines, das nicht auf der tatsächlichen Bewegung gründet – zeichnet sich dadurch aus, dass es leicht skalierbar ist, damit die Bewegung oder die Übung auf so gut wie alle Sportler angewendet werden kann. Es muss zeitgemäß sein und die Aspekte ansprechen, mit denen der Trainer sich an diesem Tag befasst. Schließlich muss es Veränderungen erfassen, die sowohl der Sportler als auch der Trainer beobachten, messen und wiederholen kann. Mit der Zeit ermöglicht die tägliche Kombination von Training und Beurteilung dem Trainer und dem Sportler, etwaige Probleme systematisch zu erkennen.
Man muss sich immer vor Augen halten, dass menschliche Bewegung komplex und differenziert ist. Wenn man die Diagnose mit dem Training verbindet, bleibt sowieso kein Stein auf dem anderen. Allerdings können wir nicht jedes Bewegungs- oder Energiesystem eines Sportlers in einer Einheit trainieren. Genauso wenig ist es nötig, jede Schwäche eines Athleten an einem einzigen Tag zu erkennen und zu behandeln. Es ist vielmehr ein ständiger Prozess des Erkennens und Beseitigens von Problemen, der im Grunde nie endet. Doch nur so werden wir zu besseren Athleten und Sportlern, die im Alltag und Beruf von optimaler Leistungsfähigkeit profitieren.
Euer Dr. Kelly Starrett
Erlebe Dr. Kelly Starrett live auf dem Faszien & Mobility Summit in Köln vom 04.-06. März 2016