Das Spüren und Wahrnehmen von Bewegungen in unserem Körper (und nicht nur um ihn herum) schult das Körperselbstbild. Besonders im Hinblick auf Bewegungs-mangel und daraus resultierende Beschwerden sowie psychosomatische Erkrankungen spielt dies eine bedeutende Rolle.
Propriozeption – unser Körpersinn
Vielleicht hast du schon mal von dem Begriff »Propriozeption« gehört. »Proprius« steht der Wortherkunft nach für »eigen« und »recipere« steht für »wahrnehmen«. Propriozeption steht also für die Eigenwahrnehmung. Unsere propriozeptiven Fähigkeiten sorgen dafür, dass wir unseren Körper und dessen Position im Raum wahrnehmen. Sie sind also für unser Körpergefühl zuständig. Das Wahrnehmen funktioniert über Rezeptoren. Das kennst du auch von den anderen fünf Sinnen. So haben wir in den Augen zum Beispiel spezielle Sinnesrezeptoren, die es uns ermöglichen, Farben zu sehen. Wenn du auf eine heiße Herdplatte greifst, nehmen das die Thermo- und Schmerzrezeptoren an deiner Haut wahr und schicken sofort ein Signal ans Gehirn: »Achtung, heiß, lieber schnell die Hand wegnehmen.« Daraufhin schickt das Gehirn dann ein Signal an die Muskulatur der Hand.
Faszien – unser sechster Sinn
Im Vergleich zur Muskulatur besitzt das Fasziennetz etwa sechsmal mehr sensible Nervenendigungen. Wenn man alle Rezeptoren mit einbezieht, ist die Anzahl der Faszienrezeptoren größer als die der Retina, unserer Netzhaut, die bisher als das sensibelste Organ galt. Faszien sind also weit mehr als Verbindungsstücke und Transportmittel. Sie sind unser wichtigstes Wahrnehmungsorgan. Das Fasziennetz besitzt völlig unterschiedliche Rezeptortypen, die auf unterschiedliche Reize reagieren. Diese Vielfalt macht deutlich, warum im Faszien-Yoga viele verschiedene Übungstechniken angewandt werden. Um alle Rezeptoren einzubeziehen, braucht es abwechslungsreiche und kreative Bewegungserfahrungen.
Atmen ist Faszientraining!
Auch das Atmen ist Faszientraining – daher ist die Atemschulung im Faszien-Yoga ein zentrales Element. Das Zwerchfell ist der »Motor« unserer Atmung, denn diese Muskel-Sehnen-Platte trennt den Bauch- und Brustraum voneinander. Durch das rhythmische An- und Entspannen dieser »Myofaszie« (Muskelfaszie) entsteht die Ein- und Ausatmung (Abb. 1).
Abb. 1
Einatmung: Das Zwerchfell spannt sich an und senkt sich ab und die äußeren Zwischenrippenmuskeln werden aktiviert. Dadurch hebt sich der Brustkorb nach oben und wird weit. Das Brustbein hebt sich und die Bauchmuskeln wölben sich nach außen. Die Lungen dehnen sich aus.
Ausatmung: Das Zwerchfell entspannt sich und wölbt sich nach oben in die Brusthöhle. Die äußeren Zwischenrippenmuskeln entspannen sich, dadurch senkt sich der Brustkorb ab. Die Bauchmuskeln sinken nach innen und die Lungen zieht sich elastisch zusammen.
Dieser rhythmische Wechsel zwischen Aufspannen und Zusammenziehen verändert kontinuierlich den Druck auf die Faszien des Atemapparats – und darüber hinaus, denn wie du weisst: Alles bildet eine Einheit. Ziel der folgenden Atemübungen ist es, sich auf dieses Auf- und Entspannen zu fokussieren und durch eine vertiefte Atmung die beteiligten Körperbereiche und Organe maximal zu bewegen.
Volle Yogaatmung – alle Atemräume kennenlernen
Mit der vollen Yogaatmung erkundest du alle drei Atemräume: Bauch, Brustkorb und Schlüsselbeine. Die Sauerstoffaufnahme der Zellen wird sich deutlich erhöhen,
da du deine Lungenkapazität vollständig ausschöpfst. Mit der Bauchatmung füllst du zwar schon den größten Teil der Lungen, aber beim Atmen bis in die Schlüsselbeine erreichst du auch noch den kleinen zusätzlichen Teil der Lungenspitzen. Dein fasziales Atemnetzwerk wird durch die volle Yogaatmung komplett aufgespannt und deine Lungen werden somit einmal komplett »durchgelüftet«. Ein weiterer positiver Nebeneffekt, der durch das Einbeziehen des Brustkorbs und der Schlüsselbeine entsteht, ist die Aufrichtung des Körpers durch das Strecken der Wirbelsäule.
Bei körperlicher Anstrengung vertieft sich unsere Atmung von alleine, da unsere Muskulatur für das Bewältigen der Aufgabe vermehrt Sauerstoff benötigt. Diese Mechanismen sind durch unser Nervensystem gesteuert. Doch wie oft arbeiten wir heute tatsächlich körperlich? Sitzende Tätigkeiten, ob im Beruf oder privat, nehmen deutlich zu. Die Atmung wird dadurch immer flacher und die Sauerstoffversorgung von Körper und Geist (das Gehirn hat den höchsten Sauerstoffverbrauch) nimmt deutlich ab. Die volle Yogaatmung ist im Faszien-Yoga nicht nur ein Werkzeug, um die faszialen Atemstrukturen aufzuspannen. Du wirst dich darüber hinaus leistungsfähiger und erfrischt fühlen – und das nicht nur körperlich, sondern auch geistig.
So funktioniert’s: Übe zunächst, den Atem gezielt in einen der Atemräume zu lenken. Anschließend verbinde alle Atemräume miteinander. Im Folgenden ist die volle Yogaatmung im Liegen beschrieben. Du kannst sie aber auch sitzend auf einem Meditationskissen oder einem Stuhl oder stehend durchführen.
Tipp: Schließe die Augen, so kannst du besser wahrnehmen und spüren und deine Sinne konzentrieren sich voll und ganz auf das, was in deinem Körper geschieht.
Bauchatmung: Komme in eine für dich angenehme Rückenlageund lege beide Hände übereinander auf deinen Bauchnabel. Nimm die Hände wahr und richte deine ganze Aufmerksamkeit auf den Bereich um deinen Bauchnabel (Abb. 1). Beginnen nach und nach, deine Atmung auf den Bauchraum zu fokussieren. Atme durch die Nase ein und schicke deinen Atem zu den Händen. Das Ausatmen durch die Nase kommt wie von allein, dabei lasse den Atem sanft wieder herausfließen. Mit dem Einatmen spürst du mit den Händen, wie sich die Bauchdecke hebt und der Bauch sich nach oben wölbt. Vielleicht spürst du auch, wie sich das Zwerchfell nach unten absenkt und die unteren Lungenflügel mit Luft gefüllt werden. Beim Ausatmen löst sich die Spannung wieder. Wiederhole die Bauchatmung für ein bis zwei Minuten.
Brustkorbatmung: Lege die Hände seitlich auf die Rippenbögen, sodass die Fingerspitzen zueinander zeigen und sich berühren (Abb. 2). Fokussiere dich voll und ganz auf den Bereich unter den Händen. Atme nun gezielt in den Brustkorb und weniger in den Bauch. Einatmend dehnt sich der Brustkorb, die Rippen werden auseinander-geschoben und der mittlere Teil der Lunge kann sich mit Sauerstoff füllen. Nimm wahr, wie sich einatmend die Fingerspitzen voneinander wegbewegen und mit dem Ausatmen wieder zusammenkommen. Nimm die Unterschiede zur Bauchatmung wahr! Sind die Atemzüge bei der Brustkorbatmung tiefer und flacher als bei der Bauchatmung? Atmest du leichter in den Bauch oder in den Brustkorb? Wiederhole die Brustkorbatmung für ein bis zwei Minuten.
Abb. 2
Schlüsselbeinatmung: Lege die Hände flach auf deinen Brustkorb, sodass die Fingerspitzen die Schlüsselbeine berühren (Abb. 3). Lenke das ganze Bewusstsein auf den Bereich unter den Händen. Atme gezielt in den Bereich der Schlüsselbeine ein. Beim Einatmen heben sich die Schlüsselbeine etwas nach oben an. Lass die Schultern entspannt liegen und versuche, so wenig wie möglich in den Bauch und Brustkorb zu atmen. Wiederhole die Atmung für ein bis zwei Minuten.
Abb. 3
Volle Yogaatmung: Die drei bekannten Atemräume werden nun in einem Atemzug miteinander verbunden. Einatmend hebt sich zuerst der Bauch, dann der Brustkorb und anschließend die Schlüsselbeine. Das Ausatmen geschieht wie von alleine. Zuerst senkt sich der Bauch, dann ziehen sich die Rippen wieder zusammen und die Schlüsselbeine senken sich wieder etwas ab. Nach dem Ausatmen gehst du wieder zum Einatmen über, sodass die Atmung wie eine Wellenbewegung ununterbrochen durch den ganzen Körper fließt (Abb. 4).
Abb. 4
Faszien-Tipp: Den Körper mit Atem füllen, damit der gesamte Atemraum mit Luft gefüllt ist. Dieser Moment der absoluten Fülle spannt auch das Fasziennetz der Atemorgane und -muskulatur in alle Richtungen auf.
Eure Katharina Brinkmann