Die Kniebeuge (Squat) war lange Zeit die wichtigste und zugleich am meisten missverstandene Übung im Trainingsrepertoire. Über den vollständigen Bewegungsumfang ausgeführt, ist diese Übung nützlicher als jede andere Bewegung, die man im Kraftraum machen kann, und damit unsere stärkste Waffe im Aufbau von Maximalkraft, Schnellkraft und Muskelmasse.
Der Squat ist praktisch die einzige Übung im gesamten Repertoire menschlicher Bewegungen mit Zusatzlast, die ein direktes Training des sogenannten Hip Drive erlaubt; ein komplexes Bewegungsmuster, bei dem die hintere Kette aktiv rekrutiert wird. Der Begriff hintere Kette bezieht sich auf die Muskeln, die eine Hüftextension bewirken – das Strecken des Hüftgelenks aus der flektierten (gebeugten) Position heraus, also aus der unteren Position der Kniebeuge. Diese Muskelgruppen, die auch als Hüftextensoren bezeichnet werden, sind die ischiocrurale Muskulatur, die Gesäßmuskeln und Adduktoren (an der Oberschenkelinnenseite). Weil diese wichtigen Muskeln am Springen, Ziehen, Drücken und anderen Bewegungen mitwirken, an denen der Unterkörper beteiligt ist, wollen wir, dass sie möglichst stark sind. Das erreicht man am besten durch Squats, denn wenn man diese richtig ausführt, muss man den Hip Drive nutzen, den man sich am besten als eine Art Hochschieben des Kreuzbeins vorstellt, also der Rückenpartie direkt über dem Gesäß. Immer wenn Sie diese Bewegung absolvieren, um sich aus der unteren Endposition einer Kniebeuge heraus in einen aufrechten Stand zu katapultieren, trainieren Sie die Muskeln der hinteren Kette.
Alle Varianten des Squat neigen dazu, Muskelkater im Quadrizeps zu verursachen – und zwar häufiger als in jedem anderen an der Übung beteiligten Muskel. Dieser Muskelkater entsteht, weil der Quadrizeps die einzige Muskelgruppe ist, die das Knie streckt, während sich die Hüftextensoren aus drei Muskelgruppen zusammensetzen (ischiocruraler Muskulatur, Gesäß und Adduktoren). Sie umfassen also mehr potenzielle Muskelmasse, auf die sich die Arbeit gleichmäßig verteilt – sofern sie richtig trainiert werden. Unter Berücksichtigung dieser anatomischen Ausgangslage sollten wir darauf achten, die Kniebeugen so zu machen, dass alle Muskeln, die an der Bewegung beteiligt sein können, auch maximal genutzt und somit gekräftigt werden. Wir brauchen also eine Technik, die die Muskeln auf der Körperrückseite einbezieht und sie dazu bringt, ihr Potenzial für die Entwicklung von Maximal- und Schnellkraft auszuschöpfen. Der Low-Bar Back Squat ist diese Technik.
Richtig ausgeführt ist der Squat die einzige Übung im Kraftraum, mit der man die Rekrutierung der gesamten hinteren Kette so trainiert, dass sie progressiv steigerbar ist. Deswegen ist die Kniebeuge nicht nur die beste Langhantelübung, die es gibt, sondern die beste Kraftübung überhaupt. Sie trainiert die hintere Muskelkette effektiver als jede andere Bewegung, weil nur beim Squat der Bewegungsumfang so groß ist, dass alle Muskeln der Kette gleichzeitig im Einsatz sind, und keine andere Bewegung trainiert diesen langen Bewegungsumfang auf dieselbe Weise, nämlich indem der konzentrischen oder verkürzenden Kontraktion eine exzentrische oder verlängernde Kontraktion vorausgeht, die einen Dehnungs-Verkürzungs-Zyklus oder Dehnreflex erzeugt.
Der Dehnungs-Verkürzungs-Zyklus der Kniebeuge ist aus drei Gründen wichtig:
- Der Dehnreflex speichert in den viskoelastischen Komponenten der Muskeln und Faszien Energie, die in der unteren Endposition für die Aufwärtsbewegung genutzt wird.
- Die Dehnung teilt dem neuromuskulären System mit, dass gleich eine Kontraktion folgt. Dieses Signal bewirkt, dass mehr kontraktile Einheiten effizienter feuern, wodurch man mehr Kraft erzeugen kann als ohne Dehnreflex.
- Weil diese Dehnung unter Last in der Absenkphase der Kniebeuge stattfindet (die alle Muskeln der hinteren Kette über den gesamten Bewegungsumfang nutzt), rekrutiert die anschließende Kontraktion wesentlich mehr motorische Einheiten als jede andere Übung.
Das herkömmliche Kreuzheben (Deadlift) zum Beispiel aktiviert die Hamstrings und das Gesäß, beansprucht die Adduktoren aber in wesentlich geringerem Ausmaß und beginnt mit einer konzentrischen Kontraktion, bei der die Hüften sich wesentlich weiter oben befinden als bei der tiefen Kniebeuge. Kein Federn, ein kürzerer Bewegungsumfang, aber trotzdem sehr anstrengend – aufgrund der vergleichsweise ineffizienten Ausgangsposition mit der auf dem Boden liegenden Hantel sogar anstrengender als der Squat – und dennoch ist der Deadlift für die allgemeine Kraftentwicklung nicht ganz so effektiv. Plyometrische Sprünge können tief genug sein und den erforderlichen Dehnreflex nutzen, der durch das Absinken entsteht, aber sie lassen sich nicht schrittweise steigern wie eine Langhantelübung; sie können für Anfänger eine hohe Belastung für die Füße und Knie darstellen, der Körper muss aber insgesamt weniger arbeiten, als wenn das gesamte Skelett das Gewicht einer Langhantel auf den Schultern trägt. Der Squat nutzt hingegen alle Muskeln der hinteren Kette, den vollen Bewegungsumfang von Hüften und Knien, hat den Dehnungs-Verkürzungs-Reflex in der Bewegung und kann von jedem ausgeführt werden, der sich auf einen Stuhl setzen kann, weil wir mit sehr leichten Hanteln anfangen, deren Gewicht wir in kleinen Schritten erhöhen können.
Der Begriff »hintere Kette« bezieht sich – wie der Name schon sagt – auf die anatomische Position der entsprechenden Muskeln. Er deutet auch auf die Art der Probleme hin, die die meisten Trainierenden haben, die versuchen, ihre Effizienz bei der Kniebeuge mit Langhantel zu verbessern. Wir Menschen sind Zweibeiner mit Greifhänden und einem gegenüberliegenden Daumen – eine Konfiguration, die unsere Wahrnehmung ebenso wie unsere Körperhaltung maßgeblich beeinflusst hat. Wir sind es gewohnt, Dinge mit unseren Händen zu tun und diese dabei im Blick zu haben, und daher sind uns auch vor allem die Dinge präsent, die man sichtbar mit den Händen berühren kann. Die Rückseite von Kopf, Rumpf und Beinen steht eher selten im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit, außer wir spüren dort Schmerzen, und selbst mit einem Spiegel kann man diese Partien kaum sehen. Die Körperbereiche, die man im Spiegel jedoch vergleichsweise gut sehen kann – Arme, Brust, Bauch, Quadrizeps und Waden (sofern Sie Shorts tragen) – trainieren die meisten von uns daher grundsätzlich lieber. Übungen für diese Körperbereiche lassen sich relativ leicht erlernen und umsetzen, weil wir dabei unsere Hände gut benutzen können, und als überaus »handfixierte« Lebewesen gefällt uns das eben.
Schwerer sind die Teile zu trainieren, die man nicht sehen kann. Von allen Muskeln trägt die hintere Kette am meisten zur Bewegung des Körpers bei, darüber hinaus ist sie auch die Quelle der Schnellkraft. Die richtige Nutzung der hinteren Kette ist daher am schwersten erlernbar. Das wäre leichter, wenn man keine Hände hätte: Wie würde man einen Tisch in die Höhe stemmen, wenn man ihn nicht greifen könnte? Man würde sich wahlweise unter ihn kauern und den oberen Rücken dafür benutzen oder in die Hocke gehen und die Hüften gegen die Unterseite der Tischplatte stemmen, oder man würde sich auf den Rücken legen und die Platte mit den Füßen wegdrücken, weil es ohne Hände gar nicht anders ginge. Aber weil man Hände hat, zieht man diese Möglichkeiten überhaupt nicht in Betracht. Die meisten Menschen ignorieren ihre hintere Kette – und so wird ihr korrekter Einsatz zu einer völlig neuen Erfahrung.
Sie werden feststellen, dass die hintere Kette sowie die Zugbewegung bei der Kniebeuge die größten Probleme darstellen, die größte Menge an Feedback durch Trainer und Trainingspartner erfordern. Dementsprechend wird dies auch der erste Aspekt der Technik sein, der nachlässt, wenn man von außen keine Rückmeldung erhält. Für Coaches ist die hintere Kette jener Teil der Muskulatur, der am schwersten zu verstehen, zu erklären und zu beeinflussen ist. Vom Standpunkt der sportlichen Leistungsfähigkeit aus betrachtet ist sie jedoch der wichtigste Aspekt der menschlichen Bewegung. Das Verständnis ihrer Wirkungs- und Funktionsweise macht nicht nur den Unterschied zwischen einem effektiven Coach und einem mehr oder weniger unbeteiligten Beobachter aus, sondern kann auch darüber entscheiden, ob sich ein Athlet effizient zu bewegen weiß oder sich kaum rühren kann.
Euer Mark Rippetoe
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