Dr. Kelly Starrett als Referent auf dem FT Summit in München vom 14.-17. Juni 2018 in München: erfahre hier mehr dazu!
Ich gehe jede Wette ein, dass du folgende Wünsche hegst: du willst dich effizient bewegen. Du willst mehr Kraft entwickeln und so viel Leistung wie möglich aus dir herausholen. Darüber hinaus willst du Schmerzen loswerden und Verletzungen vorbeugen. Damit dir das gelingt, musst du dich auf drei Bewegungsprinzipien konzentrieren: die Stabilisation der Midline, die Ein-Gelenk-Regel und die Gesetze des Drehmoments. Zunächst aber gilt es, zwei Fragen zu beantworten:
- Kannst du deine Wirbelsäule in einer stabilen Stellung verankern?
- Weisst du, wie du durch Hüfte und Schultern ein Drehmoment erzeugst?
Dies sind zwar einfache Konzepte, doch die Schwierigkeit liegt darin, sie in sicherer und kontrollierter Umgebung wie in einem Sportstudio so zu verinnerlichen, dass sie sich danach überall anwenden lassen, wo es zählt: im Spiel, beim Tanz, im Training. Wenn du solch ein spezielles Kraft- und Ausdauersystem lernst, eignest du dir obendrein eine universelle Sprache menschlicher Bewegung an. Das heißt, wenn du funktionelle Bewegungen mit vollem Bewegungsumfang beherrschst – Kniebeuge, Drücken, Ziehen etc. –, verfügst du über allgemeingültige, sichere und effektive Bewegungsmuster. Oder anders ausgedrückt: Wenn du die Prinzipien des korrekten Kreuzhebens verinnerlicht hast, bist du in der Lage, jeden Gegenstand sicher und effektiv vom Boden aufzuheben. Wenn du den Jerk mit einer Langhantel oder den Squat richtig ausführen kannst, weisst du, wie du mit aufrechtem Körper springen und wieder landen kannst– wie zum Blocken im Volleyball –, ohne deine Knie zu ruinieren. Wenn du deine Schultern während eines Klimmzugs stabilisieren kannst, gelingt dir das auch, wenn du eine Felswand hochkletterst.
Der Haken an der Geschichte: Funktionelle Bewegungen im Sportstudio ausführen zu können, bedeutet noch lange nicht, sie auch im Alltag umsetzen zu können. Wenn du im Studio einen Klimmzug beherrschst, heißt das nicht, dass du auch einen am Felsüberhang schaffst. Wenn du allerdings den Bewegungsablauf eines Klimmzugs verstehst, fällt dir dieser viel leichter, denn du weisst bereits, wie du ein Drehmoment erzeugst und den Rumpf stabilisierst. Sobald du also die Bewegungsprinzipien verinnerlicht hast und auf dieser Grundlage Bewegungsmuster entwickelst, kannst du in jeder Umgebung stabile und effiziente Haltungen herstellen. Egal, ob du surfst, tanzt oder Fußball spielst: du hast eine übertragbare Vorlage für Bewegungen, die sicher und effektiv ist.
Die Bewegungen des Menschen sind sehr komplex. Um allgemein anwendbare funktionelle Bewegungsmuster zu etablieren, brauchst du ein umfassendes Kraft- und Ausdauerkonzept, das sich auf alle Bewegungsformen übertragen lässt. Darüber hinaus musst du dysfunktionale Bewegungsmuster, instabile Haltungen und Einschränkungen des Bewegungsumfangs, die Leistung verhindern und Potenzial für Schmerzen und Verletzungen in sich tragen, erkennen und beseitigen. Die hier angesprochene Hierarchie der Bewegungen dient als Konzept, um Bewegungen einzuteilen und daraus Vorlagen abzuleiten. Diese werden wirksam für
• die Rehabilitation nach einer Operation oder Verletzung,
• das Akkumulieren von Bewegungsfertigkeiten,
• das Verständnis von Bewegungskomplexität,
• das Erkennen von Bewegungsfehlern,
• das Erkennen von Mobilitätseinschrän kungen.
Bewegungen sind komplex
Dein Gehirn ist auf Bewegung gepolt, nicht auf Muskulatur. Es denkt nicht »Quadrizeps« und auch nicht »hintere Oberschenkelmuskulatur«. Es denkt »Bewegung«. Trotzdem müssen richtige Bewegungen immer noch unterrichtet werden, denn selbst einfachste Bewegungsabläufe sind komplex. So lehren wir Sportlern Laufen, Kreuzheben und Kniebeuge mit richtiger Technik, obwohl Laufen, Hocken und etwas vom Boden Aufheben angeboren sind. Die Kunst dabei ist es, Bewegungen und Bewegungsfortschritte so zu überlagern, dass die Lernkurve möglichst steil ist, die Athletik rasch zunimmt und Schwächen schnellstmöglich abgestellt werden.
Als ich anfing, mir über die Optimierung von Bewegungen und deren Komplexität Gedanken zu machen, betrachtete ich alles durch die Rehabilitationsbrille. Ich fragte mich: »Wie stelle ich nach einer Operation oder Verletzung funktionelle Bewegungsmuster wieder her?« Genauer gesagt: Wie schichte ich Bewegungsfortschritte im Kraft- und Ausdauerkontext so übereinander, dass gesunde und übertragbare Bewegungsmuster entstehen? Ich ging so vor: Zuerst führte ich die drei Bewegungsprinzipien ein. Dann wendete ich sie auf grundlegende Übungen mit großem Bewegungsumfang an, wie beispielsweise Kniebeuge, Kreuzheben, Liegestütz, Klimmzug etc.
Wenn ein Sportler eine dieser Übungen gut beherrschte, begann ich, seine Stabilität auf die Probe zu stellen, indem ich zunächst das Gewicht und dann die Ausdauerleistung erhöhte, um zuletzt aufrechtere Körperpositionen zu verlangen. Wenn beispielsweise einem Athleten Back Squats (Kniebeuge mit der Langhantel hinter dem Kopf) gelangen, musste er die Hantel auf die Brust nehmen oder ein paar Mal um den Block laufen – und danach erneut eine Serie von Back Squats absolvieren.
Zuletzt stellte ich die motorische Kontrolle des Sportlers und seine Mobilität auf die Probe, und zwar indem ich eine Geschwindigkeitsaufgabe sowie komplexe Bewegungen wie Gewichtheben und Burpees (Hock-Streck-Sprünge) hinzunahm. Mir fiel auf, dass ich mit systematischem Aufeinanderschalten von Bewegungen nicht nur verletzte Athleten wiederaufbauen, sondern auf jeder Fähigkeitsstufe auch die Bewegungsqualität verbessern konnte, wenn ich methodisch vom Leichten zum Schweren und vom Einfachen zum Komplexen vorging. Gesunde Bewegungsmuster wurden etabliert, Bewegungsschwächen entdeckt und beseitigt.
Ich erläutere das an der Kniebeuge: du bringst einem Sportler den Squat bei und stellst fest, dass seine Knie auf dem Weg in die Endstellung nach innen sinken (Valgusstellung der Knie). Das zeigt an, dass er entweder die Technik der Kniebeuge – ein Drehmoment erzeugen, indem man die Füße in den Boden schraubt und die Knie nach außen führt – nicht kennt oder sie nicht ausführen kann, weil es ihm irgendwo an Bewegungsumfang mangelt. Man kann davon ausgehen, dass dieser Fehler erst recht während komplexerer Bewegungen und unter größerer Belastung auftritt: Wenn einem Sportler schon während einer Kniebeuge ohne Zusatzlasten die Knie nach innen sinken, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass dies auch während des Springens und Landens geschieht.
Bewegungsfehler und Mobilitätseinschränkungen sollten unter Bedingungen minimierter Verletzungsgefahr ermittelt werden. Für stete Fortschritte ist es unabdingbar, die motorischen Fertigkeiten und die Mobilität des Athleten immer wieder zu überprüfen und zu messen. Damit das gelingt, müssen sowohl der Trainer als auch der Sportler wissen, wie die Bewegung richtig absolviert wird und warum manche Bewegungen komplexer sind als andere. Man stelle sich vor, jemand würde in der Frühphase der Rehabilitation eines Kreuzbandrisses Reißen. Das wäre dumm, wenn nicht gar verrückt. Man würde auch niemandem das Reißen beibringen, ohne zuvor die Kniebeuge mit Gewicht über Kopf eingeführt zu haben.
Egal, ob du mit jemandem in der Reha arbeitest, einen Anfänger trainierst und seine Bewegungen verbesserst oder einen Spitzenathleten betreust: Die Hierarchie der Bewegungen ist universell einsetzbar, um einerseits systematisch Probleme der Bewegungskontrolle und des Bewegungsumfangs zu beleuchten und andererseits den Sportler Trainingsreizen auszusetzen, die seine Leistung verbessern und Schmerzen beseitigen. Ich habe auf der Grundlage von Stabilisation und Schnelligkeit Bewegungen in drei Kategorien eingeteilt. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die folgenden Bewegungen nur ein Bruchteil der Übungen sind, die du im Training einsetzen kannst und sollst. Die Grundlagen ermöglichen es dir, die Verbindung zwischen Bewegungsprinzipien und den Übungen und Trainingsinhalten, die im Sportstudio zur Anwendung kommen, herzustellen.
Bewegungen der Kategorie 1
Zu dieser Sorte Bewegungen gehören Kniebeuge, Drücken und Ziehen: Kniebeuge ohne Zusatzgewicht, Back Squat, Front Squat und Overhead Squat (Kniebeuge mit der Langhantel auf den Schultern hinter, vor und über dem Kopf), Liegestütz, Bankdrücken, Drücken über Kopf, Kreuzheben. Bewegungen dieser Kategorie werden relativ langsam ausgeführt, mit meist vollem Bewegungsumfang, und sind nahe an der Alltagsmotorik – wie beispielsweise etwas vom Boden aufheben. In Bewegungen der Kategorie 1 ist der Aufbau und Erhalt von Drehmoment über den gesamten Bewegungsumfang möglich. Kategorie-1-Bewegungen, vor allem Kniebeuge, Kreuzheben, Liegestütz und Frontdrücken, dienen zwei Hauptzwecken: du bist damit in der Lage, Schicht für Schicht optimale Bewegungsqualität in deiner Motorik zu etablieren. Die Bewegungen sind überdies erstklassige Diagnosewerkzeuge zur Bewertung von Bewegungstechnik und Mobilitätseinschränkungen. Allen diesen Übungen ist eines gemeinsam: du beginnst in einer Haltung mit hoher Stabilität (HHS) – also einer verankerten Neutralstellung, die maximales Drehmoment in Hüfte und/oder Schultern erlaubt – und behältst diese Stabilität über den ganzen Bewegungsumfang bei.
Nehmen wir die Kniebeuge als Beispiel: du beginnst in einer HHS (Ausgangsstellung), senkst den Körper ab und beendest die Bewegung in derselben HHS (Ausgangsstellung). Durch den Umstand, dass deine Füße während des vollständigen Ablaufs mit dem Boden verbunden sind, kannst du das Drehmoment über den gesamten Bewegungsumfang aufrechterhalten. Über das Drehmoment stehst du sozusagen ständig in Verbindung mit der Bewegung.
Bewegung der Kategorie 2
Auch die Bewegungen der Kategorie 2 führen von einer Haltung mit hoher Stabilität zu einer ebensolchen. Aber anstatt das Drehmoment über den ganzen Bewegungsumfang beizubehalten, fügst du in den Ablauf ein Schnelligkeitselement ein, wie Springen und Landen, Wall Ball, Snatch Balance, Laufen, Rudern etc.
Springen und wieder Landen ist ein perfektes Beispiel. Du startest in einer HHS, gibst die Verbindung (Drehmoment) im Moment des Absprungs auf und musst deine Wirbelsäule stabilisieren, die Füße in den Boden schrauben und die Knie nach außen führen, um wieder in HHS anzukommen. Du beginnst und endest in derselben Haltung, aber durch die Aufgabe des Drehmoments und Hinzunahme von Geschwindigkeit (Sprung) steigerst du die Anforderungen der Übung an Bewegungskontrolle und Mobilität. Du wirst feststellen, dass Kategorie-2-Bewegungen Schwächen viel eher offenbaren. Sportler können in Kategorie-1-Bewegungen Bewegungsschwächen und Mobilitätseinschränkungen immer noch verschleiern. Deshalb muss man ihre Bewegungskontrolle und ihren Bewegungsumfang ständig auf die Probe stellen. Gut möglich, dass man eine Kniebeuge beherrscht, aber wenn sie nach einem Niedersprung ausgeführt werden soll, bricht alles auseinander: Die Füße werden nach außen gedreht, die Sprunggelenke kollabieren, die Knie sinken nach innen, die Lendenwirbelsäule wird überstreckt. Um sich als Athlet zu verbessern, musst du hart an deinen Bewegungsschwächen arbeiten. Es ist nicht damit getan, sich schnell zu bewegen, schwer zu heben oder viele Wiederholungen zu absolvieren. Je sportlicher es wird, desto mehr musst du in der Lage sein, ohne Umschweife stabile und sichere Haltungen einzunehmen. Dein Bewegungsapparat funktioniert nur dann richtig, wenn er auch in Endstellungen stabil ist.
Bewegungen der Kategorie 3
Bewegungen der Kategorie 3 sind in großen Teilen den Bewegungsabläufen im Sport sehr ähnlich. Das bedeutet Richtungswechsel: vom Ziehen zum Drücken, Springen und in einer neuen Haltung landen etc. Die Definition für Kategorie-3-Bewegungen ist Start in einer Haltung, Aufgabe der Verbindung (Drehmoment) und Ankommen in einer völlig anderen Haltung. Der Athlet muss also in der Lage sein, Stabilität zu entwickeln, während er die Haltung und/oder die Richtung wechselt.
Eine der schwierigsten und eindeutig zur Kategorie 3 gehörenden Bewegungen ist der Snatch (Reißen). Man beginnt in einer Zughaltung, streckt dann die Hüfte vollständig, um sich anschließend mit den Armen über Kopf in die Endstellung der Kniebeuge abzusenken. Während sich die Hantelstange nach oben bewegt, gibt es, wenn du das Drehmoment zum Boden und zur Stange aufgibst, einen Moment der Schwerelosigkeit: Das ist die Übergangshaltung, in der die Verbindung »abreißt«. Am tiefsten Punkt der Kniebeuge mit dem Gewicht über Kopf erreichst du die HHS. Du bewegst dich aus einer Stellung, der Übergangshaltung (Zughaltung), trennst die Verbindung und kommst in einer ganz anderen Stellung an – der Kniebeuge mit Gewicht über Kopf oder HHS. Vergleichbar mit Kategorie-2-Bewegungen bricht bei vielen Sportlern die Haltung zusammen, wenn man sie mit diesen komplexen Übungen konfrontiert. Die einfache Ursache dafür ist, dass die Richtungsänderungen sehr schwierig zu bewältigen sind. Man kann Schwächen im Bewegungsmuster und den eingeschränkten Bewegungsumfang nicht mehr verbergen. Und genau das ist das Ziel. Wir erinnern uns: Um ständigen Fortschritt zu erzielen, ist es unabdingbar, alle Probleme mit Bewegungskontrolle und Mobilität zu erkennen, zu bearbeiten und zu lösen.
Fazit
Man muss Bewegungen der Kategorie 1 wie Kniebeuge, Kreuzheben und Bankdrücken absolvieren, um sich grundlegende Bewegungsprinzipien anzueignen. Aber zur weiteren Verbesserung der Athletik eines Sportlers und zum Überprüfen seiner Fähigkeiten der Stabilisation der Midline und des Entwickelns von Drehmoment, musst du auf Bewegungen der Kategorie 3 wie das Gewichtheben zurückgreifen.
Euer Dr. Kelly Starrett