Die Optimierung des Skischuhs
In den frühen 90er Jahren tüftelte der legendäre Abfahrtsski-Trainer Warren Witherell an einer optimalen Ausrichtung des Skischuhs für eine bessere Bodenhaftung. Sie sollte für schnellere Zeiten sorgen. Seiner Meinung nach sollte der Skischuh in der Bindung seitlich nach innen kippen, damit der Fahrer die Innenkante besser spüren und folglich mehr Druck aufbauen kann. Er setzte ein Metermaß zur Bestimmung der Beinlänge ein und Klebeband, mit dem er die Bindung fachgerecht mit mehreren Lagen präparierte. Das Ergebnis war verblüffend: Die Fahrer spürten die Innenkanten besser, konnten dadurch mehr Druck auf festem Schnee aufbauen und schneller wenden. Witherell hatte diese simple Form der Anpassung bereits an Weltcup-Fahrern ausprobiert. Er war überzeugt, dass die Leistung der Athleten bis dato nicht aufgrund mangelnder Technik oder Fahrvermögens limitiert blieben, sondern schlicht wegen dieser technischen Feinheit.
Witherell hat seine Methode in dem Buch, „The Athletic Skier“ veröffentlicht. Mittlerweile ist auch die Industrie auf den Wagen aufgesprungen und fertigt maßgerechte Skischuhe industriell an.
Individuell zugeschnittene Traingsprogramme
Viele Trainer haben inzwischen die Wichtigkeit solch minimaler Anpassungen des Materials erkannt, aber ebenso viele ignorieren noch immer diese Nische der Leistungsoptimierung. Stattdessen setzen diese nach wie vor nur auf optimale Körperhaltung, auf Beinsteuerung, perfekten Stockeinsatz oder richtiges Kanten. Sie setzen zwar neueste Übungsformen ein, um die Technik ihrer Sportler zu optimieren, doch wer im Spitzensport ein zentrales Element ignoriert, kann keine Höchstleistung erreichen. Wir sind der Meinung, dass man den Sportler zuerst auf seine physischen Grenzen beziehungsweise Schwächen testen muss. Erst wenn diese Faktoren bekannt sind, kann ein individuell zugeschnittenes Trainingsprogramm entwickelt werden.
In meiner Trainingsgruppe beobachtete ich lange Zeit Sportler, die immer wieder versuchten, ihre Schwächen auszumerzen, dabei aber schnell an ihre physischen Grenzen stießen. Als ich die Skischuhausrichtung nach Witherell einsetzte, gab es neue Erfolge.
Kombination aus Materialoptimierung, Körpergefühl und Fahrtechnik
Es dauerte nicht lange, und mir wurde klar, dass eine Kombination aus Materialoptimierung, Körpergefühl und Fahrtechnik zum Erfolg führen musste. Um Körpergefühl und Technik zu verbessern, ging ich zurück zu den Basics und ließ meine Sportler simple Kniebeugen, Ausfallschritte und einbeinige Halteübungen absolvieren – mit verblüffendem Ergebnis. Selbst auf ebenem Untergrund waren meine Sportler oft nicht in der Lage, saubere Kniebeugen oder seitliche Ausfallschritte zu absolvieren.
Da war der Zeitpunkt für mich gekommen, Hilfe von meinem Freund Darcy Norman, einem Athletic Performance Coach in Anspruch zu nehmen.
Ein Profi hat in der Regel ein gut geschultes Auge für kleinste Fehler im Bewegungsablauf und ineffiziente Bewegungen. Auch ich war bis dato der Meinung, dass meinem geschulten Auge nichts entgehen würde. Doch ich wurde eines Besseren belehrt. Ich hatte nämlich bislang funktionellen Bewegungstests im Trockenen nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt. Das sollte sich nun ändern. Zusammen mit meiner Skischuhausrichtung sollte Darcy’s Expertise meinen Sportlern nun zu noch besserer Leistungsfähigkeit verhelfen.
Einfache Bewegungsmuster – Sinn und Wichtigkeit im Skisport
Mir war klar, dass meine Athleten zunächst den finanziellen und zeitlichen Aufwand, der mit Privatstunden bei einem Athletik Coach verbunden ist, scheuen würden. Doch ich war sicher, dass sich ihre Einstellung schnell ändern würde, wenn sich erste Erfolge einstellten. Ich erklärte meinen Sportlern, dass es mehr Sinn mache, zuerst herauszufinden, ob sie überhaupt die physischen Voraussetzungen hatten, um eine optimale Technik zu adaptieren. Wenn dies nicht der Fall sein sollte, müssten wir mit gezielten Übungen die Voraussetzungen dafür schaffen.
Eine solche Bewegungsanalyse dauerte in der Regel nicht länger als eine Stunde und mittlerweile habe ich von Darcy so viel gelernt, dass ich die Tests auch ohne seine Hilfe ausführen kann. Einfache Bewegungsmuster offenbaren physische Stärken und Schwächen des Einzelnen und helfen mir, ein individuelles Trainingsprogramm für meine Sportler zu erarbeiten. Dieses beinhaltet Übungen zur Mobilität, Stabilität und Schnellkraft, die der Athlet alleine zu Hause trainieren kann.
Sehr bald wurde offenbar, welche Sportler ihre „Hausaufgaben“ regelmäßig erledigen. Denn diese setzen die Technikveränderungen im Schnee viel schneller und effektiver um. Leider musste ich häufig gegen einen gewissen Widerstand ankämpfen, weil Athleten nicht gerne ihre Trainingsroutine verändern. Ich versuche aber immer wieder, sie zu motivieren, zumindest eine kleine Auswahl an Übungen zu Hause zu machen, um ihr Körpergefühl zu verbessern.
Der Functional Movement Screen
Hier ein kurzer Überblick über die Methode, die Darcy und ich einsetzen, um physische Barrieren unserer Sportler zu messen:
Wir folgen dem Modell einer Bewegungspyramide. In Anlehnung an Gray Cook’s Konzept der Bewegung und Konditionierung aus „Athletic Body in Balance“, hat die Pyramide drei Ebenen, die die Dynamik von Ursache und Wirkung im Abfahrtsskifahren darstellen: Funktionelle Bewegungen, allgemeine Leistungsfähigkeit und sportartspezifische Leistungsfähigkeit.
Die unterste Ebene stellt die funktionellen Bewegungsmuster des Athleten dar, seine Mobilität und Stabilität. Es bildet die Grundlage für die nächsten beiden Ebenen. Wer Bewegungen nicht funktionell in kontrollierter Umgebung, das heißt im Trockenen, ausführen kann, der ist auch nicht in der Lage, diese Fertigkeiten im Schnee und in Bewegung abzurufen.
Die mittlere Ebene bestimmt die Bewegungseffizienz des Skifahrers. Wie effizient kann der Sportler Kraft produzieren beziehungsweise absorbieren? Wie gut kommt er mit schwierigem Gelände zurecht und wie viel Ausdauer hat er?
Die oberste Ebene bestimmt die technischen Fertigkeiten des Athleten. Die meisten Trainer konzentrieren sich vor allem auf diese oberste Ebene, doch wer auf höchstem Niveau Skifahren möchte, der braucht eine stabile Pyramide von Grund auf. Nur wer sich funktionell bewegen kann, der entwickelt optimale Technik und produziert größtmögliche Kraft auf Skiern. Sobald sich dysfunktionale Bewegungsmuster einschleichen, setzen sich diese Probleme nach oben hin fort.
Zunächst müssen unsere Sportler einen funktionellen Bewegungstest machen. Als Grundlage benutzen wir Gray Cook’s „Functional Movement Screen (FMS).
Als einfache Bewegungsmuster für den Test setzen wir Kniebeuge, seitlichen Ausfallschritt, einbeinige Kniebeuge, Rotations- und Stabilisationstests ein. Mit diesem Bewegungstest bestimmen wir die Fähigkeit des Einzelnen, funktionelle Bewegungen auf stabilem Untergrund und ohne störende Außeneinflüsse, wie schwieriges Gelände oder ungünstige Schneebedingungen, auszuführen. Dann schauen wir, wie effektiv der Sportler diese Bewegung in verschiedenen Bewegungsebenen ausführen kann und ob Asymmetrien vorhanden sind.
Stärken und Schwächen bestimmen und Schwächen gezielt abbauen
Der FMS hilft uns, Stärken und Schwächen des Einzelnen zu bestimmen und Schwächen mit spezifischen Übungen auszumerzen. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass die meisten Sportler in eine der folgenden Kategorien passen:
- Extrem kraftvolle Sportler, die mit schierer Kraft den Hang hinunterfahren.
- Sportler mit relativ wenig Kraft, die aber eine gute Bewegungsamplitude und Elastizität haben und diese Eigenschaften beim Skifahren einsetzen.
- Sportler, die sowohl Power als auch Mobilität und Stabilität haben, denen es aber noch an skispezifischen Fertigkeiten fehlt.
- Sportler, die sich in der Grauzone zwischen zwei Kategorien befinden.
Athleten in Kategorien einzuteilen, ermöglicht uns, Übungsreihen zu entwickeln, die die gesamte sportliche Leistungsfähigkeit des Sportlers adressieren und nicht nur seine skispezifischen Fertigkeiten. Mit diesen Trockenübungen lernt der Athlet, Bewegungen auch ohne Schnee zu Hause zu visualisieren und zu praktizieren. Im Spitzensport ist dies unerlässlich. Wir sind darauf angewiesen, Bewegungsmuster so oft wie möglich durchzuspielen, um höchste Leistungsfähigkeit zu erzielen. Wer über ein gutes Bewegungsgefühl verfügt und optimale Bewegungsausrichtung hat, der kann darüberhinaus sein Verletzungsrisiko mindern und bleibt damit dem Sport länger erhalten.
Und so können Trainer einfache Bewegungsmuster im Skisport einsetzen
Die einfache Kniebeuge
Wir haben herausgefunden, dass bereits bei der Ausführung einer einfachen Kniebeuge Athleten Bewegungsfehler machen. Die meisten haben nämlich Probleme, die Gelenke gleichmäßig zu beugen und die Bewegung aus der Hüfte heraus auszuführen. Es fehlt an Hüftmobilität. Um mangelnde Hüftmobilität zu kompensieren, beugen sie den Oberkörper extrem weit vor und beugen außerdem Fuβ- und Kniegelenke zu stark. Die Knie schieben sie zu weit nach vorne und befinden sich in der Endposition vor den Fußzehen.
Um die Hüftmobilität des Sportlers zu überprüfen, legt er sich auf den Rücken und zieht beide Knie zur Brust. Wer es schafft, mit den Knien die Brust zu berühren, der verfügt über ausreichende Hüftmobilität. Wenn der Trainer dann sanft auf die Knie des Athleten drückt und fühlt, dass sich die Gelenke ohne Widerstand bewegen, dürfte der Sportler eine ausreichende Hüftmobilität haben. Wenn er aber ins Hohlkreuz geht und der Trainer Widerstand spürt, dann stimmt etwas nicht.
Ein Anzeichen für mangelnde Hüftmobilität im Schnee zeigt sich bei übermäßig starker Bewegung aus dem Rücken heraus. Hier sind die Hüftbeuger zu steif. Auch extreme Rotation im Oberkörper beim Kurvenfahren sind sichere Anzeichen. Der Sportler kann nämlich seine Beine nicht unabhängig vom Oberkörper rotieren. Vielleicht ist auch eine unausgeglichene Haltung in Hüft-, Knie- oder Fußgelenken erkennbar, wenn der Fahrer in die Knie geht.
Worauf der Trainer bei der einfachen Kniebeuge achten sollte: Lassen Sie den Sportler mehrere Kniebeugen hintereinander machen und vergewissern Sie sich, dass seine Knie dabei nicht nach innen oder außen ausbrechen, sondern sich gerade nach oben beziehungweise nach unten bewegen. Die Knie sollten sich stets im Lot mit der Ferse befinden. Die Füße dürfen weder überpronieren noch nach auβen kippen. Er darf die Bewegung nicht aus dem Rücken heraus ausführen, sondern muss die Wirbelsäule stets neutral halten. Gleichzeitig darf er den Oberkörper nicht zu weit nach vorne lehnen. Eine Kniebeuge muss gleichmäßig aus Fuβ-, Knie- und Hüftgelenk heraus erfolgen.
Wer Probleme hat, eine saubere Kniebeuge im Trockenen auszuführen, der wird bei anspruchsvollen Bewegungsaufgaben im Schnee, wie einbeiniges Skifahren auf dem Stützfuß, Kanten- und Wendeübungen, schnell an sein körperliches Limit stoßen. Möchte der Sportler nämlich optimalen Druck auf den Ski ausüben, muss sich das Knie stets im Lot mit dem Fuβ befinden.
Dies klingt auf den ersten Blick komplizierter als es ist. Nutzen Sie die Erkenntnisse des FMS einfach dazu, um Ihrer bisherigen Methode der Leistungsoptimierung eine neue Komponente zuzufügen. Vergessen Sie nicht, es geht darum, die Leistungsfähigkeit des Sportlers beim Skifahren zu optimieren, da darf kein Mittel unversucht gelassen werden.
Lösungen
Von nun an sollten Sie immer, wenn Sie Ihre Athleten beim Fahren beobachten, diese Kriterien im Auge behalten und nach möglichen Kompensationsbewegungen Ausschau halten. Der Sportler soll lernen, sein im Trockenen erlerntes Bewegungsgefühl auf den Schnee zu übertragen. Bedenken Sie hier, dass er Bewegungskorrektionen nur dann vornehmen kann, wenn das Terrain nicht zu anspruchsvoll ist. Am Ende jeder Trainerstunde sollten Sie dem Athleten drei Dinge mit auf den Weg geben:
Eine Technikübung im Schnee, eine Trockenübung, die seine Schwachstellen adressiert und eine kleine Modifikation des Materials.
Schlussbemerkung
Dieser Artikel soll Ihnen helfen, physische Barrieren Ihrer Sportler zu erkennen und zu eliminieren. Sie werden sehen, wenn erst einmal Schwachstellen von Grund auf ausgemerzt werden, erreicht jeder Ihrer Schützlinge sein Potential.
Mit seinen Ausführungen zur Ausrichtung der Beine beim Skifahren gibt uns Warren Witherell nur einen ganz kleinen Einblick in die Theorie der Bewegungsanalyse. Jeder Coach sollte diese Ausführungen zum Anlass nehmen, die Zusammenhänge zwischen Sportwissenschaft und Skifahren zu studieren, um die Leistungsfähigkeit seiner Athleten zu optimieren.
Euer Chris und Darcy
Artikelempfehlung
Der Functional Movement Screen von Eberhard Schlömmer
Finde es sehr interessant wie man überhaupt ohne solche Screenings arbeiten soll. Zuerst kann immer nur der Sportler, Spieler, Athlet mit seinen Schwächen und STärken stehen und als aller letzt die Übung oder das TRaining. Kann diesen Artikel als diplomierter Fussballtrainer und Individualtrainer nur unterstützen!
LG
Diplomtrainer
Roland Ortner