Ein großes Netz
Das Fasziennetz entsteht als geeintes Ganzes ungefähr in der zweiten Woche nach der Befruchtung der Eizelle und bleibt bis zum Tod ein zusammenhängendes Netz. Im Laufe der komplexen embryonalen Entwicklung dehnt es sich aus und faltet sich nach und nach zum Körper eines Menschen auf. Auch wenn wir den verschiedenen Teilen dieses Netzes Namen gegeben haben, wie Dura mater, Aponeurose lumbalis, Mesenterium, Tractus iliotibialis oder Aponeurosis plantaris, dürfen wir nie
vergessen, dass es sich dabei nur um Regionen eines unteilbaren Ganzen handelt.
Auch wenn Anatomiebücher über 600 einzelne Muskeln auflisten, ist es doch korrekter zu sagen, dass es nur einen einzigen Muskel gibt, der in 600 Taschen des Fasziennetzes gegossen wurde. Die »Illusion« einzelner Muskeln entstand durch dasSkalpell des Anatomen, das Gewebe voneinander trennte und dadurch die Existenz des verbindenden Netzes in den Hintergrund drängte (Abb. 1). Natürlich sind diese Unterscheidungen nützlich, doch dürfen sie uns nicht die Sicht auf das einende Ganze verstellen.
Abb. 1 – Eine präparierte oberflächliche Rückenlinie. Legt man die Muskeln inklusive des sie umgebenden Gewebes frei, erkennt man die Faszienverbindungen, die sie zu einer Längsreihe verbinden – Teile jenes Fasziennetzes, das von den Zehen (unten) bis zur Nase (oben) verläuft.
Nach der Geburt ist dieses »Organ« der Schwerkraft ausgesetzt, die es in einem Zusammenspiel mit genetischer Veranlagung und Umwelt formt. Es kann durch Verletzungen oder notwendige chirurgische Eingriffe Risse oder Schnitte bekommen und wird sich nach Möglichkeit selbst wieder reparieren. Es passt sich unseren spezifischen Bewegungs- und Atemmustern an und wird von unseren geistigen Neigungen und den Bewegungen, die diese fördern oder hemmen, mitgestaltet.
Mit zunehmendem Alter wird das Fasziennetz immer mehr degenerieren, verkleben, verfransen oder austrocknen – bis wir es schließlich hinter uns lassen.
Unser Leben lang bleibt es ein einzigeseinendes, die Kommunikation zwischen einzelnen Körperregionen ermöglichendes Netzwerk, das uns eine charakteristische, physiologisch funktionierende Gestalt gibt, das Kontraktionen des Muskelgewebes in Bewegungen des Körpers umsetzt und das in Zusammenarbeit mit den Nerven und den Muskeln auf die mechanischen Kräfte reagiert, die durch unsere Umweltkontakte auf uns einwirken.
Man kann nicht einmal das winzigste Stück Fleisch aus dem Körper entnehmen, ohne dass dabei ein Stück des Fasziennetzes mitkommt. Das Fasziensystem, das aus zähen Fasern und gallertartigen, klebrigen Proteoglykanen (Grundsubstanz) in einem wässrigen Trägermedium besteht, umgibt jede einzelne Körperzelle, sämtliche Gewebe und Organe und hält den gesamten Organismus zusammen und in Form. Aufgrund seiner innigen Verbindung zu sämtlichen Gewebearten spielt es bei der physiologischen Erhaltung und der Immunabwehr eine wichtige Rolle. Diese Aspekte zu erläutern, wollen wir lieber anderen überlassen. Wir konzentrieren uns hier auf ihre mechanischen Funktionen.
Faszienelemente
Um mit den vielfältigen Kräften und Faktoren fertig zu werden, produzieren unsere Bindegewebszellen ein ebenso vielseitiges Sortiment von Baumaterialen, indem sie erstaunlich wenige, einfache Elemente modifizieren. Knochen, Knorpel, Sehnen, Bänder, Herzklappen, das zähe Bindegewebe, das unsere Muskeln umgibt, die zarte Gehirnhaut, die durchsichtige Hornhaut des Auges und das Dentin der Zähne – sie alle, und viele Gewebetypen mehr, bestehen aus Bindegewebszellen (Abb. 2).
Abb. 2 – Zellen wie Fibroblasten und Mastzellen bilden Bindegewebe, indem sie die Elemente in den Interstitien und die Anteile von deren Bestandteilen – Fasern, Proteoglykane und Wasser – verändern.
Mithilfe von Proteinen aus unserer Nahrung, die sie vom Blut geliefert bekommen, erzeugen Bindegewebszellen die interzellularen Elemente, die unsere Billionen von Zellen zusammenhalten. Hauptelement ist die zähe Kollagenfaser, die mit anderen Fasern – Elastin und retikulären Fasern – verbunden in einem Bett klebriger Mucopolysaccharide ruht, die ebenfalls von diesen Zellen erzeugt wurden. Diese großen Zucker- und Eiweißpolymere bin den unterschiedlich große Mengen Wasser, um verschiedene Konfigurationen mit einem Spektrum von Eigenschaften zu erzeugen, die unseren unterschiedlichen Bedürfnissen nach Stabilität und Mobilität gerecht werden.
Im Fall der Knochen ist das ledrige Kollagennetz in eine Apatitgruppe aus Calcium- und anderen Mineralsalzen eingebettet und bildet das steifste Gewebe in unserem Körper, das dennoch über eine gewisse Elastizität verfügt und nach unserem Tod all unsere anderen Gewebetypen lange überdauert. Der Knorpel besitzt dieselbe ledrige Grundeigenschaft (auch wenn er mehr oder weniger Kollagen oder Elastin enthalten kann), doch die Zwischenräume sind mit silikonartigem Chondroitin gefüllt.
Bei Sehnen und Bändern dominieren Fasern. In ihrem Netz aus Fasern, in gleichmäßigen kristallinen Reihen angeordnet, sind nur kleine Mengen von Glykoproteinen eingebettet. Das Verhältnis zwischen Fasern und Glykoproteinen ist bei Aponeurosen ähnlich. Allerdings verlaufen die Fasern bei diesem Gewebetyp in sämtliche Richtungen, so wie Wollfäden im Filz.
Bei lockerem Bindegewebe wie z. B. Fettgewebe lagert zwischen den Fasern eine größere Menge wasserhaltiger Glykosaminoglykane. Die geringere Viskosität erleichtert die Verteilung einer Vielzahl von Metaboliten und weißer Blutkörperchen.
In gewissem Maß kann das Bindegewebssystem diese Elemente modifizieren, um auf lokale mechanische Veränderungen zu reagieren und z.B. in Reaktion auf verstärktes Training Bänder kräftiger und Knochen dichter werden zu lassen. Dies ist auch der Grund, warum verletzte Haut heilt und gebrochene Knochen wieder zusammenwachsen. Leider kann es sich auch in eine andere Richtung verändern, etwa als Reaktion auf eine bewegungsarme Lebensweise oder eine psychisch oder durch berufliche Tätigkeit bedingte Körperhaltung.
Neuere Forschungen ergaben, dass sich auch die Zellen selbst, zumindest ein besonderer Typ von Fibrozyten, nämlich die Myofibroblasten, selbst verändern, an das von ihnen geschaffene Fasziennetz andocken und eine Kraft ausausüben können, die seine Kontraktion bewirkt (Abb. 3).Vor dieser Entdeckung dachte man, nur die Muskeln wären dazu imstande, sich zusammenzuziehen, und das Fasziensystem wäre nur passiv plastisch. Inzwischen wissen wir, dass sich, unter bestimmten Bedingungen, durch diese sich wie glatte Muskelzellen verhaltende Bindegewebszellen auch das die Muskeln umgebende Fasziennetz aktiv zusammenziehen kann. Das ist deshalb interessant, weil diese hybriden Bindegewebszellen, anders als alle anderen Muskelzelltypen, nicht von Nerven durchwachsen sind. Sie werden von bestimmten chemischen Stoffen wie z. B. Antihistaminika oder Oxytocin stimuliert, oder durch andauernde mechanische Spannungen in den angrenzenden Faszien.
Abb. 3 – Myofibroblasten ergänzen unser Bild vom Fasziennetz durch Zellenkontraktionen. Unter bestimmten Bedingungen hängen einige Fibroblasten ihre Zellstruktur in die Bindegewebsmatrix ein und üben sodann eine langsame, muskelartige Kontraktion auf das Fasernetz aus.
Myofibroblasten benötigen mindestens 20 Minuten, um eine derartige Kontraktion aufzubauen, und mehrere Stunden, um sich wieder vollständig zu entspannen. Doch die kombinierte Kontraktion vieler Myofibroblasten übt auf große Bindegewebsflächen wie z.B. die Krural-Faszien rings um den Unterschenkel, die Thorakolumbale Faszie (Große Rückenfaszie) im unteren Rückenbereich oder aber die Faszien der Fußsohlen und Handflächen, wo eine überhöhte Aktivität dieser Zellen zu Fibromatose oder Morbus Dupuytren führen kann, einen beträchtlichen Zug aus.
Während derzeit erst wenig über die klinischen Implikationen der Anwesenheit oder Kontraktion von Myofibroblasten und ihrer Bedeutung für die manuelle Therapie bekannt ist, zeichnet sich doch ab, dass diese Entdeckung den Abschied von etablierten Vorstellungen nach sich zieht und uns zeigt, dass unser Wissen über Faszien noch lückenhaft ist.
Faszien und Signale
Die Geheimnisse der biochemischen Signale, die derartige Veränderungen im Gewebe auf zellularer Ebene steuern, sind noch nicht restlos aufgedeckt. Klar aber ist, dass diese Mechanobiologie bedeutet, dass in der Physiotherapie neue Wege zu beschreiten sind. Jede Zelle, und besonders jede Fibrozyte, »kostet« nicht nur das sie umgebende chemische Milieu (im Sinne der Arbeiten von Candance Pert u. a., 1997) mittels Neuropeptiden, sondern ist auch imstande, die Spannungen und Verdichtungen ihrer mechanischen Umgebung zu »hören« und auf sie zu reagieren.
Das geschieht mithilfe besonderer Moleküle, die auf der Oberfläche der meisten Körperzellen liegen, besonders aber durch die Fibroblasten und ihre »Cousins«, die Integrine (Abb. 3). Zellen fixieren sich mittels Integrine im Gewebenetz. Sie bewegen sich im Körper primär dadurch, dass sie an ihrem »Kopfende« neue Integrinverbindungen bilden und bereits an ihrem »Schwanzende« bestehende Verbindungen lösen. Die Integrine sind durch das Zytoskelett tief in der Zelle verankert, sodass ein am verbindenden Gewebe neu auftretender Zug das Verhalten der Zelle und ihrer Gene beeinflussen kann.
Dies impliziert, dass wir strukturelle Gesundheit als einen Zustand definieren könnten, in dem sich jede Zelle des Körpers in ihrer idealen
mechanischen Umgebung befindet. Wie sich »ideal« definiert, hängt vom jeweiligen Zelltyp ab sowie von der Körperregion, in der sich eine Zelle befindet.
Muskelzellen stehen gerne ein wenig unter Spannung, während Nervenzellen in einer spannungsarmen Umgebung am besten funktionieren.
Epithelzellen leben ihre Gene in einer eher angespannten Umgebung anders aus als in einer eher kontrahierten. Im Extremfall neigen unter allzu starker Spannung
stehende Zellen dazu, ihren »Job« aufzugeben, um mehr von Ihresgleichen zu erzeugen und dadurch die hohe Spannung aufzulösen. Alle stark komprimierten Zellen begehen lieber »Selbstmord« (Apoptose), als Geschwüre zu bilden (die entstehen, wenn sich zu viele Zellen auf engem Raum befinden).
Auf der Suche nach idealen Körperproportionen entdeckten die Menschen den goldenen Schnitt und die relativen Proportionen des Körpers. Wir können heute ein neues Körperideal definieren, das auf der optimalen biometrischen Umgebung für jede einzelne Zelle gründet. Zwar sind wir noch weit davon entfernt, dieses Optimum feststellen zu können, doch seine Entdeckung weist bereits jetzt auf die Notwendigkeit einer Verbindung zwischen Zellbiologie und manueller Therapie hin.
Eine weitere Form von Kommunikation innerhalb der Faszien könnte darin bestehen, dass das feuchte Kollagen einen flüssigen Kristall bildet, ein Halbleiternetzwerk, in dem Druck oder Spannung einen Piezoelektrizität genannten Ionenfluss erzeugt, der die Fibroblasten stimuliert oder niederdrückt, sodass sie neue Fasern bilden bzw. nicht bilden (Abb. 4).
Abb. 4 – Seit Langem schon kennen wir die Funktion des neuralen Netzes als Signalnetzwerk, doch möglicherweise stellt das Bindegewebe ein zweites, vielleicht primitiveres, aber dafür fünfmal
schnelleres Signalnetz dar.
Auf diese Weise bewirkt die durch unsere Bewegungen – und besonders durch oft wiederholte Bewegungen – erzeugte Spannung, dass Bindegewebe, Knochen und Bänder laufend »umgeformt« und angepasst werden. Das erklärt Veränderungendes Bewegungsapparats, die durch neu aufgenommene Sportarten, neue hinzugekommene Stimmungen oder das fortschreitende Alter ausgelöst werden.
Wenn wir also auf das neuro-myofasziale Netz unserer Patienten einwirken, versuchen wir, natürliche Prozesse in eine heilende oder die Effizienz steigernde Richtung zu lenken.
Obgleich die Wirkung der Deep-Touch-Massage auf die neuralen Rezeptoren in den Faszien noch nicht gründlich erforscht ist, kann man bereits sagen, dass Deep Touch allgemein die Nerven in ihren »Auslieferungszustand« zurückversetzt, taube Nerven reaktiviert und die Reizschwelle von motorischen Nerven, die im »Einschaltmodus« hängengeblieben sind, herabsetzt (Abb. 5).
Abb. 5 – Faszien sind unsere vielseitigsten Sinnesorgane, denn sie enthalten Nerven, freie Nervenenden, Golgi-Sehnenorgane, Pacini-Körperchen, Krause-Endkolben und Ruffini-Körperchen, die gemeinsam dem Gehirn ein deutliches Bild von Druck, Vibrationen und Rissen sowie allen anderen Deformationen der Faszien liefern.
In den Faszien scheint Deep Touch zäh gewordene Glykoproteine flüssiger zu machen. Das Bindegewebe ist ein kompliziertes Kolloid, das man mit einem Wackelpudding vergleichen könnte: Im Kühlschrank wird er fest, in einem Topf auf dem Herd verflüssigt er sich (er wird thixotrop). Ähnlich ergeht es den Glykoproteinen unter dem Einfluss von Deep Touch (und vermutlich auch bei dynamischen Übungen und streckendem Yoga). In einer bestimmten Richtung angewandter Deep Touch bewirkt das Verflüssigen der Glykoproteine, das wiederum ein aneinander Vorbeigleiten der Kollagenfasern ermöglicht.
Die daraus entstehende plastische Deformation begünstigt ein Längerwerden des Gewebes. Sowohl hinsichtlich Absicht, Gefühl und Ergebnis unterscheidet sich dies vom Dehnen elastischen Muskelgewebes. Es ist diese Formbarkeit der Faszien, die der Dauerhaftigkeit und dem progressiven Wesen durchdachter Faszienmanipulation zugrunde liegt. Anders als Muskeln springen Faszien, wenn sie erst einmal erfolgreich verlängert wurden, nicht in ihre alte Form zurück.
Damit die Faszien nachgeben, ist die Dauer des Drucks ebenso wichtig wie seine Tiefenwirkung und Ausrichtung. Deep Touch wirkt sich zudem auf die vielen Nervenenden in den Faszien aus, sodass sich der Verlängerungseffekt auch aus der neurologischen Wirkung, der thixotropen Wirkung oder einer Kombination von beiden ergeben könnte. Ziel dieses Buchs ist es, Ihnen zu helfen, ein Gespür für die Gewebeveränderungen zu entwickeln, das Ihnen bei minimalem Krafteinsatz zu maximalen Ergebnissen verhilft.
Zusammenfassend kann man sagen, dass Nerven, Muskeln und Faszien myofasziales Gewebe zu etwas Dynamischem machen. Deep-Touch-Massage kann sich auf alle drei Gewebearten auswirken. Allerdings ist die Wirkung auf die durch sie geschmeidig gemachten und gedehnten Faszien von Dauer, was wiederum den anderen beiden Gewebearten Zeit gibt, sich an die veränderte Mechanik ihrer Umgebung anzupassen. Fasziengewebe kann durch Verletzungen, Überanstrengung oder Passivität verformt werden, aufgrund der »Formbarkeit« jedoch auch wieder in den alten Zustand zurückversetzt bzw. in einen optimierten Zustand gebracht werden.
In diesem Abschnitt wurden die lokalen Auswirkungen von mechanischer Einwirkung und therapeutischer Dehnung auf das Bindegewebe in einiger Ausführlichkeit beschrieben. Wir wissen inzwischen, dass jede Zelle imstande ist, mechanische Signale aus ihrer Umgebung wahrzunehmen und sich an sie anzupassen. Als Therapeuten wissen wir außerdem, dass Einwirkungen auf eine Körperregion Veränderungen in einer anderen, auch entfernten Körperregion auslösen können. Dadurch ist es z. B. möglich, dass Manipulationen an den Knöcheln Schmerzen im unteren Rückenbereich lindern oder eine Entspannung der Halsmuskulatur zu einer Verbesserung der Atembewegungen führt.
Um herauszufinden, wie lokale Veränderungen ganzheitliche Ergebnisse hervorbringen können, müssen wir uns wieder die Gesamtheit der Faszien eines Körpers als ein einziges Netz vorstellen, das nach einem Prinzip konstruiert ist, das wir hier »Tensegrity« nennen.
Im nächsten Artikel werde ich mich mit dem „Tensegrity Modell“ befassen.
Euer Thomas Myers