Faszien durchziehen den Körper als universeller Baustoff. Biologisch gesehen haben sie viele Erscheinungsformen und Funktionen, anatomisch teilen sie den Körper in verschiedene Lagen und unterschiedliche Ebenen. Speziell die Faszien des Bewegungsapparates bilden nach neuen Erkenntnissen ein durchgängiges Netzwerk, das über lange Ketten Körperteile und Extremitäten miteinander verbindet und mechanischen Kräften unterliegt. Es werden aber auch Nervenimpulse und Reize innerhalb dieses Netzwerkes weitergegeben, sodass Verletzungen, Vernarbungen oder Veränderungen im Körper sich über die faszialen Verbindungen auf andere Organe und Körperebenen auswirken können.
Auch Bindegewebe, das nicht Teil des Bewegungsapparates ist, sondern um Organe herum liegt oder unter der Haut das Gewebe polstert, funktioniert als Reizweiterleitungssystem und Netzwerk. Da unzählige Nervenenden und Sensoren darin verlaufen, deren Reize ans Gehirn weitergeleitet werden, sehen Wissenschaftler heute das Bindegewebe als Teil des Nervensystems, insbesondere des vegetativen Nervensystems. Die Faszien gelten wegen der vielen Sensoren, die sie enthalten, als eines unserer reichhaltigsten Sinnesorgane.
Der Baustoff Bindegewebe erscheint im Körper überall in verschiedenen Formen. Die Begriffe Faszien und Bindegewebe verwenden wir dabei weitgehend synonym, wie es sich seit dem internationalen Faszienkongress von 2007 zunehmend einbürgert. Im Folgenden wird uns vor allem das straffe Bindegewebe beschäftigen, denn daraus bestehen die Muskelfaszien, Sehnen und Bänder, mit denen wir es im Training zu tun haben.
Die Grundfunktionen der Faszien
Faszien haben im Körper so viele Funktionen, dass man sie auf verschiedenen anatomischen, funktionellen und physiologischen Ebenen beschreiben muss. Aber sie haben auch Gemeinsamkeiten, die mit je unterschiedlichem Schwerpunkt oder gemischt in allen Bindegewebsarten vorkommen. Eine grobe Einteilung unterscheidet vier Funktionsgruppen, die je nach Organ und Körperstelle anders zum Tragen kommen.
Loses Bindegewebe im Bauchraum stützt und polstert zum Beispiel Organe wie Darm, Leber und Milz ab, unter der Haut grenzt es Lederhaut von der Muskelschicht ab und enthält Versorgungsgefäße, zahllose Sensoren und Blutgefäße. In Gelenken und am Übergang zu den Muskeln sitzen wichtige Bewegungssensoren in faszialem Gewebe wie Kapseln und Sehnen; die muskulären Faszien im Bewegungsapparat haben vielfältige andere Funktionen, die unter »Bewegen« zusammengefasst werden.
- Formen – umhüllen, polstern, schützen, stützen, Struktur geben
- Bewegen – Kraft übertragen und speichern, Spannung halten, dehnen
- Versorgen – Stoffwechsel, Flüssigkeitstransport, Nahrung
- Kommunizieren – Reize und Informationen empfangen und weiterleiten
Wir sehen diese vier Grundfunktionen als ein Kontinuum und stellen sie daher gerne in einem Kreissymbol dar. Sie treten meistens in einer Mischung zu unterschiedlichen Anteilen auf, ergänzen einander und bedingen sich gegenseitig. Zu diesen vier Grundfunktionen gehören auch vier Trainingsprinzipien des Faszientrainings, die wir von der Fascial Fitness Associaton entwickelt haben. Es sind spezielle Bewegungen und Bewegungsaspekte, die auf die Faszien und die vier Grundfunktionen zielen. Wir gehen darauf noch genauer im nächsten Kapitel ein, das sich mit Krafttraining und Faszien beschäftigt.
Faszien und der Körper als Netzwerk
Muskeln können Gliedmaßen in Gang setzen, weil ihre Kontraktionskräfte auf Knochen und Gelenke übertragen werden. Die Verbindungsstellen zwischen Muskeln einerseits und Knochen mit Gelenken andererseits bilden Sehnen und Sehnenplatten – also fasziales Gewebe. Die Muskeln sind darüber am Skelett befestigt und übertragen einen wesentlichen Teil ihrer Zugkraft darüber.
Die Knochen haben dabei zwar eine stabilisierende Funktion, aber weniger eine tragende,als allgemein angenommen wird. Das heißt: Das Skelett ist kein belastbares Gerüst, sondern bietet nur feste Ansatzpunkte für die Zugelemente. Knochen wirken im Körper etwa wie die Stäbchen aus Fischbein in einem Korsett: Sie bieten eine gewisse Form und einen Ansatzpunkt für das weiche Gewebe, sind aber nur lose miteinander verbunden.
Die losen Verbindungen sind die Gelenke – tatsächlich stoßen im Körper fast nirgendwo Knochen direkt auf Knochen. Stattdessen sind diese durch fasziales Gewebe wie Kapseln, Sehnen und Bänder an den Gelenken miteinander verbunden. Alle Verbindungselemente wie Sehnen und sogar die Knochenhaut, an der Sehnen ansetzen, bestehen ebenfalls aus Bindegewebe und gehören zum körperweiten Fasziennetzwerk.
Man kann sich die Konstruktion des Körpers wie bestimmte Architekturgebilde vorstellen, eines davon ist das Dach des Münchner Olympiastadions: Es besteht aus Elementen, die Druck und Zug aushalten, wobei einige davon stabil sind, andere elastisch. So lässt sich auch der Stütz- und Halteapparat des Körpers beschreiben.
- Tensegrity-Modell: Der menschliche Körper ähnelt einem solchen Spannungsnetzwerk aus Zugelementen, den Faszien, und stabilen Stäben, den Knochen.
- Das Dach des Münchner Olympiastadions ist eine Konstruktion aus Stahlseilen, Stäben und Netzen.
Alle Zugelemente in einem solchen Tensegrity-Gebilde sind miteinander vernetzt. Verändern sich Druck und Zug an einer Stelle, reagiert das gesamte Netzwerk und gleicht aus. Mit dem Fasziennetz im menschlichen Körper ist es genauso. Daher reagiert ein solches System bei Bewegungen auch sehr fein: Kontrahieren Muskeln an einer Stelle, gibt es über die verschiedenen Zugelemente, die Faszien und Faszienketten, eine Reaktion an anderen Körperstellen.
Muskeln arbeiten also nicht isoliert, sondern immer im körperweiten faszialen Netz. Das neue Körperbild identifiziert daher auch größere funktionale Muskel-Faszien-Ketten im Körper. Auch für das Krafttraining an Geräten spielen miteinander in Verbindung stehende größere Einheiten von Faszien des Netzwerks eine Rolle. Sie sind in der Faszien-Szene am deutlichsten von Thomas Myers beschrieben worden und werden Faszien-Zugbahnen genannt. Diese Zugbahnen sind Ketten von Faszien und Muskeln über mehrere Glieder und Extremitäten.
Diese Faszien-Zugbahnen arbeiten bei bestimmten Bewegungen zusammen, sind also funktionale Ketten. Zugleich spielen sie sowohl für die Körperhaltung als auch für Koordination und Gleichgewicht eine herausragende Rolle. Viele Bewegungen in Sport oder Alltag gehen über diese langen Ketten: werfen, einen Schlag führen, sich bücken, sich nach etwas recken, den Schuh zubinden, Äpfel pflücken, Pilze sammeln, eine Leiter emporsteigen, auf einen Baum klettern – all diese Bewegungen beziehen übergreifende Bahnen von Faszien quer durch den ganzen Körper ein. Wir möchten sie daher auch im Training ansteuern. Je besser die ganze Bahn eingeübt ist, desto reibungsloser läuft die Bewegung. Und nur dann kann die volle Kraftreserve aus dem ganzen Netzwerk genutzt werden.
Die acht wichtigsten Faszien-Zugbahnen des Körpers
Wir stellen dir hier acht Faszien-Zugbahnen vor, die von verschiedenen Autoren beschrieben wurden, vor allem von Thomas Myers und Jan Wilke. Die anatomische Identifikation und Beschreibung dieser Ketten ist dabei das eine, ihre volle Funktionalität das andere. Letztere ist noch nicht vollständig erforscht, das ganze Gebiet ist sehr in Bewegung. Aber für die acht Ketten, die wir dir hier zeigen, gibt es inzwischen auch eine wissenschaftliche Evidenz. Daher stützen wir uns primär auf diese Zugbahnen.
Grosse Rücken-Zugbahn
Verläuft von der Fußfaszie, der dicken Plantarfaszie, hinten über die Achillessehne und Waden zu Rücken, Nacken und bis über den Schädel zu den Augenbrauen. Sie stützt und schützt den Rücken und ist verantwortlich für die aufrechte Haltung sowie die Streckung des Oberkörpers nach oben und hinten.
Funktionelle Rücken-Zugbahn
Über Rumpf, Gesäß und Oberschenkel läuft eine zweite rückwärtige Kette, die bei Bewegungen mit den Armen und Beinen den Oberkörper mit dem Unterkörper vernetzt. Auch die große, kräftige Lendenfaszie, die Fascia thoracolumbalis, gehört dazu.
Armbeuger-Brust-Bauch-Zugbahn
Verläuft vorne am Rumpf und verbindet Brust, Bauch und Arme bis zum Brustbein. Sie kombiniert die »Funktionelle Frontlinie« und die »Oberflächige Front-Armlinie« bei Thomas Myers.
Diagonale Rumpf-Zugbahn
Diese Spirallinie windet sich um den Körper, dabei ermöglicht sie Rotationen und gegenläufige Bewegungen. Sie vernetzt auch die Beine mit dem Rumpf und gewährleistet das Gleichgewicht auf allen Ebenen. Beim Gehen sorgt sie für eine exakte Spurführung und stabilisiert den Körper.
Schulter-Ellenbogen-Kette
Diese Kette reicht von der Außenseite des Unterarms zum Ellenbogen, von dort weiter zur Außenseite des Oberarms und schließlich zum Deltamuskel, der das gesamte Schultergelenk umfasst. Dort verbindet sie sich mit der Faszie des Kapuzenmuskels am oberen Rücken, der seinerseits die Spannung zur Wirbelsäule von unterhalb der Schulterspitzen bis hoch zum oberen Nacken überträgt.
Fußgewölbe-Adduktoren-Beckenboden-Kette
Diese Zugbahn verläuft innen vom Fußgewölbe über den Unterschenkel und das Knie bis zu den Adduktoren der Oberschenkel und zum vorderen Beckenboden. Diese Faszien stärken auch Kapsel und Bänder des Kniegelenks.
Abdominales Netz
Ein Geflecht von Faszien, das weit nach hinten bis zur großen Rückenfaszie, der Fascia thoracolumablis, reicht. Es besteht aus mehreren Schichten und gehört zu den geraden, schrägen und queren Bauchmuskeln. Das abdominale Netz stützt den Rumpf rundum wie ein Korsett.
Seitliche Zugbahn
Verläuft auf beiden Körperseiten seitlich vom Beckenkamm abwärts und klammert beide Außenseiten der Hüften und Beine ein. Am Fuß geht sie außen um den Fußknöchel herum bis nach unten zur Fußsohle, wo sie mit der dicken Plantarfaszie verbunden ist. Die beiden seitlichen Zugbahnen ermöglichen die Seitwärtsneigung und bremsen Rotationen. Vor allem bewegt sie die Beine.
Die dritte Dimension: Faszienschichten im Körper
Abseits vom Spannungsnetzwerk, das der Bewegung dient, durchziehen Faszien den Körper aber noch in vielen weiteren Schichten. So gibt es innerhalb des lockeren Unterhaut-Bindegewebes eine dünne Faszienschicht, welche den gesamten Rumpf umhüllt. Sie wird auch Oberflächenfaszie genannt, und ihre gleitende Beweglichkeit spielt offenbar eine wichtige Rolle bei der koordinativen Körperwahrnehmung.
Darunter liegt eine tiefere und wesentlich festere Hülle, die den gesamten Körper wie ein Taucheranzug umschließt. Sie grenzt die Muskeln von dem darüberliegenden lockereren Unterhaut-Bindegewebe ab. Anatomen bezeichnen diese Schicht als Tiefenfaszie oder als Körperfaszie. Sie umfasst an Bauch, Rücken und Beinen verschiedene Faszien. An Knöcheln und Handgelenken befindet sich jeweils ein festes ringförmiges Halteband, das Retinaculum. Eine senkrechte Bindegewebsnaht am Bauch ist die Linea alba (weiße Linie). Sie entsteht durch den Zusammenschluss von Sehnen der seitlichen Bauchmuskeln. Die beiden Grafiken zeigen auf Vorder- und Rückseite des Körpers die wichtigsten Faszien.
Euer Berengar Buschmann und Dr. Robert Schleip
Auszug aus „Faszien-Krafttraining“