Es kann ein Fluch und ein Segen sein, Ausdauersportler zu trainieren. Ausdauersport beruht auf einer guten Arbeitsmoral und hohen Leidensbereitschaft. Doch genau diese Entschlossenheit und Motivation kann Ihre Klienten leicht aus der Bahn werfen, wenn sie sich eine Verletzung zuziehen oder ein Burnout erleiden. Auch die Programmsteuerung kann problematisch sein, wenn die Kraft oder Mobilität fehlt, weil der Athlet viel zu viele Stunden auf dem Rennrad oder der Laufbahn zubringt.
Wir bei Read Performance Training fangen unsere Betreuung damit an, dass wir mit unseren Klienten in der ersten Session den Functional Movement Screen (FMS) machen. Sofern der FMS keine Einschränkungen offenbart, bringen wir ihnen in den nächsten drei bis fünf Sessions einige Grundübungen bei.
Bei den Ausdauersportlern gehen wir aber oft ganz anders vor. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie im FMS schlecht abschneiden, weil sie Mobilitätseinschränkungen aufweisen, die eine schlechte Core-Kontrolle bewirken – die aber essenziell ist, um über eine lange Dauer hinweg ein hohes Tempo aufrechtzuerhalten. Die mangelnde Mobilität und motorische Kontrolle führt dazu, dass wir unser Programmsteuerung zur Kraftsteigerung bewusst einfach halten.
Unser Basis-Trainingsplan für diese Ausdauerathleten setzt sich aus sogenannten „Crawls und Carries“ zusammen. Sein Konzept ist offensichtlich – wir tragen Dinge umher und bewegen uns auf allen Vieren fort. Aber hier hören die meisten Menschen auf. Sie benutzen immer dieselbe einfache Tragevariation und erhöhen dabei höchstens die Last oder bestehen darauf, für immer und ewig wie Babys zu krabbeln.
Das Nervensystem, das für die Kontrolle von Bewegungen zuständig ist, kann nicht so belastet werden wie die Muskulatur. Das ZNS – und der Mensch im Allgemeinen – sehnt sich nach Bewegungskomplexität. Wir entwickeln in jungen Jahren durch Sport und Spiel so viele Fähigkeiten und Fertigkeiten, dass wir oft den Blick dafür verlieren, wie wirksam es für den Körper sein kann, sich einfach „hin und her zu bewegen“.
Sobald wir die Grundposition aufgeben (Rückenlage, Vierfüßlerstand und Kniestand), gibt es drei Möglichkeiten:
- Bilateraler Stand (Kniebeugen und Kreuzheben)
- Schrittstellung (Ausfallschritte und in gewissem Ausmaß Radfahren und Laufen)
- Einbeinstand (Treten und Laufen)
Es gibt keine weiteren Möglichkeiten, d.h. also, dass jede Übung eine Variante dieser drei Grundpositionen ist. Wenn du also eine Menge Trainingszeit im bilateralen Stand verbringst, entgehen dir 70 Prozent der Optionen, die dir tatsächlich zur Verfügung stehen. Wenn es darum geht, die Athletik deiner Ausdauersportler zu verbessern, wirst du feststellen, dass Laufen und Radfahren wesentlich stärker von der Schrittstellung und dem Einbeinstand abhängen als vom bilateralen Stand.
Aus meiner Sicht kommt an dieser Stelle der Carry mit Zusatzgewicht ins Spiel. Es handelt sich hierbei um eine bilaterale Übung, bei der das Zusatzgewicht gleichmäßig auf beide Hände verteilt wird und praktisch alle Fußmuster möglich sind. Die Bewegung beginnt damit, dass man aus einem bilateralen Stand heraus zwei Kettlebells hebt, und dann kann man den Stand variieren und entweder in den Einbeinstand oder in die Schrittstellung gehen. Wenn man die Kettlebells nicht fallen lässt und eine gute Haltung beibehält, zeigt man, dass man eine Vielzahl von Dingen beherrscht, nämlich:
- Schulterstabilität
- Rumpfstabilität
- Widerstand gegen Drehbewegung
- Ausführung von „über 70 Prozent“ der Fußmuster – d.h. Schrittstellung und Einbeinstand
Carries
Farmer’s Walk
Die Grundform des Carry ist der Farmer’s Walk. Fasse einfach zwei gleichgroße und gleichschwere Dinge und trage sie über eine bestimmte Distanz oder Dauer. Wir bei RTP wollen, dass unsere Klienten in der Lage sind, mehrmals eine Strecke von 20 Metern zurückzulegen, bei denen sie in jeder Hand eine Hantel halten, die der Hälfte ihres Körpergewichts entspricht. (20 Meter ist übrigens keine magische Zahl; wir haben einfach nur nicht mehr Platz in unserer Einrichtung.)
Farmer’s Walks haben aber auch einige Nachteile. Ein mögliches Problem ist, dass sie die Sportler tendenziell zu „schwer“ machen. Während viele Athleten nach mehr Muskelmasse streben, achten Läufer und andere Ausdauersportler oft sehr auf ihr Gewicht und wollen nicht zu schwer werden. Meiner Erfahrung nach ist es aber sehr schwer abzunehmen, wenn man Farmer’s Walks mit schweren Zusatzgewichten macht. Zweitens ist die Position bei dieser Übung die einfachste; man fordert seinen Körper also nicht wirklich heraus. Man kann sie erschweren, indem man die Trageweise des Gewichts verändert. Wie bei den Fußpositionen gibt es auch drei Handpositionen – Hände nach unten wie beim Suitcase Carry, in der Rackposition auf Brusthöhe und über dem Kopf gestreckt – die beiden anderen Handpositionen sind unter dem Gesichtspunkt der Stabilität deutlich anspruchsvoller.
Suitcase Carry
In meiner Jugend musste ich unsere Koffer tragen, wenn wir auf Reisen gingen. Ich erwähne das nur, weil sich manche (jüngere) Leser vielleicht fragen, warum es Suitcase Carry heißt, wenn Koffer heutzutage doch Räder haben und man sie gar nicht mehr tragen muss. Ein unilateraler Carry kann zwar eine brauchbare Übung sein, doch ich werde nachfolgend bessere Alternativen besprechen, weil er in der Realität leider nicht besonders gut funktioniert. Selbst wenn man eine moderat schwere Kettlebell oder Hantel benutzt, kann sie gegen das Bein schlagen und eine gute Körperhaltung erschweren. Dann sollte man entweder das Hantelgewicht reduzieren oder eine andere Übungsvariante wie den Rack oder Overhead Carry anwenden.
Rack Carry
Der Rack Carry ist vielleicht die beste Wahl, wenn man einen Carry mit Zusatzgewichten absolvieren will. Das Gewicht auf der Brust erschwert die Atmung. Das ist deshalb so wichtig, weil eine gute Atmung bestimmt, wie gut man so ziemlich alles tun kann. Wenn die Atmung unter Last beeinträchtigt ist, hat man auf jeden Fall nicht die Stabilität, die in dieser Position erforderlich ist, und man fängt an anderer Stelle an zu mogeln. Wenn Sie diese Carry-Version schwerer machen wollen, schlage ich vor, die Kettlebells verkehrt herum, also mit dem Griff nach unten, zu halten. Dr. Stuart McGill sagt über unilaterale Carries: „Der asymmetrische Kettlebell-Carry fordert die laterale Muskulatur (M. quadratus lumborum und die schräge Bauchmuskulatur) wie es der Squat nicht zu tun vermag. Hierdurch entwickelt sich aber die notwendige Fähigkeit, die jeder braucht, der läuft und Holz hackt, etwas Schweres trägt usw. Der Suitcase Carry ist eine weitere Variante, die sich für viele Fortgeschrittene gut eignet.“ Aber dann fügt er zu Bottoms-Up-Carries hinzu: „Ein einhändiger Bottoms-Up-Carry verbessert die Core-Steifigkeit und die Fähigkeit, Kraft durch die kinetische Kette zu übertragen.“
Overhead Carry
Etwas über dem Kopf zu halten und dabei eine gute Körperhaltung beizubehalten ist gar nicht so einfach, und deshalb ist der Overhead Carry eine hervorragende Übung, sofern man weiß, wie er richtig geht. Selbst alle jene, die einen ordentlichen Press haben, können Probleme bekommen, wenn sie eine Last über eine bestimmte Dauer über dem Kopf halten müssen – selbst der kleinste Technikfehler wird sich bemerkbar machen. Und wenn man beschließt, einen doppelten Overhead Carry zu machen, kann man Schulter- und Nackenprobleme bekommen, wie wir bei RPT festgestellt haben, als einige unserer Klienten anfingen, diese Übung regelmäßiger zu machen.
Asymmetrische Belastung
Ich versuche immer, mit einer Bewegung möglichst viele Fliegen auf einen Streich zu erledigen. Carries trainieren die Schulter- und Rumpfstabilität sowie die drei Fußmuster, und wir können die Übung schwieriger gestalten, indem wir in jeder Hand ein unterschiedlich schweres Gewicht halten.
Indem wir zwei verschiedene Hanteln benutzen, und vor allem indem wir Rack Holds und Walks benutzen, können wir die Core-Muskulatur dazu bringen, sich so anzuspannen wie Dr. McGill es zuvor beschrieben hat. Wenn du die Übung besonders intensiv gestalten willst, solltest du versuchen, eine über 45kg schwere Beton- oder Steinkugel auf einer Schulter zu tragen, während du gehst oder Ausfallschritte machst.
Asymmetrische Handpositionen
Um die körperlichen Anforderungen zu erhöhen, besteht der nächste logische Schritt darin, nicht nur asymmetrische Lasten zu benutzen, sondern auch asymmetrische Handpositionen. Wenn man mit einer Hand einen Suitcase Carry macht und mit der anderen einen Rack Carry, beansprucht man den Core auf ungeahnte Weise. Genauso kann man mit einer Hand einen Overhead Carry machen und mit der anderen einen Rack-, Suitcase- oder Bottoms-Up-Carry. Du wirst feststellen, dass es praktischer ist, wenn die leichtere Kettlebell weiter oben ist als die schwere, d.h. bei einer Kombination aus Overhead + Rack Carry sollte die über dem Kopf gehaltene Kettlebell leichter sein als die, die auf Brusthöhe ist. Bei einer Kombination aus Rack + Suitcase Carry sollte die Kettlebell in der Rack-Position die leichtere sein.
Crawls
Wie bei Carries gilt auch hier: Will man diese Bewegungen optimal nutzen, muss man sie immer schwerer gestalten. Die meisten Leute machen einfache Krabbelbewegungen, wie sie durch die Ground Force Method, Ginastica Naturale und Original Strength bekannt geworden sind. Aber um den Bewegungsguru Ideo Portal zu zitieren: „Warum krabbeln alle noch wie Babys herum?“ Viele Zeitgenossen behaupten zwar, den Grundsätzen der frühkindlichen Entwicklung zu folgen, die darauf aufbaut, von einfachen zu zunehmend schwierigeren Aufgaben voranzuschreiten, aber sie benutzen dabei immer dieselbe einfache Variante. So wie sich der Körper langweilt, wenn er dieselbe Kraftübung mit derselben Intensität und Wiederholungszahl ausführt (wie viel Gewicht man wie oft gehoben hat), wird das Gehirn müde, wenn es das Signal erhält, immer auf dieselbe Weise zu krabbeln.
Außerdem verbessern unsere Ausdauerathleten durch einige andere Varianten der Bodenarbeit ihre Mobilität enorm. Jeder denkt, dass die Bodenarbeit im Vierfüßlerstand ausgeführt werden muss, aber es gibt noch andere Möglichkeiten wie eine dicht am Boden stattfindende Fortbewegung, die der Schrittstellung und dem Einbeinstand sehr ähnlich ist.
Wir konzentrieren uns auf drei Hauptvariationen – Bear Walk, Frogger und Duck – was meine Klienten als „tierisches Workout“ bezeichnen. Wir richten unsere Aufmerksamkeit bei diesen Bewegungen, wie auch in unserem gesamten Training, auf eine saubere Qualität, und es ist nicht unüblich, dass diese drei Übungen als anstrengender und schweißtreibender empfunden werden als das normale Krafttraining. Der eigentliche Vorteil bzw. die eigentliche Schwierigkeit ist, dass dafür auch eine große Portion Mobilität erforderlich ist. In allen drei Positionen muss man mit dem eigenen Körpergewicht in eine tiefe Dehnposition kommen und diese eine Zeit lang halten, wodurch man seinen passiven Bewegungsumfang erweitert. Ich habe extrem verspannte, aber schnelle Läufer gesehen, die diese Übungen absolvierten und nach nur einer halben Stunde deutlich bessere Kniebeugen machen konnten.
Bear Crawl
Jeder sollte den Bear Crawl kennen. Es ist normalerweise die erste Form von Krabbeln, die man macht. Aus diesem Grund wird sie normalerweise eher unsauber ausgeführt. Wir konzentrieren uns darauf, uns langsam in die Position des abwärts schauenden Hundes zu begeben. Unsere Arme und Beine sind also möglichst gestreckt. Man profitiert am meisten von dieser Variation, wenn an versucht, die Fersen kontinuierlich zum Boden zu drücken. Weil Laufen die Waden so sehr verspannt, können Bear Crawls ein hervorragendes Mittel sein, um die hintere Kette gut zu dehnen.
Frogger (Frosch)
Das Geheimnis dieser Übung ist die Hocke. Wenn du eine Pause brauchst, stehst du nicht auf – du musst in der Hocke bleiben. Der Dehnreflex – den man als Muskelziehen wahrnimmt – ist eine Reaktion auf eine wahrgenommene Bedrohung. Wenn dein Körper denkt, dass du in einen Bewegungsumfang eindringst, der gefährlich ist oder über den du keine Kontrolle hast, nimmst du das als Verspanntheit wahr. Indem du eine Weile in der Position bleibst, zeigst du deinem Körper, dass dieser neue Umfang für ihn ungefährlich ist. Strecke die Arme nach vorne aus und hüpfe. Nach jedem Sprung nimmst du eine möglichst aufrechte Haltung ein und versuchst, so tief und schön wie möglich in die Hocke zu gehen.
Duck (Entengang)
Fange mit einem sehr kurzen Ausfallschritt an, bei dem du den vorderen Fuß flach auf dem Boden absetzt und die Ferse des hinteren Fußes anhebst. Gehe in die Hocke. Das ist eine weitere fiese kleine Übung für die Fußbeweglichkeit, drücke das vordere Schienbein also so weit nach vorne wie möglich, um die Wade zu dehnen. Bleib möglichst tief bzw. nah am Boden, setze den anderen Fuß nach vorne und wiederhole die Bewegung.
Wie man alles zusammensetzt
Die meisten Ausdauerathleten brauchen nicht viele Kraftworkouts pro Woche. Wir machen oft nur eins – das hängt aber davon ab, wie nah wir vor einem Wettkampf stehen. Die „Crawl & Carry“-Einheit steht normalerweise als erste Kraftsession der Woche an. Das liegt daran, dass unsere Klienten normalerweise noch vom Wochenende erschöpft sind, an dem sie vielleicht zehn Stunden mit einer starken Betonung der Beinkraft trainiert haben. Ein Workout mit Crawls und Carries fordert nicht nur die Haltungs- und Core-Kontrolle, sondern auch die Mobilität und ermöglicht zudem ausreichend Erholung – und das alles in einer Session, die eine gute Einstimmung in eine weitere produktive Trainingswoche darstellt. Bei RPT findet diese Session oft am Montag oder Dienstag statt.
- Farmer’s Walk – 20m
- Bear Crawl – 10m
- Asymmetrischer Carry – BUP/ Suitcase 20m, Seite wechseln nach 10m
- Frogger – 10m
- Overhead Walk – mit einer Hand, Seite wechseln nach 10m
- Duck – 10m
- Insgesamt 5 Runden absolvieren.
Wir haben festgestellt, dass wir ein oder zwei gute Kraftworkouts am Ende der Woche machen können, wenn wir ein Workout mit Crawls und Carries an den Anfang der Woche stellen. Im Krafttraining kann man dann klassische Übungen wie Squats, Deadlifts, Bench Presses usw. machen, bei denen der Schwerpunkt auf dem Kraftzuwachs liegt. Infolge der höheren Beweglichkeit und des höheren Bewegungsumfangs wurden unsere Ausdauerklienten manchmal zwar etwas langsamer, vor allem beim Schwimmen und Laufen, dafür aber gab es unter ihnen fast keine Weichgewebeverletzungen mehr.
Euer Andrew Read