Bewegung ist für eine gesunde körperliche und geistige Leistungsfähigkeit entscheidend und gut. Das sollte auch dem letzten sportlich Interessierten klar sein. So weit, so gut. Die westliche Lebensweise hat uns allerdings so weit von der Natur abgekoppelt, dass sogar bei Top-Athleten die drei sensorischen Hauptsysteme – das visuelle, das vestibuläre und das propriozeptive System – als primäre Informationsquellen des Gehirns leiden. Bewegung findet häufig nur im Training statt und wird dort meist auf dem unvorbereiteten Körper überdosiert. Auffällig ist derzeit, z. B. im Fußball, die hohe Anzahl der wiederkehrenden Muskelverletzungen ohne Fremdeinwirkung (bewegungsinduziert). Selbstverständlich haben die Teams verschiedener Ligen einen hohen Trainings- und Wettkampfaufwand. Wenn jedoch eine dermaßen hohe Verletzungsrate auftritt, könnte das folgende Ursachen haben:
- der Körper ist überfordert,
- das Gehirn als bewegungssteuernde Instanz benötigt ein „Bewegungs-Update“, um mit den spezifischen Anforderungen der Sportart besser klarzukommen.
Leider fehlen in der biomechanisch geprägten Reha- und Athletikwelt oftmals die Mittel (und die Zeit), um die Spieler und deren Körper optimal und individuell auf die hohen und spezifischen Anforderungen in ihrer Sportart vorzubereiten.
Das SAID-Prinzip kann helfen
Ein entscheidendes Trainingsprinzip, mit dem Verletzungen besser rehabilitiert werden können, ist das SAID-Prinzip. Vermutlich wird dieses Trainingsprinzip aus Unwissenheit meist nicht berücksichtigt. Das SAID-Prinzip steht für Specific Adaptation to Imposed Demand. Das heißt, unser Gehirn reagiert auf spezielle Anforderungen und passt sich an.
Natürlich ist jede Verletzung individuell und jeder Athlet hat eine individuell unterschiedliche Verletzungshistorie – beides sollte bei der Gestaltung eines effektiven Reha-Programms zwingend bedacht werden. Man sollte im Idealfall sogar die Verletzungssituation so gut wie möglich nachstellen und modellieren und dort ansetzen, z. B. mit Fragen wie: In welcher Rotationsstellung hat sich der Kopf befunden? Wo waren die Augen? Etc.
One-Fits-All-Lösungen werden der Komplexität einer effektiven und effizienten Rehabilitation mit dem Ziel, Folgeverletzungen zu vermeiden, definitiv nicht gerecht.
Der Körper ist ein System
Kaum jemand kommt zum Beispiel auf die Idee, eine Sprunggelenksverletzung mit einer vorherigen Kopf-, Knie-, Leisten- oder Bauchmuskelverletzung zu assoziieren – und das, obwohl die Verletzungshistorie eine entscheidende Rolle spielt. Und wenn doch, werden diese Strukturen häufig nicht ganzheitlich geheilt, sondern zu früh wieder zu hart trainiert. Viele werden einer rein biomechanisch gesteuerten Belastung (meist maschinengesteuertes Krafttraining) ausgesetzt, ohne die bewegungssteuernden neuronalen Komponenten in der Rehabilitation zu berücksichtigen. Die zu simple Erklärung der Medien lautet dann meist: Pech! Glasknochen! Übertraining!
Der Körper fühlt sich fit an – ist es aber nicht
Durch Verletzungen sind Spieler teilweise zu sehr langen Pausen gezwungen. Die Rehabilitation verläuft mithilfe allerlei Maßnahmen, die die verletzte Struktur zunächst heilen lassen und anschließend stärken sollen. Aber: Athleten sind nach langen Verletzungen selten komplett wiederhergestellt. Auch wenn ihr Gewebe wieder verheilt und das Fitnesslevel bei annähernd (meist subjektiv gefühlten) 100 Prozent ist, bedeutet das nicht, dass die motorische Steuerung, die „Bewegungssoftware“, wieder optimal funktioniert.
Durch die lange Bewegungsunfähigkeit gelangt zu wenig Input aus den verletzten Stellen im Körper zum Gehirn, wodurch wiederum „blinde Flecken“ auf den motorischen Karten entstehen. Die Folge ist, dass sich durch veränderte Aktivitätsmuster im Gehirn, die durch den mangelhaften Informationsinput aus der Körperperipherie (verletzte Stellen) entstehen, Kompensationsmuster bilden.
Vereinfacht gesagt: Das Gehirn ist oft gezwungen, mit einem alternativen Bewegungsprogramm, einem Kompensationsmuster bzw. mit den falschen oder vermeintlich stärkeren Muskeln, die eigentlich andere Aufgaben hätten, zu arbeiten, um der Bewegungsanforderung weiter gerecht werden zu können. Da diese kompensatorische Schonhaltung und die darin primär involvierten Muskeln jedoch meist nicht die optimale Lösung zur Ausführung der Bewegung sind, werden sie überlastet und stellen schließlich ihren Dienst ein.
Die kinetische Bewegungsenergie überlastet somit den aktiven und passiven Bewegungsapparat, was schlussendlich zu einer Folgeverletzung führt. Dementsprechend werden im Laufe der Zeit auch weitere Strukturen leiden, da sich die mangelhafte Motorik negativ auf den passiven Bewegungsapparat auswirken kann.
Dieser Umstand ist häufig Ursache für Knorpelschäden und Arthrosen, die lange Zeit nach einer Verletzung entstehen können. Daher sollten im Rehabilitationsverlauf auch immer zeitgleich die bewegungssteuernden Systeme mitaufgebaut bzw. reprogrammiert werden.
Sensorische Satelliten stärken
Der Input aus den sensorischen Satelliten zum Gehirn ist im Alltag und nach Verletzungen oft konstant zu schwach und wenn er dann im Reha- oder Athletiktraining stattfindet, ist der Input so groß, dass ihn das Gehirn nicht hinreichend interpretieren kann. Gerade Leistungssportler haben häufig das Ziel, ihr Limit ständig zu verschieben, und setzen sich dementsprechend zu starken Reizen aus. Wird dieser Zustand chronisch, schlägt der Gefahrenfilter des Gehirns an, die Alarmglocken des ZNS läuten auch ohne Verletzung viel zu früh und Schutzreflexe setzen ein, die wie Bremsen auf die Performance wirken.
Ein Zitat von Lars Lienhard fasst die Problematik mit Blick auf die Rehabilitation in meinen Augen noch einmal sehr gut zusammen:
„Mir scheint es um ein generelles Problem der symptomatischen Betrachtungsweise von Verletzungen zu gehen. Eventuell kommt man hierdurch nicht auf die Ursache hinter der Verletzung, hiermit meine ich vor allem bewegungsinduzierte Verletzungen, die ohne Fremdeinwirkung passieren. Wenn ein Gewebe verheilt ist, ist halt oftmals noch lange nicht die Ursache für die Verletzung behoben, nämlich die Aktivitätsmuster im Gehirn und die dadurch im Körper zu findenden Kompensationsmuster. Bei immer wiederkehrenden Verletzungen liegen immer auch neuronale Steuerungsprobleme im Hintergrund vor. Man kann eben erst von einem erfolgreichen Rehabilitationsprozess sprechen, wenn auch die ‚Software‘, die hinter der Verletzung steht, mit korrigiert wurde. Einige Sportler hätten unglaubliches Pech, wenn es ständig Verletzungen mit ‚Gewalteinwirkungen‘ von außen wären, wie Brüche durch brutale Foulspiele, aber bei bewegungsinduzierten Verletzungen, wenn einfach etwas reißt, kann man nicht immer von Pech sprechen.”