Es ist schon interessant: wenn Sie einen Trainer fragen, wie viel Gewicht ein 90kg schwerer Mann im Bankdrücken stemmen sollte, erhalten Sie eine konkrete Antwort. Vielleicht werden nicht alle Befragten das gleiche Hantelgewicht nennen, aber immerhin wird jeder eine Meinung zu diesem Thema haben. Wenn Sie aber von einem guten Krafttrainer wissen wollen, was eine gute einbeinige oder vertikale Zugkraft ist, dann bin ich mir nicht so sicher, ob Sie eine vergleichbar genaue Antwort erhalten werden; möglicherweise haben manche Trainer überhaupt keine Antwort parat. Vielleicht stellen sie sogar eine Gegenfrage wie „Was meinst du damit?“ Im letzten Frühjahr und Sommer habe ich versucht, beide Fragen zu beantworten. Wie viel einbeinige Kraft oder Kraft im oberen Rücken ist möglich? Ich bin der Überzeugung, dass man im Training Ziele braucht. Wenn wir Krafttraining betreiben, müssen wir wissen, was mit „stark“ gemeint ist. Die unter vier Minuten gelaufene Meile ist ein hervorragendes Beispiel: 1957 war Roger Bannister der erste Mensch, der es schaffte, die Meile unter vier Minuten zu laufen. An jenem Tag brach er einen zwölf Jahre alten Rekord. Ende 1957 waren es bereits 16 Läufer, denen dieselbe Leistung gelungen war. Es ist erstaunlich, wozu man fähig ist, wenn man erst einmal gesehen hat, dass ein Ziel erreichbar ist. Es dauerte zwölf Jahre, bis der Rekord fiel, und dann weniger als ein Jahr, bis 16 Personen nachgezogen hatten. Mein Ziel ist es, bezüglich der einbeinigen Kraft und Kraft im oberen Rücken die Messlatte höher zu setzen, um der Kraftsportszene zu zeigen, wie stark stark sein kann.
Einbeinige Kraft
Ich bin in meinen Büchern und Artikeln bereits ausführlich auf die einbeinige Kraft eingegangen. Als ich 2004 Functional Training herausbrachte, freute ich mich beinahe, dass einige meiner Athleten keine einbeinige Kniebeuge schafften. Ich war früher ein Befürworter unilateralen Trainings gewesen und drängte meine Sportlerinnen und Sportler förmlich zu einbeinigen Kniebeugen. 2007 fing ich aber an, meine Ansicht zu überdenken. Ich bemerkte unter meinen Athleten eine gewisse Selbstgefälligkeit. Sie waren wie ich. Sie waren zufrieden, dass sie ihre einbeinigen Kniebeugen mit zusätzlichem Widerstand absolvieren konnten. Manche wurden sogar ziemlich gut und benutzten 10-12kg schwere Kurzhanteln. Am Anfang freute ich mich darüber. Es dauerte aber nicht lange, bis unsere Fortschritte ins Stocken gerieten. Ein Teil des Problems war, dass die Kurzhanteln mit der Zeit so schwer wurden, dass man sie nicht mehr in die richtige Position heben konnte, und die Gewichtswesten, die uns damals zur Verfügung standen, nur mit 10kg beladen werden konnten. Das heißt, dass man ein Zusatzgewicht von etwa 30kg bequem verwenden konnte. Das andere Problem war, dass wir uns mit demselben Problem auseinandersetzen mussten, dass viele Coaches mit normalen beidbeinigen Kniebeugen haben. Mit zunehmender Last senkten sich die Athleten immer weniger ab. Um dieses Problem zu beheben, legten wir uns X-Vests zu. Diese lassen sich theoretisch mit bis zu 36kg beladen. Wir beluden die Westen so, dass sie 18 bis 22kg wogen.
Abbildung 1: Einbeinige Kniebeuge nach der alten Methode (auf dem Boden stehend).
Um das Problem der verminderten Tiefe zu lösen, fingen wir an, dieselbe Methode anzuwenden, die wir schon angewendet hatten, um uns bei normalen Front Squats ausreichend tief abzusenken. Wir stellten einen Kasten hinter dem Athleten auf und sagten ihm, er solle es mit dem Gesäß berühren. Der einzige Unterschied zum Front Squat war, dass er jetzt auf einem Bein stand. Nun konnten wir die Tiefe regulieren und die Belastung erhöhen. Das klingt wie ein erfolgversprechender Plan – was er zumindest teilweise auch war. Der „Pistol Squat“, den wir zu Beginn benutzten (siehe Abbildung 1) führte bei manchen Athleten, vor allem wenn sie lange Oberschenkel hatten, zu Schmerzen im unteren Rücken. Wir lösten dieses Problem, indem wir zwei Kästen verwendeten: auf dem einen standen sie und auf den anderen senkten sie sich ab.
Als nächstes testeten wir unsere Athleten. Testen ist nicht gleich Training. In den Test-situationen maßen sich die Athleten im Wettstreit. Die Ergebnisse überraschten mich. Jay Pandolfo von den New Jersey Devils schaffte auf jedem Bein 11 Wiederholungen mit 43kg Zusatzgewicht. Der Mannschaftsführer des Boston University Eishockey-Teams schaffte pro Bein 5 Wiederholungen mit 50kg (35kg Weste/15kg Kurzhantel). Im Durchschnitt schafften die Mitglieder des Eishockey-Teams 5 Wiederholungen mit 35kg. Wenn mich heute also jemand fragt, was ein guter Richtwert für einbeinige Kraft ist, dann sage ich, dass für den einbeinigen Squat 35 x 5 eine gute Leistung ist, 50 x 5 eine hervorragende Leistung. Dieselbe Situation trifft auf die Kraft des oberen Rückens und Klimmzüge zu. Wenn mich jemand fragt, was für einen Mann „stark“ ist, dann sage ich 60 x 3. Eine Frau ist stark, wenn sie 20 x 3 schafft.
Nachfolgend zähle ich auf, was meiner Erfahrung nach für einen dopingfreien erwachsenen Mann als „starke“ Leistung bei einigen klassischen Grundübungen gilt.
- Bench Press: das 1,25- bis 1,5-Fache des eigenen Körpergewichts (bei einem 90kg schweren Mann entspricht das 112 bis 135kg).
- Clean: das 1,25- bis 1,5-Fache des eigenen Körpergewichts (siehe Bench Press – ich begrüße es, wenn Athleten im Bench Press und im Clean vergleichbare Werte erzielen. Wenn dieser Zusammenhang fehlt, verbringen die Athleten zu viel Zeit mit dem Bankdrücken und nicht genug Zeit mit schnellkräftigen Bewegungen).
- Front Squat (wir machen keine Back Squats): das 1,5- bis 1,75-Fache des eigenen Körpergewichts (bei einem 90kg schweren Mann entspricht das 135 bis 158kg).
- Einbeiniger Squat: das 0,5-Fache des eigenen Körpergewichts für 5 Wiederholungen (das halbe Körpergewicht).
- Chinup: das 0,5-Fache des eigenen Körpergewichts für 1 Wiederholung (das halbe Körpergewicht). Ich begrüße es auch hier, wenn das Gesamtgewicht beim Klimmzug (Körpergewicht plus Zusatzlast) größer ist oder 1 RM beim Bench Press entspricht. Mit anderen Worten: ein Athlet, der 90kg wiegt und 127kg im Bankdrücken schafft, sollte zu einem Klimmzug mit 45kg Zusatzgewicht fähig sein.
Wir evaluieren Kraft aber auch durch den Vergleich ähnlicher oder verwandter Übungen. Es ist immer wieder erstaunlich zu sehen, wie viele Spezialisten es gibt. Meiner Meinung nach geht es aber weniger darum, in einer bestimmten Übung, auf die man sich spezialisiert hat, besonders viel Gewicht zu stemmen; viel wichtiger ist die Fähigkeit, diese Kraft in verschiedenen Situationen anwenden zu können. Wir haben in diesem Zusammenhang die folgenden Relationen entwickelt. Wir haben dabei die bewährte Methode von Versuch und Verfehlung benutzt. Aber über einen Zeitraum von zehn Jahren hinweg haben wir einige durchaus brauchbare Erfahrungen sammeln können.
Bench Press = 100%, zum Beispiel 135kg. 1 RM Incline Bench Press = 80% von 1 RM Bench Press oder 108kg. 1 RM Overhead Press mit Kurzhanteln = 40-50% Benchpress ÷ 2, d.h. 27-34kg. * Der Overhead Press ist eine verloren gegangene Kunst. Es ist erstaunlich, wie unterschiedlich das Hantelgewicht ist, das jemand bei dieser Übung im Vergleich zum Bench Press zu stemmen vermag. Ich denke, die meisten Kraftsportler könnten einen wesentlich besseren Overhead Press erzielen, aber leider ist diese Übung in Vergessenheit geraten. Mit diesem Thema haben wir uns im vergangenen Jahr ausführlicher befasst. Wir verwenden die folgende Formel für Kurzhantel-Versionen: KH-Gewicht = 80% des LH-Gewichts ÷ 2. Um das Beispiel des Bench Press mit 135kg fortzusetzen: 80% (6-7 RM) würden 108kg entsprechen. Ein KH Bench Press (6 RM) wäre 80% von 108kg ÷ 2 oder 43kg. Jemand, der im normalen Bench Press 135kg schafft, sollte also in der Lage sein, 6 Wiederholungen mit Kurzhanteln zu absolvieren, die jeweils 43kg wiegen. Für die Schrägbank greifen wir wieder auf unsere 80-Prozent-Regel zurück. Um für jemandem mit einem Bench Press von 135kg das 6 RM für den Incline Bench Press mit Kurzhanteln zu bestimmen, nehmen wir 50% von 1 RM ÷ 2 oder 34kg.
Eine andere Methode ist es, einfach 80% des Kurzhantelgewichts zu nehmen, das man beim normalen Bench Press auf der Flachbank stemmt (0,8 x 43kg = 34kg). Unser theoretischer Kraftsportler, der diese Übung mit einer 135kg schweren Langhantel ausführen kann, sollte also im Bench Press mit Kurzhanteln 43kg x 6 WH schaffen und im Incline Bench Press mit Kurzhanteln 34kg x 6 WH. Wenn wir diese Tendenz fortführen und 80% von 34kg nehmen, sollte er auch in der Lage sein, wie oben angedeutet einen Overhead Press mit einer 27kg schweren Kurzhantel zu bewältigen. Der Overhead Press ist die Übung, mit der alles steht und fällt.
Viele Athleten müssen intensiver an ihren Überkopf-Bewegungen arbeiten. Beobachten Sie nur einmal, wie die meisten Athleten den Overhead Press ausführen. Sie versuchen, aus jeder Überkopf-Bewegung eine Art schräges Drücken zu machen. So arbeitet der Teil des Brustmuskels, der am Schlüsselbein ansetzt, stärker an der Druckbewegung als der Deltamuskel. Wir haben sogar angefangen, Kurzhanteldrücken im Sitzen zu praktizieren, um bei unseren Anfängern die Hüftbewegung besser zu kontrollieren. Wir haben auch den Halbkniestand aufgegeben und machen die Übung nun im Stehen, um die Athleten dazu zu zwingen, ihre Schultern zu benutzen – und nicht die Brust. Ein Tipp: wenn Sie die Schulterkraft entwickeln wollen, dürfen Sie es ihren Sportlern oder Klienten nicht erlauben, sich mit dem Rücken an der Rückenlehne der Trainingsbank abzustützen. Sie können in Phase 1 sitzen, dürfen sich aber nicht anlehnen. Denn sonst beanspruchen sie den Brustmuskel stärker, wie beim Incline Bench Press. Kurzum: Athleten müssen auch auf einem Bein stark sein und Kraft muss sich in mehr äußern als nur im Bankdrücken. Es geht um eine umfassende Kraft, nicht um eine beeindruckende Leistung in einer einzigen Vorzeigedisziplin. Immer wenn ich einen Athleten habe, der im Bankdrücken gute Leistungen erzielt, richte ich den Trainingsschwerpunkt umgehend auf seine Hüften und seinen Unterkörper. Ich sage meinen Athleten immer: wenn du in einer unserer Testübungen schlecht abschneidest, dann ist es hoffentlich der Bench Press. Solltest du in nur einer einzigen Übung wirklich gut sein, dann ist es hoffentlich der Hang Clean. Ich stelle die Hüftkraft jederzeit über die Kraft, die man auf dem Rücken liegend entfalten kann.
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Euer Mike Boyle
Wie sieht das mit den Frauen aus?:)
Lg