Empfehlungen für ein faszienorientiertes Training in Sport und Bewegungstherapie
Wenn ein Fußballspieler wegen Wadenkrämpfen nicht auflaufen kann, ein Tennisstar sein Match wegen Knieproblemen vorzeitig abbrechen muss oder ein Sprinter mit einem Achillessehnenriss über die Ziellinie humpelt, dann liegt das Problem meist nicht in der Muskulatur oder den Knochen, sondern daran, dass bindegewebige Strukturen – Bänder, Sehnen oder Gelenkkapseln – überlastet und beschädigt wurden (Renström und Johnson 1985, Hyman und Rodeo 2000, Mackey et al. 2008, Counsel und Breidahl 2010). Ein gezieltes Training des Bindegewebes kann daher nicht nur für Sportler und Tänzer, sondern für alle bewegungsfreudigen Menschen sehr sinnvoll sein. Hat der Sportler sein Fasziennetz gut trainiert, also optimal elastisch, geschmeidig und belastbar gemacht, dann kann er seine körperliche Leistung zuverlässig abrufen und hat zudem noch eine hochwirksame Verletzungsprophylaxe betrieben (Kjaer et al. 2009).
Bis heute liegt das Augenmerk im Sport überwiegend auf der klassischen Triade Muskelkraft kardiovaskuläre Ausdauer – neuromuskuläre Koordination (Jenkins 2005). Alternative Bewegungsformen wie Pilates, Yoga, Continuum Movement oder die Kampfkünste kennen und berücksichtigen andererseits zwar die Bedeutung des Bindegewebes, aber häufig nicht die konkreten Erkenntnisse aus der modernen Faszienforschung. Um ein gesundes und widerstandsfähiges Fasziennetz aufzubauen, muss jedoch der aktuelle Wissensstand der Faszienforschung Eingang in die praktischen Trainingsprogramme finden. Wir möchten daher alle Physiotherapeuten, Trainer und Bewegungsfreudigen einladen, die in diesem Kapitel dargestellten Prinzipien zu verinnerlichen und auf ihre ganz persönliche Situation anzuwenden.
Die Plaszität der Faszie
Das Bindegewebe ist bekannt für seine eindrucksvolle Anpassungsfähigkeit: Wenn es regelmäßig und zunehmend (aber im physiologischen Bereich) belastet wird, verändert es seinen Aufbau und seine Struktur entsprechend den Anforderungen. Beispielsweise wird, da wir täglich auf zwei Beinen unterwegs sind, unsere Faszie auf der Oberschenkelaußenseite spürbar fester als auf der Innenseite. Müssten wir uns stattdessen ebenso häufig und lange auf einem Pferderücken halten, wäre es umgekehrt und nach einigen Monaten wäre die innere Oberschenkelfaszie kräftiger als die äußere (el-Labban, Hopper und Barber 1993).
Die unterschiedlichen Fähigkeiten der kollagenen Fasergewebe machen es möglich, dass sich diese Gewebe kontinuierlich an regelmäßig wiederkehrende Belastungen anpassen, und zwar vorwiegend durch Veränderung ihrer Länge, Stärke und Verschieblichkeit. Nicht nur die Knochendichte kann sich verändern, sodass beispielsweise in der Schwerelosigkeit das Skelett der Astronauten poröser wird (Ingber 2008), sondern auch das Fasziengewebe passt sich an die jeweils vorherrschende Belastung an. Durch die Aktivität der Fibroblasten reagiert das Gewebe nicht nur auf die täglichen Anforderungen, sondern auch auf gezielte Übungen mit einer kontinuierlichen Veränderung und Anpassung der Struktur des Kollagenfasernetzwerks (Kjaer et al. 2009). In einem gesunden Körper wird so innerhalb eines Jahres die Hälfte aller vorhandenen Kollagenfasern ersetzt (Neuberger und Slack 1953). Hier greift das Trainingsprogramm „Fascial Fitness“ an, um diese dynamische Erneuerung durch gezielte Übungen zu beeinflussen und im Laufe von 6 bis 24 Monaten ein fasziales seidig-geschmeidiges Ganzkörpertrikot aufzubauen, das nicht nur stark ist, sondern auch mühelos gleitende Gelenkbewegungen mit einem großen Bewegungsspektrum ermöglicht.
Auffallend ist, dass die Kollagenfasern im Bindegewebe junger Menschen mit ihrer deutlichen Wellenstruktur an elastische Federn erinnern, während sie bei älteren Menschen eher flach und gerade aussehen (Staubesand et al. 1997). Durch wissenschaftliche Untersuchungen ließ sich die bisher als optimistisch geltende Annahmebestätigen, dass durch geeignete Übungen – sofern diese regelmäßig durchgeführt werden – eine „jugendliche“ Kollagenstruktur mit welliger Faseranordnung wiederhergestellt werden kann (Wood, Cooke und Goodship 1988, Järinen et al. 2002) und auch die elastische Speicherfähigkeit des Gewebes dabei signifikant zunimmt (Abb. 7.24.1) (Reeves, Narici und Maganaris 2006). Dabei spielt jedoch offensichtlich die Art der Übungsbewegungen eine wichtige Rolle, denn in einer kontrollierten Studie, in der das Übungsprogramm langsame Kontraktionen mit geringer Belastung beinhaltete, wurde nur eine Zunahme der Muskelkraft und -masse, nicht aber der elastischen Speicherfähigkeit der Kollagengewebe erzielt (Kubo et al. 2003).
Die elastische Rückfederung der Faszie: der „Katapult-Effekt“
Kängurus können viel weitere Sprünge machen, als es ihnen die Kontraktionskraft ihrer Beinmuskulatur eigentlich erlauben sollte. Bei einer genaueren Untersuchung entdeckten Wissenschaftler, dass dieser erstaunlichen Fähigkeit eine Art Sprungfedermechanismus zugrunde liegt, den sie den „Katapult-Effekt“ nannten (Kram und Dawson 1998). Sehnen und Faszie der Beine werden dabei wie Gummibänder gespannt und durch die Freisetzung der elastisch gespeicherten Energie wird dann die erstaunliche Sprungkraft möglich. Kaum mehr überraschend war anschließend die Feststellung, dass Gazellen ebenfalls diesen Mechanismus nutzen. Auch diese Tiere haben keine besonders stark ausgebildete Muskulatur, sondern gelten im Gegenteil geradezu als Sinnbild der Grazilität, aber ihre Sprung- und Lauffähigkeit ist enorm und in Anbetracht ihres Körperbaus nur umso beeindruckender.
Die Entwicklung der hoch auflösenden Sonografie ermöglichte dann die Entdeckung, dass auch beim Menschen eine vergleichbare Arbeitsteilung zwischen Muskulatur und Faszie stattfindet. Überraschenderweise wurde dabei festgestellt, dass die menschliche Faszie bezüglich der kinetischen Energiespeicherung der der Kängurus und Gazellen nicht nachsteht (Sawicki, Lewis und Ferris 2009). Wir nutzen sie nicht nur beim Springen oder Laufen, sondern bei jedem Schritt kommt ein relevanter Anteil der Bewegungsenergie aus dem beschriebenen Federniechanismus. Auf diese neue Entdeckung hin mussten auf dem Gebiet der Bewegungsforschung einige tradierte Vorstellungen revidiert werden. Früher nahm man nämlich an, dass sich bei einer aktiven Gelenkbewegung die beteiligten Muskeln verkürzen und diese Energie durch die Sehnen passiv weitergegeben wird, sodass sich die Knochen bewegen. Nach den neueren Untersuchungen hat diese klassische Form der Energieübertragung zwar immer noch Gültigkeit – aber nur für gleichmäßige Bewegungen wie etwa beim Fahrradfahren. Die Muskelfasern ändern in diesem Fall aktiv ihre Länge, während die Sehnen und Aponeurosen kaum länger werden. Die faszialen Elemente verhalten sich hier also weitgehend passiv. Ganz anders sind die Verhältnisse bei oszillierenden Bewegungen mit elastisch-federnder Qualität. Hier kontrahieren sich die Muskeln fast isometrisch, d.h., sie werden kurzzeitig steifer, ändern ihre Länge aber kaum dabei, während sich die bindegewebigen Elemente in einer elastischen, .Iojo“-ähnlichen Bewegung verlängern und verkürzen (Abb. 7.24.2) und dadurch die eigentliche Bewegung hervorrufen (Fukunaga et al. 2002, Kawakami et al. 2002).
Interessanterweise korrespondiert die elastische Bewegungsqualität junger Menschen mit einer charakteristischen bidirektionalen, „Stützstrumprartigen Gitterstruktur der Faszien (Staubesand et al.1997). Im Gegensatz dazu nimmt die Faszie mit zunehmendem Alter- und (zumeist) Verlust des federnden Gangs – eine eher ungeordnete, multidirektionale Struktur an. Tierexperimentelle Studien zeigen, dass durch fehlende Bewegung die Ausbildung zusätzlicher Crosslinks im Fasziengewebe gefördert wird. Die Fasern verlieren ihre Elastizität und Verschieblichkeit gegeneinander, sie kleben zusammen und verfilzen im schlimmsten Fall regelrecht (Abb. 7.24.3) (lärvinen et al. 2002). Ziel des Faszientrainings ist es, die täs zialen Fibroblasten zur Ausbildung einer „jugendlichen“ und „gazellenartigen“ Faseranordnung anzuregen. Dies geschieht am besten durch Bewegungen, die das Fasziengewebe in verschiedenen Dehnwinkeln belasten und seine elastische Sprungfederkraft fordern.
Abb. 7.24.4 zeigt verschiedene Belastungssituationen für die Faszienelemente. Bei einem klassischen Training mit Gewichten wird der Muskel innerhalb seines normalen Bewegungsumfangs belastet. Dabei werden die faszialen Gewebeelemente gekräftigt, die seriell zu den arbeitenden. Muskelfasern angeordnet sind; und zusätzlich werden die quer zum Muskel durch die Faszienscheide verlaufenden Fasern angerest. Auf die extramuskuläre Faszie sowie die intramuskulären Faszienanteile, die parallel zum arbeitenden Muskel angeordnet sind, hat die Übung jedoch voraussichtlich wenig Wirkung (Huijing 1999). Die Dehnungen des klassischen Hatha Yoga werden andererseits wenig Einfluss auf Fasziengewebe haben, die seriell zu den Muskelfasern angeordnet sind, da die entspannten Muskelfasern deutlich weicher als ihre seriellen tendinösen Fortsetzungen sind und daher den größten Teil der Dehnung „schlucken“ (Jami 1992). Dafür sorgen solche Dehnungen für eine gute Stimulation der Fasziengewebe, die durch das klassische Muskeltraining nicht erreicht werden, also für die extramuskulären Faszienelemente und die intramuskuläre Faszie, die parallel zu den Muskelfasern verläuft. Ein dynamisches Belastungsmuster, bei dem der Muskel sowohl aktiviert als auch gedehnt wird, verspricht letztendlich die umfassendste Stimulation des Fasziengewebes. Dies wird erreicht durch eine Aktivierung des Muskels (z.B. gegen einen Widerstand) in gedehnter Stellung, wobei nur eine geringe oder mittlere Muskelkraft gefordert wird. Weiche, elastische Federungen im Randbereich des verfügbaren Bewegungsumfangs können zu diesem Zweck ebenfalls eingesetzt werden. Es folgen einige Hinweise, um ein solches Training besonders effektiv zu gestalten.
Trainingsprinzipien
Vorbereitende Gegenbewegung
Wir nutzen hierfür den oben beschriebenen Katapult-Effekt und beginnen vor der eigentlichen Bewegung mit einer leichten Vorspannung in die entgegengesetzte Richtung – ähnlich wie das Spannen eines Bogens, bevor der Pfeil abgeschossen wird. So wie der Bogen ausreichend Spannung haben muss, damit der Pfeil sein Ziel erreicht, wird auch die Faszie zunächst in der Gegenrichtung vorgespannt. Bei der in Abb. 7.24.5 dargestellten Beispielübung „Das fliegende Schwert“ wird die Vorspannung dadurch erreicht, dass der Körper in der Längsachse kurz etwas nach hinten gekippt und gleichzeitig nach oben gedehnt wird. Dadurch nimmt die elastische Spannung im „Faszientrikot“ zu und Oberkörper und Arme können anschließend durch eine entsprechende Gewichtsverlagerung wie von einem Katapult nach vorn und unten geschleudert werden.
Das Umgekehrte gilt für die Wiederaufrichtung, bei der das Faszienkatapult durch eine aktive Vorspannung der Rückenfaszie aktiviert wird. Beim Aufrichten aus der Vorbeuge werden zunächst kurz die Muskeln auf der Vorderseite des Körpers aktiviert. Dadurch wird der Körper momentan noch etwas weiter nach vorn unten gezogen und die Spannung der dorsalen Faszie wird verstärkt. Die in der Faszie gespeicherte Energie wird dann durch eine passive Rückfederung dynamisch freigesetzt und der Oberkörper „schwingt“ zurück in die aufrechte Haltung. Damit der Übende diese Bewegung nicht durch Muskelkraft, sondern durch die dynamische Rückfederung der Faszie erzielt, ist ein bewusstes Timing erforderlich – nicht anders als beim Spiel mit dem Jojo. Dafür muss man den idealen Schwung herausfinden, der dann gegeben ist, wenn die Bewegung flüssig und ohne Anstrengung abläuft.
Das Ninja Prinzip
Vorbild für dieses Prinzip sind die legendären japanischen Krieger, die sich angeblich geräuschlos wie Katzen bewegten und keinerlei Spuren hinterließen. Bei federnden Bewegungen – z.B. beim Hüpfen, Laufen oder Tanzen – ist immer besonders darauf zu achten, dass die Bewegung so geschmeidig und weich wie möglich abläuft. Vor jeder Richtungsänderung wird die Bewegung weich abgebremst und nach dem Richtungswechsel ebenso weich wieder beschleunigt, sodass ein fließender Ablauf ohne überflüssige oder abgehackte Elemente entsteht (Abb. 7.24.6).
Auch eine einfache Treppe kann zum Sportgerät werden, wenn sie ganz sanft begangen wird. Am besten kann man sich dabei an der Maxime „so geräuschlos wie möglich“ orientieren, denn je besser die fasziale Federung ausgenutzt wird, umso geräuschloser und sanfter wird die Bewegung sein. Es kann hilfreich sein, sich die Bewegung einer Katze vorzustellen, die zum Sprung ansetzt: Dazu wird sie zunächst einen gebündelten Impuls hinunter durch die Pfoten senden, um weich zu beschleunigen und nach dem Sprung präzise und geräuschlos zu landen.
Dynamische Dehnung
Anstatt bewegungslos in einer statischen Dehnstellung zu verharren, wird für die Faszienfitness eine fließende Dehnung empfohlen. Dabei gibt es zwei unterschiedliche Formen, eine langsame und eine schnelle dynamische Dehnung. Die schnelle Variante ist vermutlich den meisten geläufig, da sie früher beim Sport praktiziert wurde. jahrzehntelang wurde diese federnde Dehnung dann generell als gewebeschädigend abgelehnt, aber in jüngster Zeit werden ihre Vorteile durch die Ergebnisse der aktuellen Forschung wieder bestätigt. Zwar ist eine Dehnung unmittelbar vor dem Wettkampf möglicherweise kontraproduktiv, aber langfristig und regelmäßig durchgeführt, kann die dynamische Dehnung die Architektur des Bindegewebes wohl positiv beeinflussen und bei korrekter Ausführung eine optimale Dehnbarkeit und Elastizität herstellen (Decoster et al. 2005).
Muskulatur und Gewebe sollten zunächst aufgewärmt und die Bewegungen niemals abrupt oder ruckartig durchgeführt werden. Bei jeder Richtungsänderung sollte die Bewegung sinusförmig ab gebremst bzw. beschleunigt werden, sodass das Gefühl eines „eleganten“ und geschmeidigen Ablaufs entsteht. Die Wirkung der schnellen dynamischen Dehnung auf die Faszie lässt sich noch verstärken, indem sie mit einer vorbereitenden Gegenbewegung, wie oben beschrieben, kombiniert wird (Fukashiro, Hay und Nagano 2006). Beispielsweise kann bei der Dehnung der Hüftbeuger das Bein kurz nach hinten geführt werden, um es anschließend dynamisch nach vorn in die Länge zu dehnen. Langsame dynamische Dehnungen richten sich bevorzugt auf die langen myofaszialen Ketten. Statt einzelne Muskelgruppen zu dehnen, sollten Körperbewegungen gesucht werden, die möglichst lange myofasziale Ketten ansprechen (Myers 1997). Das geht nicht durch passives Ausharren wie in einer klassischen Dehnhaltung des Hatha Yoga oder bei der konventionellen Dehnung isolierter Muskeln. Vielmehr werden dafür langsame Bewegungen in unterschiedlichen Richtungen genutzt, bei denen der Winkel in jeder Richtung ganz leicht variiert wird. Dies können seitliche oder diagonale Bewegungen oder auch spiralförmige Rotationen sein. Mitdieser Technik werden größere Bereiche des Fasziennetzwerks gleichzeitig angesprochen (Abb. 7.24.7).
Aus: Schleip, Lehrbuch Faszien, 1.Auflage 2014 © Elsevier GmbH, Urban & Fischer, München
Euer Dr. Robert Schleip
toller Bericht ,war am Wochenende auf Schloss Montabaur zur Fobi Sporttherapie und Faszien..wir hatten gesprochen ;-)
vitalen Gruss
der Rüdiger