Die Kontroverse um das Dehnen, vor allem in der Therapie und im Sport, begann vor ungefähr 15 Jahren (Shrier, 1999). Bis zu diesem Zeitpunkt war man davon ausgegangen, dass das Dehnen die allgemeine funktionelle und sportliche Leistungsfähigkeit steigert, die spezifische Beweglichkeit verbessert und Verletzungen vorbeugt. Die meisten Kliniker und Therapeuten waren damals ebenso wie die Trainer aller möglichen Sportarten davon überzeugt, dass Dehnen einen notwendigen Bestandteil für erfolgreiche Ergebnisse darstellte.
In einem Artikel zum Thema The Stretching Debate (Chaitow, 2003) kommentierten verschiedene Experten die aktuelle Forschung zum Nutzen des Dehnens, die überwiegend negative Wirkungen herausgestellt hatte (Herbert & Gabriel, 2002). Viele dieser Meinungsäußerungen, die überwiegend von anerkannten manuellen Therapeuten stammten, sind emotional und spiegelten die Konflikte zwischen dem wider, was in den Augen der Therapeuten funktioniert, und dem, was nach Aussage der Forscher beim Dehnen tatsächlich passiert. Seither haben sich innerhalb der Berufe, die spezifische Therapien durchführen, erbitterte Lager für und gegen das Dehnen herausgebildet – auch unter den Fitness- und Sporttrainern. Dieses aufgeheizte Klima haben sich auch die Medien zunutze gemacht, die weiteres Öl ins Feuer gossen (Reynolds, 2013). In unseren Augen ist es daher von besonderer Bedeutung, auf diese Umstände hinzuweisen und durch eine ausgewogene Darstellung zum Thema Dehnen und allem, was dazugehört, hoffentlich etwas Licht ins Dunkel zu bringen.
Negative Forschungsergebnisse zum Thema Dehnen
Verletzungen
Im August 2002 erschien in The British Medical Journal ein Artikel, der großes Interesse erregte und in der Fachwelt eine Kontroverse entfachte. Es handelte sich dabei um eine systematische Übersicht zu Studien, die den Nutzen (bzw. den fehlenden Nutzen) von Dehnmethoden im Verhältnis zum Schutz vor Verletzungen und Muskelkater untersuchten. Die Autoren kamen in dieser Arbeit zu folgendem Schluss: »Das Dehnen vor oder nach dem Training bietet keinerlei Schutz gegen Muskel-kater. Dehnen speziell vor dem Training scheint nach dem heutigen Untersuchungsstand keinen praktischen Nutzen in Form eines verringerten Verletzungsrisikos mit sich zu bringen« (Herbert & Gabriel, 2002). Sechs Jahre nach dieser Studie bestätigte eine ähnliche systematische Übersicht die Schlussfolgerungen dieser ersten Arbeit: »Es besteht moderate bis starke Evidenz dafür, dass eine routinemäßige Anwendung statischer Dehnübungen die Verletzungsraten insgesamt nicht reduziert« (Small, 2008).
Kraft, Leistung, Geschwindigkeit
Zahlreiche Studien belegen als negative Auswirkung des Dehnens insgesamt reduzierte Parameter für die Kraft, was dazu führte, dass viele Trainer vor dem Gewichttraining und anderen kraftzentrierten Aktivitäten keine Dehnübungen erlauben (Babault, 2010; Sekir, 2010; Manoel, 2008). Im Hinblick auf Leistung und Geschwindigkeit existiert eine Studie zu den Auswirkungen des Dehnens auf das Sprinten, die die Ergebnisse anderer Studien exemplarisch wiedergibt. Die Studie basiert auf Messwiederholungen. Dabei unternahm eine Gruppe von 25 gesunden Amateurläufern jeweils einen Sprintversuch über 35 Meter, nachdem sie unmittelbar zuvor entweder eine von drei verschiedenen Arten einminütiger Dehnübungen für den Musculus iliopsoas oder aber keine Dehnübungen durchgeführt hatten. Ohne Dehnung verbesserten sich die Zeiten vor und nach dem ersten Sprint signifikant. Jedoch gab es keine statistisch signifikanten Unterschiede bei den Sprintzeiten vor und nach dem Dehnen – und zwar unabhängig davon, ob es sich um statische, ballistische oder dynamische Dehnübungen handelte. Die Autoren der Studie kamen daraufhin zu dem Schluss, dass die Sprintleistungen sich am besten ohne Dehnübungen und mit einem allgemeinen Aufwärmtraining mit Schwerpunkt auf dem Gehen verbessern lässt. Natürlich ergeben sich aus diesen Ergebnissen klinisch bedeutsame Implikationen für Läufer, die den Iliopsoas im Rahmen ihres Aufwärmtrainings vor dem Laufen dehnen. Der Vollständigkeit halber sei hier erwähnt, dass ähnliche negative Ergebnisse auch bei verschiedenen Arten von Sprüngen beobachtet wurden (Behm, 2007).
Die oben beschriebenen Studien sind Beispiele für negative Forschungsergebnisse zum Thema Dehnen. Einige Autoren empfehlen in ihren Schlussfolgerungen sogar, im therapeutischen oder sportlichen Rahmen grundsätzlich gar keine Dehnübungen durchzuführen. Werfen wir nun einen Blick auf die positiven Ergebnisse der Dehnungsforschung, um uns eine umfassende Meinung zu bilden und einen ausgewogenen Ansatz zu entwickeln, der auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht.
Positive Forschungsergebnisse zum Thema Dehnen
In einer Studie fanden die Autoren drei positive Ergebnisse des Dehnens: »(i) Nach der Dehnung besteht eine stabile Leistungssteigerung in willkürlich kontrahierten Muskeln; (ii) ein Teil dieser Leistungssteigerung bleibt nach der Entspannung des Muskels bestehen; (iii) die Leistungssteigerung übertrifft bei manchen Dehnungs-zuständen die maximale isometrische Kraft bei optimaler Muskellänge« (Lee & Herzog, 2002). Diese Studie bildet einen Gegenpol zu den Studien, die schlussfolgern, dass das Dehnen das Aufbauen von Muskelleistung schwächt. Die Studie empfiehlt weitere Forschungsarbeiten zu der Fragestellung, ob das Dehnen den Leistungs-aufbau in den Muskeln nicht sogar stärken kann. Eine jüngere systematische Übersichtsarbeit über mehrere Studien trug folgende positive Ergebnisse des Dehnens zusammen (Page, 2012):
• Durch Dehnen wird das Bewegungsausmaß vergrößert.
• Nach unilateralem Dehnen vergrößert sich das Bewegungsausmaß bilateral.
• Statisches und dynamisches Aufwärmen vergrößert das Bewegungsausmaß vor dem Training mit gleicher Wirksamkeit.
• Dehnen vor der Kontraktion, z. B. durch Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation (PNF) senkt die Erregbarkeit von Muskeln.
• Die Kontraktion vor dem Dehnen scheint im Vergleich zum statischen Dehnen größere unmittelbare Zuwächse im Bewegungsausmaß zu bringen.
• Im Gegensatz zum statischen Dehnen ist das dynamische Dehnen nicht mit Kraftoder Leistungsdefiziten assoziiert.
• Dynamisches Dehnen verbessert die Muskelleistung nach Dynamo-Metermessung sowie die Sprung- und Laufleistung.
• Statisches Dehnen vor oder nach dem Aufwärmen reduziert die Kraft nicht.
• Vier Wiederholungen einer 15-sekündigen statischen Dehnung beeinflussen das vertikale Springen nicht.
Dehnen von Geweben und Zellen
Es wurde bereits gezeigt, dass zyklisches mechanisches Dehnen von Faszien zu morphologischen Veränderungen in der Genexpression und in der Proteinsynthese führt, die sowohl die intrazelluläre als auch die extrazelluläre Matrix beeinflussen (Wang et al., 2009; Chen et al., 2008; Upton et al., 2006; Coutinho et al., 2006; Wang et al., 2004). Nicht eindeutig belegt ist, dass therapeutisches Dehnen lange genug anhält, um diese Wirkung zu erzielen. Eine ausreichende Anzahl an Wiederholungen einer Dehnung kann dies jedoch bewirken (Standley et al., 2009). Univakuoläre Adipozyten (gelbes Speicherfettgewebe) sind reichlich im areolären Bindegewebe und dort vertreten, wo Fasziengewebe Scher- und Gleitbewegungen unterworfen sind. Jüngste Forschungen haben gezeigt, dass sie endokrine Funktionen ausüben, die unter anderem Östrogen, Peptide und Zytokine sowie das wichtige Zytokin Transforming Growth Factor (TGF) betreffen. Humorale Faktoren werden über den Blutstrom in die Adipozyten und aus ihnen heraus transportiert (Schleip, 2012). Daraus ergibt sich die Frage, ob nicht etwa die Möglichkeit besteht, dass gezieltes Dehnen der Faszien, Scher- und Gleitkräfte erzeugt, die endokrine Funktionen an den Stellen stimuliert, wo sie in Fällen von pathologischer Faszienversteifung, Narben, Verletzungen oder anderen Leiden Defizite aufweist? Spezifische Reaktionen von Klienten lassen diese Annahme plausibel erscheinen.
Es gibt Studien, die belegen, dass das mechanische Dehnen von Gewebe eine Umformung des Zellkerns in den Fibroblasten des Bindegewebes induzieren kann und dass Dehnen innerhalb von Minuten zu einer Umformung des Zytoskeletts führt, die zur Bindegewebespannung beiträgt (Langevin et al., 2010). Die Gewebedehnung erhöht die Menge an Kollagen und Transforming Growth Factor 1 (TGF-ß1). Allerdings ist gegenwärtig noch sehr wenig über das biomechanische Verhalten von lockerem Bindegewebe bekannt (Langevin et al., 2011, 2008, 2003). Es häufen sich jedoch triftige Belege dafür, dass das Bindegewebe als körperweites mechanosensitives Signalnetzwerk funktioniert (Langevin, 2006).
Studien zum Dehnen aus dem richtigen Blickwinkel betrachten
In der Forschung zum Dehnen lassen sich einige grundsätzliche Probleme erkennen. Von unserem Standpunkt aus besteht eines der großen Probleme der Studien darin, dass der Begriff »Dehnen« nicht ausreichend definiert wird. Auch nach der Überprüfung einzelner Studien müssen wir feststellen, dass die Mehrheit der Autoren nur mäßig spezifische Angaben zur Art der untersuchten Dehnung macht, indem zum Beispiel meist »statische Dehnung« angegeben wird. In den Schlussfolgerungen ist die Terminologie noch weitaus ungenauer, da hier der allgemeine Begriff »Dehnung« verwendet wird, ohne ihn mit einem Adjektiv wie etwa »statisch« präziser zu bestimmen (Thacker et al., 2004). Konsequenzen hat dies vor allem dann, wenn lediglich die Schlussfolgerungen und nicht die Details einer solchen Studie gelesen werden (was häufig der Fall ist) und die verkürzten Schlussfolgerungen mit falschem Verständnis weiterverbreitet werden, etwa: »Dehnung bewirkt dies oder das« … Genauer müsste es zum Beispiel heißen: »Statische Dehnung mit den spezifischen Anwendungsparametern dieser Studie bewirkt dies oder das.« Unserer Meinung nach resultieren daraus die unkorrekten Aussagen über das Dehnen, die in Medien und Fachzeitschriften kursieren.
Es muss an dieser Stelle unbedingt erwähnt werden, dass ein Großteil der negativen Studienergebnisse zum Thema Dehnen der letzten zehn Jahre aus der Forschung zum statischen Dehnen hervorging (McHugh & Cosgrave, 2010). Ebenso muss beachtet werden, dass die Autoren der meisten Studien zum Dehnen den Versuch unternommen haben, die Dehnung auf einen leicht zugänglichen Muskel zu beschränken, zumeist auf die hintere Oberschenkelmuskulatur (Slavko, 2013). »Statisch« und »hintere Oberschenkelmuskulatur« sind natürlich lediglich zwei aus einer Vielzahl von Variablen, die in der Dehnungsforschung untersucht und gesteuert werden können. Leider sind dies die beiden häufigsten Variablen in der Forschung zur Dehnung von menschlichem Gewebe. Viele andere klinisch relevante Variablen, die in der Dehnungstherapie angewandt werden können, bleiben im Großen und Ganzen außen vor (Page, 2012). So haben wir bislang keine Studie gefunden, die eine beliebige Art der Dehnung von tonischer gegenüber phasischer Muskulatur vergleicht oder differenziert. Viele negative Meldungen zum Dehnen und die begleitenden Ratschläge aus Fitness- und therapeutischen Quellen erscheinen uns daher bestenfalls eingeschränkt wirksam – im schlimmsten Fall jedoch schädlich zu sein. Die Empfehlungen stammen großteils aus begrenzten, evidenzbasierten Studien und nicht etwa aus systematischen Übersichtsarbeiten, die Methoden oder Ansätze des klinischen assistierten Dehnens miteinander vergleichen, ganz zu schweigen von selbst durchgeführten Dehnübungen.
Ein noch viel größeres Problem bei der Verwendung von Studienergebnissen für die Orientierung in der klinischen Praxis benennt ein kürzlich im Wall Street Journal veröffentlichter Artikel. Demnach »lassen sich die meisten Ergebnisse, einschließlich solcher, die in renommierten Fachzeitschriften mit Peer-Review veröffentlicht werden, nicht reproduzieren« (Naik, 2011). Bruce Alberts, Herausgeber der Fachzeitschrift Science, wird in diesem Artikel mit folgenden Worten zitiert: »Das ist ein ernst zu nehmendes Problem, weil es Leser in die Irre führt, die sich implizit auf Ergebnisse verlassen, die in einer renommierten Fachzeitschrift mit Peer-Review Verfahren abgedruckt werden.« Alberts widmete daraufhin einen großen Teil der folgenden Ausgaben seiner Zeitschrift dem Problem der Replikation in der Wissen-schaft (Jasny, 2011). Festzuhalten bleibt, dass man die Ergebnisse wissenschaftlicher Studien mit derselben angebrachten Skepsis betrachten muss wie einen anekdotischer Bericht eines vertrauenswürdigen Kollegen oder Mentors. Das eine ist nicht besser oder notwendigerweise exakter und ganz sicher nicht zuverlässiger als das andere, wenn man den zahlreichen Quellen Glauben schenkt, die in jüngerer Zeit die Fehlbarkeit wissenschaftlicher Methoden aufgedeckt haben.
Empfehlung
Aus diesem Grund empfehlen wir dem Kliniker, der evidenzbasierte Protokolle für Dehnübungen verwenden möchte, Studienergebnissen ausschließlich in dem spezifischen Ausmaß zu folgen, für das sie abgeleitet wurden. Der Therapeut sollte also nicht davon ausgehen, dass die Ergebnisse beispielsweise auch für Muskeln und/oder andere Gewebe gelten, die in der Studie nicht untersucht wurden. Leider geistern rund um das Dehnen in allen Bereichen immer noch falsche und potenziell schädliche Annahmen und Verallgemeinerungen herum.
Wir pflichten hier einem klinischen Kommentar von 2012 bei, in dem aktuelle Konzepte von Interventionen zur Muskeldehnung erörtert und die Datenlage zum Dehnen zusammengefasst werden, wie es im Training und in der Rehabilitation Usus ist (Page, 2012). Wie in diesem Kapitel führt der Autor negative und positive Ergebnisse zum Dehnen an und stellt dann fest, dass mehrere Autoren individuelle Reaktionen auf das Dehnen beobachtet haben. So scheint die Wirksamkeit der Dehnungsart im Zusammenhang mit Alter und Geschlecht zu stehen: Männer und ältere Erwachsene unter 65 Jahren sprechen demnach besser auf Anspannungs- Entspannungs-Dehnen an, während Frauen und ältere Erwachsene über 65 Jahren mehr vom statischen Dehnen profitieren. Ebenso sind bei älteren Erwachsenen 60-sekündige Haltephasen bei statischen Dehnübungen im Vergleich zu kürzeren Haltephasen mit einer größeren Verbesserung bei der Beweglichkeit der hinteren Oberschenkelmuskulatur assoziiert. Immer mehr Studien dieser Art weisen darauf hin, dass Dehnprogramme möglicherweise individualisiert werden müssen, um optimale Ergebnisse zu erzielen. Dies deckt sich mit unseren Beobachtungen aus der Praxis: Standardprotokolle im Dehn- und Beweglichkeitstraining wirken bestenfalls mittelmäßig und sind schlimmstenfalls sogar schädlich.
Die beste Strategie für optimale Ergebnisse beim Klienten ist unserer Meinung nach eine Kombination aus den Erfahrungen der eigenen Berufspraxis und dem Input von erfahrenen Kollegen oder Mentoren, die – je nach Bedarf – durch aktuelle Forschungsergebnisse untermauert werden. Fest steht, dass die Wissenschaft zwar in der Erforschung der Bindegewebe stetig Fortschritte macht und Ergebnisse bringt, die das Dehnen in verschiedenen manuellen Therapien teilweise klar unterstützen. Doch hinken dabei die praktischen Parameter für eine breite Palette an klinischen Anwendungen weit hinterher. Die Palette an Möglichkeiten, mehrere Arten von Dehnübungen mit der Anwendung vielgestaltiger Parameter zu kombinieren, muss erst noch erforscht werden. Manche oder sogar viele dieser Möglichkeiten könnten durchaus zu positiven Ergebnissen führen. Die praxisbasierte Evidenz (zusammen mit glaubwürdiger Unterstützung aus der Faszienforschung) hat mit Sicherheit zu vielen positiven Ergebnissen im Zusammenhang mit dem Dehnen geführt. Wir brauchen sowohl verlässliche und valide klinische Anekdoten als auch hochwertige Forschungsarbeiten, um die besten Ergebnisse bei unseren Klienten zu erzielen. Hilfreich ist es jedoch, erst einmal eine angemessene Definition dessen aufzustellen, was wir untersuchen, nämlich Beweglichkeit und Dehnen.
Eure Ann und Chris Frederick