Es sind eindeutig vor allem raffinierte Kohlenhydrate bzw. Kohlenhydratquellen, die den Menschen munden. Raffiniert ist Getreide, das von Ballaststoffen befreit und als feines weißes Mehl verarbeitet ist. Man kann auf dem Weg in die Arbeit, nach Hause oder zum Zug, zum Flugzeug oder nach dem Tanken an jeder Ecke zugreifen: weiße Brötchen, Hörnchen und Brezeln in allen Variationen, Croissants und Baguettes oder Pizzabrote. Die gebackene Stärke wird meist entweder kräftig gesüßt oder mit etwas Fett und Eiweiß in Form von Käse oder Fleischwaren belegt. Und das ist genau die Kombination von Eiweiß mit blutzuckerund insulintreibender Stärke, die den Fettspeicher besonders gut füllt.
Alternativ greifen die Verbraucher gerne als letzte Rettung vor dem drohenden Hunger zu stark verarbeiteten Nahrungsmitteln wie Riegeln, Joghurts, gezuckertem Pudding und anderen Desserts oder Knabberwaren. Das sind erstaunliche Kompositionen aus den kostengünstigsten tierischen und pflanzlichen Grundstoffen wie gehärteten Fetten, Billig-Ölen, Schlachtabfällen, Stärke, Zucker, texturiertem Eiweiß und so weiter – wobei das alles erst durch geschickte Zugabe von Geschmacks-, Aroma- und Farbstoffen genießbar gemacht wird. Dabei investiert die Industrie viel Geld in Chemie, Marktforschung und Werbung, um mit ihren Kreationen die Geschmacksvorlieben möglichst perfekt zu treffen und um ein Bedürfnis zu schaff en. Das Ziel ist, dass möglichst viele Menschen diese Produkte viel lieber essen als »langweilige« natürliche Nahrung. Gerne nehmen sie gegen ihren Durst noch eine Cola, einen Eistee oder einen Energy-Drink dazu. Oder ein Fruchtmilch-Getränk, die Variante für Gesundheitsbewusste mit nur 0,5 Prozent Fett, aber mit 55g Zucker und 315 Kilokalorien im Becher!
Nicht verdauliche Kohlenhydrate
Was von der Industrie nicht oder nur in besonders ausgelobten Produkten belassen oder nachträglich wieder zugesetzt wird, sind jene Stoffe in den Kohlenhydrat-quellen, die wirklich gesund und wichtig wären: die nicht verdaulichen Kohlenhydrate. Die Ballaststoffe! Stärke und Zucker, die verdaulichen Kohlenhydrate, braucht kein Mensch, denn Kohlenhydrate gehören nicht zu den essenziellen Nährstoffen.
Der Körper benötigt zwar eine geringe Menge Glukose für manche Gehirnzellen, für die roten Blutkörperchen und für das Nierenmark, kann diese aber mithilfe seines Stoffwechsels aus Aminosäuren, Glycerin und Laktat (Milchsäure) selbst herstellen. Dieser Prozess heißt Glukoneogenese und ist ein natürliches Stoffwechsel-verfahren, mit dem die Menschheit seit jeher bei Nahrungs- oder Kohlenhydratknappheit gesund überleben konnte.
Einteilung der Ballaststoffe
Ballaststoffe werden in Abhängigkeit von ihren chemischen, physikochemischen und physiologischen Eigenschaften unterschiedlich eingeteilt. Die gebräuchlichste ist die nach der Löslichkeit:
- Lösliche Ballaststoffe können sehr große Mengen Wasser aufnehmen (bis ca. 60 ml pro Gramm).
- Unlösliche Ballaststoffe nehmen nur geringe Mengen Wasser auf (ca. 3 ml pro Gramm).
- Zellulose, einige Hemizellulosen, Lignin und resistente Stärke sind unlöslich, alle übrigen relevanten Ballaststoffe sind wasserlöslich.
Der bekannteste Ballaststoff ist sicherlich die Zellulose. Wie die Stärke gehören Zellulose und Hemizellulose zu den »komplexen Kohlenhydraten«. Stärke und Zellulose bestehen sogar zu 100 Prozent aus dem gleichen Grundstoff , dem Glukosemolekül, das hundert- oder tausendfach verknüpft ist. Der Unterschied ist lediglich die Art der Verbindung dieser Glukoseeinheiten: Die eine chemische Bindungsart kann von Verdauungsenzymen aufgespalten werden, die andere nicht. So ist eines leicht und schnell verdaulich und das andere unverdaulich.
Komplexe Kohlenhydrate
Die weitverbreitete Empfehlung zu einer Ernährung »reich an komplexen Kohlenhydraten« ist für mich nicht nachvollziehbar. Wenn wir bei dem heutigen Lebensstil etwas nicht brauchen, dann ist das eine große Menge Stärke, die in Windeseile zu schnell verfügbarem Zucker (Glukose) aufgespalten wird. Was mit dem Rat wahrscheinlich gemeint ist: Man sollte viele unverdauliche Kohlenhydrate, beispielsweise aus den Randschichten des Getreides, essen, das heißt in Form von Frischkornmüsli und Vollkornschrotbrot.
Wir könnten aber auch gekochte Kartoffeln als Salat oder Bratkartoffeln teilweise dazuzählen, da sie eine andere sehr interessante komplexe Kohlenhydratart
enthalten – die »resistente Stärke«. Darunter wird jener Anteil der Stärke verstanden, der entweder natürlicherweise oder nach einer Hitzebehandlung der Aufspaltung durch Verdauungsenzyme im Dünndarm entgeht und somit unverändert in den Dickdarm gelangt. Dort leben Milliarden von Darmbakterien und freuen sich darüber. Früher bezeichnete man diese Mitbewohner als Darmflora, heute als Mikrobiota. Die Bakterien leben vor allem von den Kohlenhydraten, die es bis in den Dickdarm geschafft haben. Das sind natürlich die »unverdaulichen«. Die Mikrobiota steuern unseren Körper offenbar viel stärker, als man sich das bisher vorstellen konnte. Damit die richtigen Darmbakterien in genügender Menge gewünschte Effekte erzielen können, benötigen sie eine geeignete Nahrung. Dabei dreht es sich in erster Linie um die Vergärbarkeit der Ballaststoffe. Wir müssen ihnen ein möglichst breites Spektrum an fermentierbaren Ballaststoffen anbieten, damit alle verschiedenen »guten« und schützenden Darmbakterien im Wachstum gefördert werden. Zu wenig Ballaststoffe oder eine zu einseitige Versorgung verursachen eine Fehlbesiedelung des Darms, die in der Fachsprache Dysbiose heißt. Dann können sich die »falschen« Bakterien stark vermehren und als Krankheitserreger agieren.
Gutes Futter für die Mitbewohner
Eine Ernährung mit viel Stärke und Zucker, aber nur wenig unverdaulichen Anteilen ist für eine gesundheitsförderliche Darmbesiedelung ungeeignet. Man nennt sie deshalb auch häufig »tote« Nahrung. Diese Bezeichnung ist durchaus treffend, denn hierbei können wichtige Mikrobiota nicht überleben. Die DGE empfiehlt mindestens 30g Ballaststoffe pro Tag. Die Bakterien brauchen solche für uns unverdaulichen Nahrungspartikel, primär allerdings die löslichen Ballaststoffe und von den unlöslichen die sogenannte resistente Stärke als Energiequelle. Beim Flexi-Carb-Prinzip schließe ich mich der DGE-Empfehlung von 30g Ballaststoffen an, mein Fokus liegt allerdings mehr auf den löslichen. Erreicht wird diese Menge bei heutiger Durchschnittskost nur von wenigen Verbrauchern.
Schützen Ballaststoffe vor Übergewicht?
Was haben Ballaststoffe mit der Prävention von Übergewicht zu tun? Ein Blick in die Kalorientabelle zeigt den offensichtlichsten Effekt. Je gröber ein Vollkornbrot, desto weniger Kalorien enthält es! Wir essen mit den unverdaulichen Randschichten des Korns etwas, was zwar den Magen füllt und sättigt, was aber keine verwertbaren Kalorien liefert. Um nicht zuzunehmen, müssen wir dafür sorgen, dass nicht mehr Kalorien in den Körper hineinkommen, als von ihm verbraucht werden. Mit einem hohen Ballaststoffanteil sinkt entsprechend das Risiko für eine positive Energiebilanz. Generell gilt für alle Lebensmittel: Je höher der Ballaststoffanteil (und Wasser-gehalt), desto niedriger ist die Energiedichte, die man praktischerweise so ausdrückt:
Energiedichte = Kilokalorien pro 100g Nahrungsmittel
Entsprechend wird die Energiedichte einer ganzen Mahlzeit umso geringer ausfallen, je höher der Anteil schwerer und voluminöser, das heißt ballaststoff- und wasserreicher Lebensmittel in der Mahlzeit ist. Ballaststoffe sorgen darüber hinaus für eine gute Sättigung. Die Effekte beginnen bereits in der Mundhöhle. Ballaststoffreiche Lebensmittel muss man länger kauen, dadurch verlangsamt sich die Nahrungsaufnahme. Da erst nach etwa 20 Minuten ein spürbares Sättigungssignal unser Zentralnervensystem (ZNS) erreicht, vermindert sich auch die Kalorienaufnahme.
Weiterhin erhöht sich aufgrund des hohen Wasserbindungs- und Quellvermögens der Ballaststoffe im Magen und Dünndarm das Volumen des Nahrungsbreis, der auch zähflüssiger wird. Ein großes Nahrungsvolumen ist Voraussetzung für die Dehnung der Magenwand, denn erst durch den Dehnungsreiz wird ein hormonelles Sättigungssignal an das ZNS gesendet. Wenn der zähe Brei zudem langsamer in den Dünndarm gelangt, bleibt der Sättigungseffekt länger erhalten. Ein ballaststoff-reicher Nahrungsbrei im Dünndarm fördert zusätzlich die Ausschüttung zweier Hormone, die dem ZNS als Signalstoffe auf dem Blutweg Sättigung melden: das Cholecystokinin (CKK) und das gastroinhibitorische Polypeptid (GIP, glucagon-like-peptide).
Fazit
Je ballaststoff- und wasserreicher eine Mahlzeit ist, je mehr Gewicht sie hat und je voluminöser sie ist, desto schneller und stärker erfolgt die Magendehnung und damit die Sättigung – und das unabhängig vom Energiegehalt. Eine gute Sättigung mit wenig Kalorien, also bei niedriger Energiedichte, ist eine wichtige Voraussetzung zur erfolgreichen Gewichtskontrolle.
Euer Nicolai Worm