Let´s go!
Die Basis athletischer Bewegungen
Gehen zählt zu den ursprünglichen Bewegungsmustern, den sogenannten Primal Movement Patterns, und ist die Grundlage der menschlichen Fortbewegung. Was für uns selbstverständlich ist und völlig unspektakulär aussieht, entpuppt sich jedoch als ein hochkomplexer neuromuskulärer Ablauf, dessen Reifung und Perfektionierung unsere ersten Lebensjahre maßgeblich bestimmen. Personal Trainer Philipp Moser veranschaulicht in der Ausgabe 1/2022 des FUNCTIONAL TRAINING MAGAZINs die Grundlagen des Gangzyklus und erklärt, wie man wichtige Teilaspekte des Gehens mit einem einfachen Self-Assessment untersuchen kann.
Der aufrechte Gang ist wohl das offensichtlichste Unterscheidungsmerkmal des Menschen von anderen Säugetieren und wurde wahrscheinlich über Jahrmillionen von Generation zu Generation angepasst und perfektioniert. Auf zwei Beinen zu gehen, ist fest in unserem neuronalen System verankert und somit Teil der menschlichen DNA. Gehen hat sich für uns Menschen als die effizienteste Art der Fortbewegung ständig weiterentwickelt. Weil dieses fundamentale Fortbewegungsmuster für die meisten von uns so mühelos und selbstverständlich abläuft, vergessen wir leicht, dass es sich hierbei um einen äußerst komplexen Vorgang handelt, dem ein mehrjähriger – oft steiniger – Lernprozess vorausgeht.
Auch die meisten athletischen Bewegungen wären ohne das Bewegungsmuster Gehen undenkbar, was vermutlich auch der Grund ist, weshalb man das Gehen gemeinsam mit Laufen und Springen als ein gemeinsames Bewegungsmuster (Primal Movement Pattern – Gehen/Laufen/Springen) ansieht. Dennoch wird Gehen im funktionellen als auch im athletischen Training oft stiefmütterlich behandelt, während man den Fokus vor allem auf Laufen, Sprinten, Springen und Hüpfen legt. Dies ist insofern bedauernswert, als Gehen die Basis all dieser athletischen Bewegungen darstellt und das Optimieren des Gangzyklus einen wertvollen Beitrag zur Verbesserung der nachgestellten Bewegungsmuster leisten kann.
Studien weisen darauf hin, dass richtiges Gehen auch Überlastungen und Fehlbelastungen des Bewegungsapparates vorbeugen kann. So fand eine australische Studie bereits 1994 heraus, dass bei suboptimalem sensorischem Input der Füße in Verbindung mit eingeschränkter Sprunggelenksmechanik beim Gehen die Glutealmuskulatur viel zu spät und zu schwach angesteuert wird, was zu einer erhöhten kompensatorischen Aktivität der Rückenstrecker führen kann. Ebenso weisen in solchen Fällen auch die Hamstrings ein relativ diffuses und unkoordiniertes Ansteuerungsmuster auf; in der Summe vermutet man dadurch ein höheres Risiko für Verspannungen und Beschwerden entlang der Wirbelsäule (siehe Abbildung 1). Vor diesem Hintergrund ist es auch verständlich, dass Experten wie Gray Cook und Josh Henkin dazu raten, zuerst das Gangmuster zu untersuchen bzw. zu verbessern, bevor man Loaded Carries in das Trainingsprogramm einbaut.

Zwei Muster der Fortbewegung
Bedenkt man, dass jeder Fuß beim Gehen nur etwa 0,6 bis 0,8 Sekunden lang Bodenkontakt hat und dass in dieser kurzen Zeit Hunderte Knochen, Gelenke und Muskeln gleichzeitig klar definierte Bewegungsaufgaben zu erfüllen haben, wird verständlich, dass Ganganalysen sehr komplex sein können. Es gibt einfach zu viele Akteure, die dazu noch in drei Bewegungsachsen (frontal, sagittal, transversal) aufeinander abgestimmt werden müssen, um einen optimalen Gangzyklus zu vollbringen. So beeinflussen beispielsweise die individuelle Morphologie der beteiligten Gelenke und Muskeln, die Schrittlänge, die Spurbreite und der Ausprägungsgrad von Koordination und Beweglichkeit das Gangbild eines jedes Menschen.
Genau genommen gibt es zwei Möglichkeiten, sich auf der Erdoberfläche fortzubewegen: am Boden landen und sich vom Boden abdrücken. Die Phase zwischen dem Aufsetzen des Fußes (Landen) und dessen Beschleunigung weg vom Boden (Abdrücken) bis zum nächsten Aufsetzen bezeichnet man als Gangzyklus; dieser kann biomechanisch untersucht und analysiert werden.
Beim Aufsetzen auf dem Boden haben nahezu alle Strukturen des Bewegungsapparates die Aufgabe, Stoßbelastung abzubauen und gleichzeitig ein möglichst ökonomisches Einleiten der Abdrückphase zu gewährleisten. Durch ein ausgeklügeltes System exzentrischer Vorspannung und multipler Gelenkrotationen können im Idealfall Druckkräfte bis zum Schädel hinauf um ca. 90 Prozent reduziert werden. Dabei beginnt alles beim Fuß, der in Kombination mit dem Sprunggelenk und der Wade allein schon beinahe 50 Prozent der Stoßenergie absorbieren kann. Die Wichtigkeit des Fußes kann man schon allein aus der Menge seiner Knochen erahnen – so befinden sich in beiden Füßen gemeinsam rund 25 Prozent aller Knochen im Körper.
Physiologischer Gangablauf
Beim Aufsetzen kommt es zu exzentrischen Dehnungen der plantaren Muskulatur und der Faszien, die Knochen der Fußgewölbe sinken in Richtung Boden ein und führen in eine Pronationsstellung des Fußes. Die Folge ist eine Kaskade mehr oder weniger zeitgleich ablaufender musculoskeletaler Ereignisse. Mit der Pronation im Fuß flektiert das darüber liegende Sprunggelenk dorsal und rotiert dabei leicht nach innen, was wiederum zu Flexionen und Rotationen im ipsilateralen Knie und in der ipsilateralen Hüfte führt. Durch die Dehnung der Fußmuskulatur werden sämtliche Bein- und Hüftmuskeln aktiviert, die wiederum auf die optimale Ausrichtung von Becken, Wirbelsäule und Schultergürtel Einfluss nehmen. Das Becken kippt nach vorn (anterior pelvic tilt) und bringt damit Hamstrings und Gluteus in optimale Vorspannung. Um eine Schwerpunktverlagerung nach vorn zu verhindern, müssen nun die Brustwirbelsäule gestreckt und die Schulterblätter nach hinten gezogen werden.
Nachdem die initiale Pronation für die optimale Vorspannung im Gewebe gesorgt hat, wird diese wenige Zehntelsekunden später dazu genutzt, das Bein wieder konzentrisch vom Boden abzudrücken und damit den Körper nach vorn zu bewegen. Das plantare Gewebe (Muskeln, Faszien) sorgt nun für die Aufrichtung der Gewölbe und der Fuß wechselt in eine Supinationsstellung, wobei dieser auch plantarflektiert wird. Auch die Knie und die Hüftgelenke werden gestreckt, während das Becken wieder leicht nach hinten kippt, die Wirbelsäule flektiert und die Schulterblätter von einer Retraktion in eine Protraktion übergehen. Die zuvor gedehnten Muskeln kontrahieren nun konzentrisch und schließen einen Dehnungs- Verkürzungs-Zyklus ab. Alles ist darauf ausgerichtet, Hebel zu generieren, die genügend Abdrückkraft generieren und den Körper voranbringen.
Dieser kurze, vereinfachte Abriss verdeutlicht, wie viel Feintuning notwendig ist, um einen Gangzyklus unter Normalbedingungen optimal zu durchlaufen. Sobald man jedoch zusätzliche Lasten aufnimmt (z. B. Loaded Carries) oder das Tempo erhöht (Laufen, Springen), reagieren all diese „Variablen“ (Knochen, Gelenke, Weichgewebe) noch sensibler auf etwaige Normabweichungen; Kompensationen und Überlastungen können die Folge sein.
Gehen ist individuell
Jeder Mensch hat seine individuelle und einzigartige Anatomie, weshalb auch jeder Mensch anders geht. So erklärt sich auch, dass wir uns nahestehende Menschen bereits an ihrem Gang erkennen, denn alle Variablen innerhalb des Gangzyklus finden unterschiedliche Ausprägungen. So gesehen hat jeder irgendwo in diesem komplexen System seine Schwachstellen und unbewusst eine geeignete Bewegungsstrategie gefunden, diese Schwachstellen zu kompensieren. Wo die individuellen Schwachstellen liegen, kann man im Idealfall mit einem einfachen, aber durchaus aufschlussreichen Self-Assessment herausfinden. Auch wenn die folgenden zehn Bewegungsmuster noch keine detaillierte wissenschaftliche Ganganalyse darstellen, so können sie zumindest die eigene Körperwahrnehmung schärfen und für die unterschiedlichen Facetten des Gehens sensibilisieren. Erst wer selbst erfährt, wozu sein Körper in der Lage ist, hat auch die Fähigkeit und das Sensorium, dies auch bei anderen zu erkennen. Gerade als Trainer neigt man bei seinen Kunden oft dazu, nur zu sehen, was man selbst kennt bzw. womit man sich selbst schon beschäftigt hat. Das folgende Self-Assessment kann somit auch dazu beitragen, als Trainer ein bestimmtes Gangverhalten der Kunden besser einzuordnen und zu verstehen.
Self-Assessment
Für die folgenden Tests stellt man sich beidbeinig, hüftbreit und locker hin und führt die unterschiedlichen Bewegungen jeweils in beide Richtungen aus. Man achtet dabei einerseits auf Symmetrie, andererseits auf Seitigkeiten bzw. unterschiedliche Bewegungsausschläge und mögliche Restriktionen. Treten Kompensationsbewegungen in benachbarten Gelenken oder Körperregionen auf? Wie fühlt sich die Bewegung an? Gibt es Unterschiede zwischen links und rechts bzw. vorn und hinten? Wie sind die muskulären Spannungsverhältnisse im Vergleich? Am besten führt man dieses Assessment barfuß und leicht bekleidet vor einem Spiegel durch.
1. Fuß/Sprunggelenk/Bein
- Pronation und Supination
- Dorsalflexion und Plantarflexion
- Zirkumduktion nach links/rechts
- Locker stehen und Rotationswinkel der Beine bzw. Ausrichtung der Füße beachten. Liegen Symmetrien vor?
2. Becken und Lendenwirbelsäule
- Becken vorwärts und rückwärts kippen (anterior/posterior pelvic tilt)
- Becken links und rechts nach oben ziehen (Lateralflexion der LWS, Hip-Hike)
- Becken nach links und rechts rotieren, mit und ohne entsprechende Rotation im Schultergürtel. Drückt die kontralaterale Hüfte oder zieht die ipsilaterale Hüfte?
- Einbeinig kniegebeugt stehen: ipsilateralen Hip-Drop bzw. kontralateralen Hip-Hike wahrnehmen und Ausprägung zu beiden Seiten beobachten
3. Brustwirbelsäule
- Flexion und Extension, während der Thorax lotrecht über dem Becken bleibt
- Lateralflexion nach links und rechts ohne kontralaterale Kompensation des Beckens
- Rotation nach links und rechts, während das Becken stabil bleibt. Zieht die ipsilaterale Rückenmuskulatur oder drückt die kontralaterale Bauchmuskulatur?
4. Schultern
- Arme passiv hängen lassen und Rotationswinkel beachten. Wohin zeigen die Daumen und liegt eine Symmetrie vor?
- Arme passiv hängen lassen: Innen- und Außenrotation. Sind die Amplituden zu beiden Seiten identisch?
- Zirkumduktion der Arme vorwärts und rückwärts
- Protraktion und Retraktion der Schulterblätter. Mit oder ohne Extension/Flexion der BWS möglich?
Dieses Self-Assessment nimmt nur wenige Minuten in Anspruch und kann erste Hinweise auf Ungereimtheiten bzw. Einschränkungen im Gangzyklus liefern. In dieser Hinsicht gibt es auch für Trainer und Therapeuten keine One-size-fitsall- Lösungen. Da unser Körper im Zweifelsfall seine Bewegungsqualität zugunsten seiner Bewegungsquantität opfert, können suboptimale Gelenkbewegungen auch im Gangmuster lange gut kompensiert und kaschiert werden. Langfristig lässt sich die Bewegungsquantität jedoch nur erhalten oder erweitern, wenn auch die Bewegungsqualität – in diesem Fall ein sauberer Gangzyklus – stimmt. Denn Gehen bildet die Basis von fast allen athletischen Leistungen.

Philipp Moser ist Personal Trainer, Mentaltrainer und Lehrbeauftragter im Gesundheitsund Trainingsbereich. Er befasst sich intensiv mit funktionellem Kraft- und Bewegungstraining, Sporternährung, Stand-up-Paddling (SUP) sowie dem Basketballsport. Als freier Autor verfasst er SUP-Guides sowie Fachartikel. Seine Publikationen findest du u. a. auf: www.bodymindfit.at
Quellenverzeichnis:
Moore, I., Goom T. & Ashford, K. (2021). Gait Retraining for Performance and Injury Risk. The Science and Practice of Middle and Long Distance Running. Routledge.