Muskuläre Verletzungen unterschiedlicher Intensität haben die meisten Sportler schon einmal am eigenen Leib erfahren. Viele Zerrungen erfordern keine besondere Therapie. Deshalb werden Muskelverletzungen von Sportler, Trainer oder Therapeuten oft als Bagatelle betrachtet. Die Muskelgruppe mit den häufigsten Muskelzerrungen, Muskelfasern- oder Muskelbündelrissen ist die Oberschenkelrückseite, genauer des Beinbizeps (auf Englisch Hamstring Injury).
Beim Fußball gehören muskuläre Verletzungen der Oberschenkelrückseite zu den häufigsten Verletzungen überhaupt. Vor allem handelt es sich um Verletzungen, die dazu tendieren wieder und wieder aufzutreten. In ca. 1/3 aller Fälle lag in der Vergangenheit schon einmal eine Verletzung des Beinbizeps vor.
Erst die Diagnose, dann die Therapie
Die Diagnostik und Therapie richten sich in ihrem Umfang sehr stark nach dem Leistungslevel des Sportlers. Während bei Spitzensportlern unmittelbar eine Untersuchung mit Ultraschall und MRT erfolgt, mit der das Ausmaß und die genaue Lokalisation der Verletzung bestimmt werden, lautet die Empfehlung im Breitensport meistens vorübergehende Sportpause und Salbenverbände.
Eine Ultraschalluntersuchung alleine ist auf Basis verschiedener Vergleichsstudien nicht ausreichend, da hierbei bis zu 40% der muskulären Verletzungen übersehen werden. Optimal ist es, wenn ein MRT innerhalb der ersten drei Tage erfolgt. Ist eine Verletzung dort nicht nachweisbar, so ist das ein prognostisch positiver Faktor für eine leichtere Muskelverletzung.
Sprinter und Tänzer
In den letzten Jahren konnten dank immer besser werdender Bildgebung und umfangreicher Studien zwei wesentliche Verletzungstypen differenziert werden. Beiden gemeinsam ist eine Überdehnung und Verletzung des Beinbizeps. Sie unterschieden sich jedoch in der Art und Weise wie Sie auftreten, wo sich die Schädigung im Muskel anatomisch befindet und hinsichtlich ihrer Prognose bezüglich der Ausheilung. Die „Sprinter“ Verletzung tritt typischer Weise bei starker Belastung wie zum Beispiel einem Sprint oder bei einem Richtungswechsel während des Laufens auf und betrifft häufig den muskulären Anteil des Beinbizeps. Die Schmerzen sind im Moment der Verletzung meistens sehr stark, die Regeneration ist jedoch vergleichsweise schnell.
Die „Tänzer“ Verletzung (oder „Stretching“ Variante) tritt im Gegensatz dazu eher bei langsamen Bewegungen oder Dehnungsübungen der Oberschenkelrückseite auf. Anatomisch sind häufiger die Sehne und der muskulo-tendinöse Übergang betroffen. Diese tritt auch ohne akute Belastung auf und es ist mit einer deutlich längeren Rehabilitation zu rechnen.
Funktioneller oder struktureller Schaden
Eine deutsche Einteilung der Muskelverletzungen in 4 Typen von Dr. Müller-Wohlfahrt differenziert Verletzungen in strukturelle und funktionelle Verletzungen. Aus dieser Einteilung resultieren auch unterschiedlich lange Zeiträume bis zur Wiederherstellung der ursprünglichen Leistungsfähigkeit. Diese reichen von 1-2 Wochen bei leichten Verletzungen bis zu Zeiträumen von über 2 Monaten bei schweren Verletzungen. Die meisten Verletzungen sind durchschnittlich nach 6 Wochen ausgeheilt.
Prävention ist besser als Therapie – Nordic Hamstring Exercise, Extender, Diver und Glider
Seit Jahren existiert ein einfaches Präventionsprogramm bestehend aus der Nordic Hamstring Exercise, die regelmäßig angewendet das Risiko für eine Verletzung des Beinbizeps um 70% reduziert. Leider zeigen Untersuchungen bei europäischen Premium League Mannschaften, dass nur ein Bruchteil dieser Mannschaften (11%) die empfohlenen Übungen standardmäßig und regelmäßig durchführt.
Es gilt also wie so häufig: Wissen das nicht umgesetzt wird ist gut für nichts!
Zusätzlich macht es Sinn drei weitere Übungen von C. Askling (Karolinska Institut, Stockholm) in das Präventionsprogramm zu integrieren: Extender, Diver, Glider. Diese Übungen umfassen exzentrische Stretch- und Kräftigungsübungen und sind typischen Rehabilitationsübungen im Hinblick auf den Zeitpunkt eines Return-To-Play deutlich überlegen.
Übungsbeschreibung
Nordic Hamstring Exercise
- Nach dem Aufwärmen kniest du dich mit beiden Knien auf eine geeignete Unterlage. Ein Trainingspartner fixiert deine Knöchel. Die Zehen werden aufgesetzt.
- Bewege dich langsam und fließend mit dem Oberkörper Richtung Boden.
- Bremse deine Bewegung langsam aus dem Beinbizeps ab.
- Fange dich mit deinen Armen ab
- Berühre mit der Brust den Boden und drück dich mit Hilfe deiner Arme wieder hoch in die Ausgangsposition.
Empfohlenes Trainingsprotokoll für die Nordic Hamstring Exercise
Woche | Trainingseinheiten / Woche | Sätze und Wiederholungen |
1 | 1 | 2 x 5 |
2 | 2 | 2 x 6 |
3 | 3 | 3 x 6-8 |
4 | 3 | 3 x 8-10 |
5-10 | 3 | 3 Sätze, 12-10-8 Wiederholungen |
10+ | 1 | 3 Sätze, 12-10-8 Wiederholungen |
Die Übungsausführung erfolgt nach einem Aufwärmen. Die Bewegungsausführung erfolgt langsam und kontrolliert.
Die klassische isolierte Beinbizeps Maschine im Fitness Studio ist weniger zur Prävention oder Therapie von Beinbizeps Verletzungen geeignet.
Extender
Der Athlet liegt auf dem Rücken und beugt seinen Oberschenkel auf einer Seite auf 90 Grad. Anschließend streckt er das Knie so weit wie möglich. Der Fuß wird im oberen Sprunggelenk entspannt gehalten.
3 Sätze mit 12 Wiederholungen täglich.
Diver
Der Athlet steht mit einer Beugung von 10-20 Grad auf dem verletzten Bein. Das angehobene Bein wird in Kniegelenk etwa 90 Grad gebeugt. Beide Arme werden beim nach vorne Beugen parallel zum Boden ausgestreckt. Langsame Ausführung der Bewegung.
3 x Sätze mit 6 Wiederholungen jeden zweiten Tag.
Glider
Der Athlet hält sich mit einer Hand fest und belastet das verletzte Bein mit 90% und 10-20 Grad Beugung im Kniegelenk. Das unverletzte Bein gleitet nach hinten und stoppt bevor das Standbein schmerzt. Das Gewicht im vorderen Fuß liegt auf der Ferse. Mit Hilfe der Arme zieht sich der Sportler wieder in die Ausgangsposition. Die Progression der Übung besteht in einer Steigerung des Bewegungsumfangs und in einer Steigerung der Bewegungsgeschwindigkeit.
3 Sätze mit jeweils 4 Wiederholungen jeden 3. Tag.
Therapie – Schritt für Schritt
Ein Beispiel für eine strukturierte Therapie von Verletzungen des Beinbizeps sind die folgenden 4 Phasen einer Regeneration.
- Phase: Die Verletzung wird diagnostiziert und medizinisch behandelt. Es kommen Salben, Medikamente, Enzympräparat und Stoffwechsel anregende Maßnahmen zum Tragen. In der ersten Phase ist das Behandlungsziel ein schmerzfreies Gehen des Sportlers.
- Phase: Eine Schmerzfreiheit wird häufig nach 4-10 Tagen erreicht. In dieser Phase ist es besonders wichtig nicht zu schnell und zu intensiv zu belasten. Konzentrische Übungen können im schmerzfreien Bereich ausgeführt werden und das Training der aeroben Grundlagenausdauer steht im Vordergrund. Physiotherapeutisch kann peripher der Verletzung massiert werden, jedoch nicht unmittelbar über der Verletzung. Eine punktuelle Hitzeanwendung sollte vermieden werden.
- Phase: Aufnahme von exzentrischen Übungen, Faszientraining, Sprintübungen, anaeroben Trainingseinheiten und ggf. des Trainings auf dem Spielfeld. Überprüfung und Verbesserung der funktionellen Bewegungsmuster beispielsweise mit dem Functional Movement Screen (FMS).
- Phase: Return-To-Play – also Wiedereinstieg in den Sport. Beibehalten der Nordic Hamstring Exercises als fester Bestandteil der wöchentlichen Trainingsroutine.
Return to Play – Wann ist der richtige Zeitpunkt für einen Wiedereinstieg?
Der optimale Zeitpunkt für einen Wiedereinstieg in den ursprünglichen Sport auf Wettkampfniveau ist erreicht, wenn Kraft, Beweglichkeit und die Bewegungsmuster wieder hergestellt sind, sich der Muskel subjektiv gut anfühlt und ein gegebenenfalls ein MRT einen Normalbefund anzeigt.
Wieder hergestellt bedeutet im Assessment eine Leistungsfähigkeit von mindestens 90% der gesunden Gegenseite und eine Symmetrie in funktionellen Untersuchungen, wie beispielsweise dem Functional Movement Screen (FMS) oder dem Y- Balance Test (YBT).
Take home Message
- Bestimme zuerst den Verletzungstyp (klinische und radiologische Diagnostik).
- Nimm diese Verletzung ernst – eine Fehleinschätzung ist sehr häufig
- Auch bei geringen Schmerzen in der akuten Phase kann die Rehabilitation lange dauern (Stretching Typ).
- Trotz intensiver Schmerzen zu Beginn kann der Verlauf der Wiederherstellung kurz sein (Sprinter Typ).
- Sei vorsichtig nach den ersten 4-10 Tagen, wenn die Schmerzen deutlich nachlassen (Sprinter Typ).
- Kraft- und Flexibilitätsuntersuchungen sollten für eine Return-To-Play Entscheidung mit funktionellen Untersuchungen kombiniert werden.
- Prävention ist besser als Therapie – nutze das vorgestellte Übungsprogramm
Interessanter Artikel. Fotos von Diver, Glider etc, die die Bewegungssbeschreibung verdeutlichen wären super gewesen.
Hallo Chantal,
Danke für dein Feedback! Ich habe ein kurzes Youtube Video mit den Übungen erstellt. Es wurde jedoch hier nicht verlinkt. Hier findest du die Demonstration der Übungen:
https://m.youtube.com/watch?v=m_oMuDPcQ3A
Beste Grüße
Markus
Mit den vorgeschlagenen Übungen (v.a nordic hamstring) bin ich gar nicht einverstanden und denke, dass sie die Gefahr von Verletzungen der hinteren Oberschenkelmuskulatur noch verstärken.
Die Annahme, dass es zu Muskelverletzungen kommt, weil dieser Muskel zu schwach ist, entspricht nicht den Erkenntnissen die wir heute über die Funktionsweise des menschlichen Körpers haben. Dieser Artikel behauptet, dass, wenn man spezifisch einen Muskel belastet und „stärkt“, werden dann die Verletzungen dieses Muskels schon weniger. Genau das Gegenteil ist hier der Fall. Die Hauptursache der Muskelverletzungen der hinteren Oberschenkel ist nicht, dass dieser zu schwach ist, sondern, weil dieser oft die Funktion des Gluteus Maximus (Hüftstreckung und Stabilisierung des Beckens im einbeinigen Stand) kompensieren muss. Und zwar weil der Gluteus maximus nicht richtig aktiviert und genutzt werden kann. Des weiteren arbeitet die hintere Oberschenkelmuskulatur in der geschlossenen Kette als Knie- und HüftSTRECKER und nicht als Kniebeuger (wie es in der Übung nordic Hamstring der Fall ist)!!!! (Lombard, 2003). Wenn man einen Muskel entgegen seiner Funktion trainiert, führt das zu keiner Verletzungsminderung, sondern man strapaziert den ohnehin überlasteten Muskel noch mehr und zwar in einer unnatürlichen Funktion. In keiner natürlichen Bewegung des Menschen hat die Oberschenkelrückseite eine kniebeugende Funktion. Wie gesagt, der Haupthüftstrecker ist der Gluteus Maximus. Der hintere Oberschenkelmuskel ist dabei ein Hilfsmuskel. Wegen der oft sitzenden Tätigkeit der Menschen verkürzen sich die Strukturen der Hüftflexoren (myofaszialen Strukturen). Dies konnte als Ursache von Verletzungen der hinteren Oberschenkelmuskulatur beobachet werden (Gabbe et al. 2006). Somit wird der Gluteus Maximus inhibiert und kann nicht mehr seine volle Funktion als Hüftstabilisator und Hüftstrecker erfüllen. Andere Muskelgruppen müssen aushelfen. Diese sind dafür aber nicht vorgesehen und werden in Stellungen belastet, welche nicht deren Funktion entsprechen (auch schlechte Überlappung der Filamente). Dazu gehört vor allem die hintere Oberschenkelmuskulatur. Wenn man eine muskuläre Verletzung hat, ist also häufig nicht dessen „Schwäche“ die Ursache, sondern man muss nach einem schwachen Synergisten suchen der eine Dysfunktion hat. In diesem Falle der Gluteus Maximus. Diese Dysfunktion ist die Ursache für die Überlastung der hinteren Oberschenkelmuskulatur. Wenn man diese Ursache durch myofaszialen Release der Hüftlexoren und die Aktivierung des Gluteus Maximus und andere Hüftstabilisatoren (zb Gluteus medius) trainiert, kann man erreichen dass dieser wieder seine Funktion erfüllen kann und den hinteren Oberschenkel entlastet und dieser nicht wieder überlastet wird. Dazu muss der Gluteus in seiner natürlichen Funktion trainiert und aktiviert werden. Also die Stabilisierung des Beckens und die Hüftstreckung im Gangbild. (Brughelli and Cronin, 2007b and Farrokhi et al., 2008)
Man darf nicht vergessen dass das Gehirn nicht einzelne Muskeln ansteuert, sondern nur ganze Bewegungsmuster steuert. Wie stark ein Muskel in einer bestimmten Bewegung feuert bestimmt das Gehirn und nicht wie dick der Muskel ist. Daher ist es auch extrem wichtig den Gluteus nicht in einer Übung zu stärken, bei welcher er die grösste EMG Aktivität hat, sondern ihn in seiner Funktion der menschlichen Bewegungsabläufe zu trainieren. Sonst würde man auch wieder den Fehler machen isoliert einen Muskel zu betrachten. Wie das in diesem Artikel mit der Muskulatur des hinteren Oberschenkels gemacht wird.
Ein Muskel ist nur so stark wie er seine Funktion in einem ganzen Bewegungsablauf erfüllen kann. Die ganze Sequenzierung von den Fusssohlen (Wahrnehmung der Umwelt über Rezeptoren in der Fusssohle) zu den intrinsischen stabilisierenden Fussgelenksmuskeln, welche über die tiefen myofaszialen Strukturen mit den Hüftstabilisatoren und tiefen Bauchmuskeln verbunden sind, bis zu den grossen Mobilisatoren der Bewegung (zb Gluteus maximus und Hamstring). Diese zeitliche Aktivierung muss als Bewegungsprogramm trainiert werden. Die tiefen stabilisiernenden Muskeln müssen zeitlich vor den grossen Mobilisatoren aktiviert werden, damit diese gegen ein stabiles Gelenk ihre Kraft ausüben können. Sonst verpufft die ganze Kraft. Zudem gehört ebenfalls zu dieser Sequenzierung, dass der Gluteus vor der hinteren Oberschenkelmuskulatur aktiviert wird. Bei vielen Athleten springt der hintere Oberschenkel an bevor der Gluteus aktiviert wird. Auch dies fördert wieder die Überlastungsgefahr der hinteren Oberschenkelmuskulatur, da am Anfang die Kräfte nur von dieser getragen werden müssen, weil der Gluteus zu spät anspringt.
An dieser Seqenzierung muss also gearbeitet werden. Nur wenn ein bestimmter Muskel sich richtig in diese Seqenzierungsabfolge einfügen kann, also in die ganzheitliche Bewegung, können Muskelverletzungen verhindert werden und die Leistungsfähigkeit gesteigert werden. Indem man einfach den besagten Muskel mit kontrafunktionellen Übungen stärkt, erreicht man eher das Gegenteil von dem. Zudem werden bei der Übung Nordic Hamstring extreme Scherkräfte im Kniegelenk ausgelöst, welche in keiner natürlichen Bewegung so vorkommen. Im aufrechten Stand herrschen hauptsächlich Kompressionskräfte auf das Kniegelenk. Durch diese Übung wird also auch das Knie vermehrter falscher Belastung ausgesetzt und die Verletzungsgefahr erhöht.
Meiner Meinung nach lässt dieser Artikel jegliche Erkenntnisse im Bereich der funktionsweise des menschlichen Körpers und des funktionellen Trainings vermissen und gibt schlechte Ratschläge in der Verletzungsprävention. Man hat in letzter Zeit viele Erkenntnisse in diesem Gebiet der myofaszialen Strukturen (Myers, Anatomy Trains) machen können. Und dann kommt da so ein Artikel der einfach alles ignoriert. Und dies in einem Magazin welches spezifisch das funktionelle Training thematisiert. Die Verletzungen der hinteren Oberschenkelmuskulatur sind schon genug häufig. Also versuchen wir doch mit unseren Erkenntnissen gute Strategien für die Verletzungsprävention zu erarbeiten und nicht so etwas.
Euer Marc Streitenbürger, Athletiktrainer Nachwuchs FC Luzern und Master Student Spitzensport in Magglingen, CH
Korrektur * (Lomard, 1903)