Gerne würde ich davon ausgehen, dass Trainer immer darum bemüht sind, Programme zusammenzustellen, die auf der einen Seite die Verletzungshäufigkeit reduzieren und auf der anderen Seite die Leistungsfähigkeit der Athleten verbessern. Doch wenn ich mir die Trainingsprogramme unserer Elitesportler so anschaue, bin ich nicht selten verwirrt und enttäuscht. Übungen wie Beinextensionen und Beincurls oder die Beinpresse werden immer noch eingesetzt, obwohl keine wissenschaftliche Grundlage für die Wirksamkeit dieser Übungen existiert. Es gibt genügend Fakten zur funktionellen Anatomie des Menschen. Dass ein Muskel isoliert trainiert werden muss bzw. dass Übungen, die nur ein einziges Gelenk beanspruchen, zur Verletzungsprophylaxe beitragen, ist hingegen nicht bewiesen. Trainer sind damit aufgefordert, alte Vorstellungen über Bord zu werfen und neue Übungen in ihre Programme einzubeziehen, die wirklich zur Verringerung des Verletzungsrisikos beitragen.
In meinem Buch „Functional Training“ habe ich bereits das »funktionelle Kontinuum« vorgestellt, das alle Übungsformen auf einer Skala von wenig bis sehr funktionell einstuft. Die Übungsformen werden dabei in Unterkörper- und Oberkörper- bzw. Rumpfübungen unterteilt. Weiter unterscheidet man bei den Unterkörperübungen in kniedominante und hüftdominante Übungen und bei den Oberkörperübungen in Druck bzw. Zugübungen. Schließlich findet eine Abstufung zwischen Übungen an Maschinen bis hin zu Übungen im freien Stand statt, wo sie dann zunächst auf stabilem und später auf instabilem Untergrund ausgeführt werden. Am funktionellsten ist folglich die Übungsausführung auf instabiler Oberfläche, da auf diese Weise alle kleinen Muskelgruppen mit Stabilisationsfunktion beansprucht werden.
Die erste Übungsgruppe sind die kniedominanten Unterkörperübungen. Das funktionelle Kontinuum beginnt mit dem Beinpressen im Liegen. Diese Übung beansprucht zwar mehrere Gelenke gleichzeitig, ist aber die unfunktionellste Unterkörperübung, die ich kenne, da der Sportler nicht für Stabilität sorgen muss. Wie bei den meisten Maschinenübungen wird die Stabilitätsfunktion vom Gerät übernommen. Der Athlet hat nur die Aufgabe, Kraft zu entwickeln.
Die nächste Übung in der Progression ist die stehende Kniebeuge an der Multipresse. Diese Übung ist aufgrund der stehenden Position etwas funktioneller als die vorangegangene, da hier die geforderte Haltung, im Gegensatz zur liegenden Position, auch im Sport vorkommt. Außerdem werden bei dieser Übung einige Muskelgruppen angesprochen, die bei der liegenden Beinpresse nicht beansprucht werden. Die Stabilisierung wird allerdings immer noch vorwiegend von der Maschine übernommen.
Die nächste Stufe ist die Kniebeuge im freien Stand. Jetzt bekommt der Athlet keine Führung mehr vom Gerät,sondern muss die Stabilisation selbst übernehmen. Hierdurch wird natürlich auch die Rumpfmuskulatur stärker beansprucht. Obwohl der Oberkörper bei Kniebeugen nicht auf und ab oder zur Seite bewegt wird, halten viele Trainer diese Übung für eine ausgezeichnete Rumpfkraftübung – manche sind sogar der Auffassung, dass Kniebeugen der Rumpfkraft Genüge tun, und verzichten auf zusätzliche Rumpfübungen.
Hier sind wir an einem Punkt angelangt, an dem die meisten Trainer nicht mehr weiterdenken. Sie lassen ihre Athleten zwar Übungen im Stand absolvieren, gehen aber nicht den nächsten Schritt in Richtung Funktionalität. Dies würde bedeuten, dass einbeinige Übungen in den Trainingsplan integriert werden. Aus funktionell-anatomischer Sicht ist es absolut unerlässlich, Übungen auf einem Bein zu absolvieren. Wie viele Beine sind am Boden, wenn gelaufen wird? Nur eins. Hat schon mal ein Sportler in beiden Beinen gleichzeitig eine Muskelzerrung erlitten? Nein. Die Muskeln, die den Unterschenkel stabilisieren, wenn man auf einem Bein steht – der M. quadratus lumborum, der M. gluteus medius und die Adduktoren –, sind im beidbeinigen Stand bei Weitem nicht so aktiv. Demnach ist die funktionellste Unterkörperübung die einbeinige Kniebeuge auf instabiler Oberfläche. Hierbei muss der Athlet nämlich nicht nur die großen Muskelgruppen aktivieren, die für das Beugen des Knies erforderlich sind, sondern auch Stabilisatoren und Neutralisatoren engagieren, um auf die propriozeptiven Reize zu reagieren, die von der instabilen Oberfläche ausgehen.
Der Einsatz funktioneller Übungen
Funktionelles Training macht so manchen Trainer der alten Schule nervös. So zitieren Gegner funktioneller Trainingsmethoden immer wieder dilettantisch durchgeführte Studien und bezeichnen funktionelles Training als Modeerscheinung. Kürzlich erzählte mir wieder einer von ihnen, dass funktionelle Übungen ausschließlich in der Rehabilitation Anwendung finden sollten, um propriozeptive Fähigkeiten neu aufzubauen. Für gesunde Athleten aber hätten solche Übungen keinen Sinn. Meine eigene Erfahrung spricht gegen diese Ansicht: In meiner sechsjährigen Tätigkeit als Trainer von Profifußballern kam es kein einziges Mal zu einem Riss des vorderen Kreuzbandes. Das ist doch eindrucksvoll, oder?
Das Konzept des funktionellen Kontinuums kann wie zuvor beschrieben auf alle Körperteile übertragen werden. Mache dich frei von vorgefassten Meinungen, und verlasse die ausgetretenen Pfade. Wende nicht immer wieder unkritisch die gleichen alten Übungsformen an, und kopiere nicht, was andere trainieren, sondern erfinde deine eigenen Übungen. Powerlifter oder Gewichtheber trainiere für deinen Sport. In deiner Sportart stehen die Sportler mit beiden Beinen auf dem Boden. Das ist aber in den meisten anderen Sportarten nicht der Fall, weshalb diese Sportler auch anders vorbereitet und trainiert werden müssen. Kniebeugen oder Kreuzheben können zwar in ein sportartübergreifendes Kraftprogramm aufgenommen werden, sollten aber unbedingt durch funktionellere Übungsformen ergänzt werden.
Hier nur ein paar Beispiele: Anstelle von Beinextensionen kannst du Kniebeugen im Ausfallschritt oder andere Varianten der einbeinigen Kniebeuge wählen. Diese trainieren Balance, Beweglichkeit und einbeinige Kraft. Anstelle von Beincurls kann einbeiniges Kreuzheben mit gestrecktem Bein ausgeführt werden. Die hinteren Oberschenkelmuskeln sind nämlich eher Hüftstrecker als Kniebeuger. Sie wirken bei der Beinstreckung im Sprint sogar als Widerstand. Beincurls sind daher nicht dazu geeignet, die für sportliche Leistungen benötigte Kraft aufzubauen. Anstelle des Kurzhantel-Bankdrückens kann alternierendes Bankdrücken mit Kurzhanteln absolviert werden, wobei der Sportler die Hantel in der oberen Position stabilisieren muss. Diese Übungsform ist hervorragend dazu geeignet, die Rumpfmuskulatur, einarmige Kraft und Stabilisationsfähigkeit der Schulter zu trainieren.
Wenn du Übungsformen auswählst, solltest du dich sich also immer fragen, warum du sie ins Programm nimmst. Dabei sollte Funktionalität stets die erste Rolle spielen. Funktionelle Übungen müssen in erster Linie auf die jeweilige Sportart abgestimmt sein und Fertigkeiten trainieren, die in der Sportart gefordert sind. Bei der Übungswahl sollte von zweibeinigen Übungen zu einbeinigen Übungen fortgeschritten werden.
Oberkörper-Zug- und -Druckübungen
In den meisten Kraftprogrammen wird auf Oberkörper- Zugübungen wie Klimmzüge oder Ruderbewegungen zu wenig Wert gelegt. Stattdessen meinen viele Trainer, mit Übungen für den oberen Rücken, wie z.B. Latzügen, habe man der Rückenmuskulatur Genüge getan. Doch wer seinen Oberkörper so einseitig trainiert, beschwört Haltungsprobleme und schließlich auch Schulterverletzungen herauf, da die Druckmuskulatur übermäßig stark ausgebildet, die Zugmuskulatur aber gleichzeitig vernachlässigt wird. Ein sinnvoll zusammengestelltes Oberkörperprogramm sollte im gleichen Verhältnis horizontale und vertikale Zugübungen bzw. Druckübungen in Rückenlage und über Kopf beinhalten. Für jede Serie an Druckübungen muss mindestens eine Serie Zugübungen trainiert werden, da ansonsten der M. pectoralis übermäßig und gleichzeitig die Schulterblattrückzieher ungenügend ausgebildet werden. Dies führt in der Folge zu Schulterverletzungen wie etwa einer Sehnenreizung an der Rotatorenmanschette. Diese Verletzung tritt besonders dann auf, wenn Athleten vornehmlich Formen des Bankdrückens absolvieren. Viele Kraftdreikämpfer, Schwimmer und Tennisspieler meinen, dass Schulterprobleme in ihrer Sportart quasi dazugehören. Würdest du aber ein ausgeglichenes Oberkörperkraftprogramm absolvieren, könnten Überlastungen an der vorderen Schulter weitgehend vermieden werden.
Ein Athlet muss ein gutes Verhältnis zwischen Zug- und Druckkraft anstreben. Um dieses Verhältnis zu bestimmen, vergleicht man die Anzahl der absolvierten Klimmzüge mit dem gestemmten Gewicht beim Bankdrücken. Ein Sportler, der mehr als sein eigenes Körpergewicht drücken kann, sollte auch in der Lage sein, beim Klimmzug sein eigenes Körpergewicht hochzuziehen. Natürlich muss hier auch die Höhe des Körpergewichts eines Athleten in Betracht gezogen werden.
Hierzu zwei Beispiele: Ein 100kg wiegender männlicher Sportler, der beim Bankdrücken 150kg stemmen kann, sollte zwölf bis 15 Klimmzüge ausführen können. Ein 150kg schwerer Sportler, der 200kg stemmen kann, müsste dagegen fünf bis acht Klimmzüge schaffen. Frauen verfügen in der Regel über mehr Zugkraft im Verhältnis zur Druckkraft. Wir haben schon mit einigen Frauen gearbeitet, die »nur« ihr eigenes Körpergewicht drücken konnten, aber fünf bis zehn Klimmzüge geschafft haben.
Vertikale Zugbewegungen
Ein gutes Krafttrainingsprogramm beinhaltet wöchentlich mindestens je drei Sätze von zwei verschiedenen Klimmzugübungen und weitere drei Sätze von zwei verschiedenen Ruderbewegungen. Dabei sollte entweder die Art des horizontalen bzw. vertikalen Ziehens oder die Wiederholungszahl alle drei Wochen variiert werden. Ein wichtiger Punkt ist zudem, die Klimmzüge nicht nur ins Programm aufzunehmen, sondern sie wirklich als Kraftübung zu trainieren. Vertikale Zugübungen sollten mit horizontalen Zugübungen wie Bankdrücken abgewechselt werden. Beachte bei der Zusammenstellung der Übungen auch, dass sich die Wiederholungszahlen entsprechen. Wer drei Sätze Bankdrücken trainiert, muss auch drei Sätze Klimmzüge absolvieren, um eine ausgeglichene Beanspruchung von Zug- und Druckmuskulatur zu gewährleisten. Mit dieser Art des Trainings konnten unsere männlichen Sportler sehr schnell an Kraft im oberen Rücken zulegen. So ist es nicht unüblich, dass ein Sportler fünf Klimmzüge mit einer 20kg schweren Gewichtsplatte an der Hüfte bewältigt. Frauen schaffen in der Regel Sätze mit drei Wiederholungen und 2,5 bis 12,5kg Zusatzgewicht. Wenn du also vertikale Zugbewegungen ebenso wie Druckbewegungen trainierst, verbessern sich nicht nur rasch deineKraftwerte, sondern du reduzierst auch die Verletzungsgefahr im Schulterbereich.
Horizontale Zugbewegungen
Horizontale Zugbewegungen sind aus zwei Gründen besonders wichtig: Ruderbewegungen reduzieren die Verletzungsgefahr. Klimmzüge sind zwar auch sehr wichtige Übungen, doch Ruderbewegungen trainieren die Gegenspieler jener Muskeln, die beim Bankdrücken beansprucht werden. Die Ruderbewegung ist also genau die entgegengesetzte Bewegung zum Bankdrücken und bildet die entgegengesetzten Muskeln (Antagonisten) aus.
Leider werden Ruderbewegungen sogar noch seltener trainiert als Klimmzüge. Dabei haben neuere Studien im Athletiktraining und auch in der Physiotherapie gezeigt, dass das Muskelzusammenspiel im Körper – sowohl von vorne als auch von hinten gesehen – diagonal verläuft: Die Kraft wird vom Boden ausgehend durch das Bein über den M. bizeps femoris und den M. gluteus maximus zur Hüfte und dann durch das Iliosakralgelenk in den gegenüberliegenden M. latissimus dorsi geleitet. Für dieses Überkreuzsystem ist es besonders wichtig, die Hüfte stabilisieren zu lernen und gleichzeitig die angesprochenen Muskeln zu aktivieren. Aus diesem Grund sollten alle Ruderbewegungen (abgesehen vom hängenden Rudern und dem Rotationsrudern) mit nur einem Fuß am Boden ausgeführt werden. Wird die Übung nämlich einbeinig und mit dem Kabelzug oder Gewicht in der gegenüberliegenden Hand ausgeführt, müssen Bizeps femoris und Gluteus aktiviert sein, damit die Kraft vom Boden durch die Hüftrotatoren und Beckenstabilisatoren übertragen werden kann.
Den Hüftrotatoren und Beckenstabilisatoren kommt besondere Bedeutung zu, denn die Kraft muss vom Boden aus durch eine stabile Hüfte hindurchgeführt werden, um sauber in den Oberkörper geleitet zu werden. Bis in jüngste Zeit wurde die Wichtigkeit der Hüftrotatorengruppe unterschätzt, obwohl diese doch als Rotatorenmanschette des Unterkörpers anzusehen ist. Der Rotatorenmanschette in den Schultern dagegen wurde lange Zeit weit größere Beachtung geschenkt. Jede vom Boden ausgehende Kraft muss durch eine starke, flexible und stabile Hüfte geleitet werden. Daher wird der Hüftrotatorengruppe in meinen Programmen besondere Beachtung geschenkt.
Euer Michael Boyle
Michael Boyle ist Autor und Produzent verschiedener Bücher & DVD’s, hier mehr Infos!