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Wie geht man an das Thema Mobilisation heran? Um diese Frage zu beantworten, muss man die Systeme untersuchen, die bei Bewegungen aktiv sind. Ich unterteile sie in drei Kategorien: Gelenkmechanik, Gewebe- gleitfähigkeit und Muskeldynamik. Obwohl die meisten Mobilisationstechniken mehr als ein Bewegungssystem ansprechen, sollte man die unterschiedliche Funktionsweise jedes einzelnen Systems kennen. So sieht deine Checkliste aus:
- Gelenkmechanik
- Gewebegleitfähigkeit
- Muskeldynamik
Jedes dieser Bewegungssysteme wird mit passenden Mobilisationstechniken angesprochen. Nun arbeitet man die Checkliste von oben nach unten ab, bis alle Einschränkungen korrigiert sind und der Schmerz verschwunden ist.
Gelenkmechanik
Wenn ich einen Sportler behandle, stelle ich immer sicher, dass seine Positionen stimmen, bevor wir mobilisieren. Wenn sich dabei herausstellt, dass er viele Bewegungen nicht im vollen Umfang ausführen kann, ohne dass er Koordinationsschwierigkeiten hat, arbeite ich meist zuerst am Gelenk. Erfahrungsgemäß verschwinden viele Probleme (Einschränkungen im Weichgewebe und funktionelle Gleitgewebestörungen) automatisch, wenn ich die Gelenklagerung korrigieren kann.
Ein Fallbeispiel ist ein Sportler, dessen Schultergelenke nicht mehr frei nach innen rotieren können. Er leidet unter chronisch nach vorne gerundeten Schultern und Schmerzen im vorderen Schulterbereich (Rundschultern treten auf, wenn die Schulter innenrotatoren verkürzt sind). Die Außenrotatoren seiner Schultern sind dadurch chronisch überstreckt, die Brustmuskeln adaptiv und funktionell verkürzt. Ich kann jetzt die überdehnte, verhärtete und schwache Muskulatur mobilisieren und dem verkürzten Brustmuskelgewebe wieder sein volles Bewegungsspektrum verschaffen. Doch ohne die funktionelle Störung der Schultermechanik zu beseitigen, werden sowohl die strukturelle Schwäche als auch die Verhärtung ein Problem bleiben.
Viel effektiver ist es, die Schultergelenkstellung zu optimieren. Dies beginnt mit der Mobilisation der Brustwirbelsäule. Ohne die Wirbelsäulenausrichtung des Patienten zu korrigieren, werde ich die Ursache seiner Schulterfehlstellung nie ausschalten. Sobald die Brustwirbelsäule wieder elastisch ist, kann sich die Schulter optimal ausrichten. Meist funktionieren dann auch die Außenrotatoren wieder, und die Brustmuskulatur entspannt sich. Wenn das Gelenk richtig gelagert ist, arbeiten die Muskeln meist wieder so, wie sie sollen, und der Schmerz verschwindet. Die Frage, die sich jetzt stellt, ist: Wie mobilisiert man ein Gelenk? Hierfür gibt es einige Hilfsmittel und Methoden, die ich später vorstelle. Doch zuvor lohnt sich ein Blick auf die Gelenkkapsel – die Komponente, die Einschränkungen an Gelenken und Gewebeflächen und damit auch an der Gelenkstabilität verursacht.
Die Gelenkkapsel ist der erste Bereich, auf den man sein Augenmerk richten sollte, wenn Gelenk und Struktureinschränkungen auftreten. Sie ist die bänderreiche Hülle eines Gelenks (Bänder sind das stabile, ledrige Fasergewebe, das Knochen und Knorpelgewebe am Gelenk verbindet). Innerhalb der Gelenkkapsel kann sich das Gelenk frei und isoliert bewegen. Sie macht es stabil und verhindert Überstreckungen des Gelenks. Viele Menschen wissen gar nicht, dass sich auch diese stabile Stützhülle verhärten und adaptiv verkürzen kann, wenn das Gelenk über längere Zeit hinweg eine Fehlstellung einnimmt. Sie schränkt schlussendlich den Bewegungsradius des Gelenks ein und schwächt das Gewebe. Im vorherigen Beispiel der Rundschultern ist davon auszugehen, dass die Schultergelenkkapsel extrem verhärtet ist.
Viele Menschen wissen gar nicht, dass sich auch diese stabile Stützhülle verhärten und adaptiv verkürzen kann, wenn das Gelenk über längere Zeit hinweg eine Fehlstellung einnimmt. Sie schränkt schlussendlich den Bewegungsradius des Gelenks ein und schwächt das Gewebe. Im vorherigen Beispiel der Rundschultern ist davon auszugehen, dass die Schultergelenkkapsel extrem verhärtet ist. Ähnlich wird sich bei längerem Sitzen die Hüftvorderseite adaptiv verkürzen und verhärten. Die Schultern können dann nicht mehr in eine stabile, nach außen rotierte Position zurückgenommen und die Hüften nicht mehr gestreckt werden. Die Schulter lässt sich zwar durch Mobilisation der Brustmuskeln lockern, und man kann versuchen, die vordere Hüftmuskulatur zu strecken. Dies berührt jedoch nur die Muskulatur, berücksichtigt aber nicht den Zustand der Gelenkkapseln.
Um dies zu verdeutlichen, stellt man sich ein elastisches Band vor, das an der einen Seite dicker, an der anderen dünner ist. Zieht man an beiden Seiten, dehnt sich zwar das dünne Material, das dicke jedoch nur minimal. Ähnlich dehnt sich Gewebe vorzugsweise an seiner schwächsten Stelle. So kommt es, dass man beim Dehnen der hinteren Oberschenkelmuskulatur ein starkes Ziehen auf der Knierückseite spürt – dort, wo die Muskeln hinter dem Knie einstrahlen und besonders dünn sind. Gelenkkapseln sind immer die dicksten Stellen des elastischen Bandes. Um sie zu beeinflussen, muss die Abstandsfläche der Gelenkpartner vergrößert werden. Das erreicht man durch Distraktion, eine Technik, die Physiotherapeuten seit Langem manuell anwenden. Mithilfe eines Superbands kann dies jeder Sportler aber auch selbst machen.
Es gibt zwei Arten, das Band einzusetzen. Es kann entweder um Hand- oder Fußgelenk geschlungen oder aber um Schulter oder Hüfte gelegt werden. Die erste Methode (Hand- und Fußgelenk) ermöglicht es, den Abstand zwischen den Gelenkpartnern zu erweitern, sodass sie sich wieder optimal zueinanderstellen. Die zweite Methode (Schultern und Hüfte) aktiviert und optimiert die Bewegung innerhalb der Gelenkkapsel, was die Gelenkstellung ebenfalls verbessert. Bei der dritten Methode zur Behandlung einer Einschränkung an der Schultergelenkkapsel zwingt man das Gelenk in die korrekte Position und bewegt es dann in möglichst viele Richtungen. Bei Funktionsbeeinträchtigungen oder Einklemmungen (Impingement) im Schulterbereich kann man versuchen, den Oberarmknochen mit einem Widerstandsband oder einer Kettlebell wieder in den hinteren Teil der Schulterblattgelenkpfanne einzulagern. Anschließendes Armkreisen nach innen und außen (nach vorne und hinten) verbessert dann die Lagerung und Drehfähigkeit des Schultergelenks.
Eine weitere Methode zur Behandlung eines versteiften oder schmerzenden Gelenks ist es, Zug oder Kompression auf das beeinträchtigte Gebiet auszuüben. Beim sogenannten Flexion Gapping (engl. gapping = Lückenbildung), einer Technik ausschließlich für Knie und Ellenbogen, werden die Gelenkpartner partiell druckentlastet, und die Beweglichkeit wird wiederhergestellt. Das Auseinanderziehen der Gelenkpartner hilft, eventuellen Gelenkabrieb zu entfernen und das Gelenk wieder besser zu lagern. Einen ähnlichen Effekt hat das Wickeln des Gelenks mit dem Flossingband.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass man die Gelenkmechanik mit drei Methoden ansprechen kann: erstens durch Erzwingen der stabilen Gelenkposition, zweitens durch Auseinanderziehen der Gelenkflächen mit einem Superband oder durch die Gappingmethode und drittens durch Gelenkkompression. Werden die Gelenkkapseln nicht ausreichend mobilisiert, bleibt eine erhebliche Strukturbeeinträchtigung zurück.
Gewebegleitfähigkeit
Nach dem Analysieren der Gelenkmechanik untersucht man als Nächstes Störungen der Gleitgewebe. Mit dem Sammelbegriff »Gleitgewebe« bezeichne ich die Beziehung der verschiedenen Körperkomponenten, Strukturen und Systeme zueinander. Geschmeidigkeit erlangt man nur, wenn das Körpergewebe – also Haut, Nerven, Muskeln und Sehnen – gleiten kann und auch übereinandergleitet. So sollte die Haut über die darunterliegenden Schichten gleiten (Knochen, Sehnen, Muskeln), die Nerven sollten in den Nerventunneln gleiten, und das Gewebe sollte um die Gelenke gleiten.
Um dieses Konzept zu überprüfen, schiebt man mit dem Zeige- und Mittelfinger einer Hand die Haut auf der Oberfläche der anderen Hand in alle Richtungen. Man stellt fest, dass sie über die darunterliegenden Knochen und Gewebestrukturen gleitet. Ebenso sollte die Haut in geringerem Maß über alle Oberflächenschichten von Muskeln, Sehnen und Knochen gleiten. Beim Anziehen der Zehen zum Körper in der Dorsalfl exion sollte man die Haut über der Achillessehne fassen und über die Sehne schieben können. Dies sollte auch außen am Knie, am Oberschenkel, am Sprunggelenk und am Ellenbogen funktionieren. Wenn nicht, hat man sich im Grunde einen Panzer zugelegt – einen starren Panzer um das eigene Körpersystem. Traumhafte Vorstellung!
Was passiert, wenn man mit einer engen Jeans Kniebeugen übt? Es geht nicht, oder? Unsere Haut lässt sich mit dieser engen Hose vergleichen, und genau das passiert mit unserer Gesäßmuskulatur, wenn wir länger sitzen: Die Muskelstränge »verkleben« miteinander und reagieren schlechter. Sie verlieren ihre Kontraktionsfähigkeit. Daher haben Personen, die viel im Sitzen arbeiten, Schwierigkeiten damit, ihre Gesäßmuskulatur voll für die Beckenstabilisierung zu aktivieren und die natürliche Krümmung der Wirbelsäule zu halten. Zur Wiederherstellung der Gleitfähigkeit von Oberflächenstrukturen müssen sie von dem darunterliegenden Gewebe oder Knochen gelöst werden. Dazu bieten sich verschiedene Mobilisationstechniken an (z.B. Pressure Wave, Smash & Floss, Ball Whack) (oder Massagebälle), Hartschaumrollen oder elastische VoodooBänder einsetze. Auch ein Trainingspartner kann helfen, die vorderen Oberschenkelmuskeln und andere großen Muskelgruppen »weich« zu machen, indem er Scherkraft – lösenden Druck – quer zum Muskelfaserverlauf ausübt. Beeinträchtigungen der Gleitgewebe ziehen immer eine Vielzahl von Problemen nach sich, die auch durch noch so viel Stretching nicht gelindert werden. Verklebtes Gewebe löst sich nur durch die flächendeckende Ausübung großer Scherkräfte, die Haut und tiefere Muskelschichten voneinander trennen.
Muskeldynamik
Wenn ich einen Patienten oder Sportler untersuche und die Mobilisations-Checkliste durcharbeite, ist seine Beweglichkeit meist bereits optimiert, wenn ich die Punkte Koordination, Bewegungsfehler, Gelenkkapselrestriktion oder Gewebegleitfähigkeit korrigiert habe – ohne dass ich dabei irgendetwas hätte dehnen müssen. Daher steht der Punkt »Muskeldynamik« als letzter auf meiner Checkliste. Im Bereich Muskeldynamik werden Mobilisationstechniken angewendet, die sehr an traditionelle Dehnungs- oder Stretchingroutinen erinnern. Ich verstehe unter Muskeldynamik jedoch nicht, über längere
Zeit die Maximaldehnung zu halten, in der Hoffnung, dass sich etwas ändert. Die Maximaldehnung sollte aktiv erfolgen und durch Zugspannung unterstützt werden. Das erleichtert Veränderungen im Gewebe und verbessert die Kontraktionsfähigkeit des Muskels. Aber noch wichtiger: Der Schwerpunkt wird hier auf Positionen gelegt, die den zu korrigierenden Körperhaltungen entsprechen.
Meine Mobilisationen zur Muskeldynamik umfassen Übungen, mit denen Sportler, die in Extrempositionen arbeiten, ihre Muskeln verlängern oder ihre Beweglichkeit vergrößern können. Dazu zählen etwa Tänzer, Kunstturner und Kampfsportler. Dabei wird aber übrigens nicht Muskelmasse aufgebaut, wie manche Leute glauben. Der schnellste Weg, um Muskelwachstum zu fördern, ist nach wie vor Maximalkrafttraining, zum Beispiel mittels Kreuzheben oder Kniebeugen. Doch bei verhärteter hinterer Oberschenkelmuskulatur regen diese komplexen Bewegungsabfolgen nicht nur das Muskelwachstum an, sondern fördern auch noch Koordination und Kraft bei einer verbesserten Maximalleistung. Wenn die volle Beweglichkeit oder Funktion eines Gelenks oder eines Gewebes wiederhergestellt ist, sollte diese Veränderung auch in der Bewegungskoordination berücksichtigt werden. Wer die Überkopfbeweglichkeit im Schulterbereich um fünf Prozent steigern konnte und auch im Sportstudio daran arbeitet, hat gute Chancen, sie sich zu erhalten. Das ist keine Hexerei.
Muskeln, die immer unterhalb ihres vollen Bewegungsradius aktiviert sind, verkürzen funktionell. Bei einem Radsportprofi , der große Teile des Tages auf dem Fahrrad verbringt, sind die Sprunggelenke in neutraler und die Hüften in gebeugter Haltung fixiert. Wenn er nach einer langen Fahrt vom Rad steigt, haben sich seine Muskeln an diese Arbeitshaltung angepasst. Hier helfen muskeldynamisch orientierte Mobilisationstechniken wie Contract & Relax (Anspannen und Entspannen). Dabei werden die Muskeln in ihre maximale Streckung gebracht, dann kontrahiert und anschließend wieder entspannt, um ihren Bewegungsumfang etwas zu vergrößern. Nach einer zweistündigen Autofahrt streckt man beispielsweise die Hüfte über eine gewisse Zeit, so weit es geht, und bringt so die Muskeln wieder auf ihre normale Länge. Die Dehnung ist dabei nicht statisch, sondern wechselt aktiv zwischen Maximalspannung und Entspannung, unter Zuhilfenahme eines Widerstandsbands, das die Hüftgelenkstellung optimiert. Als Faustregel gilt, dass jeder Sportler vor dem Training die Themen Koordination, Gelenkkapselbeschwerden und Gleitgewebeschwächen angehen sollte und den Großteil der muskeldynamischen Mobilisationstechniken nach dem Training absolviert. Er ist dann aufgewärmt, und das Körpergewebe ist auf die Mobilisationsarbeit vorbereitet.
Euer Dr. Kelly Starrett