Dabei wird oftmals das Training der Propriozeption als besonders „funktionell“ angesehen. So heißt es, dass „funktionell trainieren“ immer auch bedeutet, die Propriozeption zu trainieren. Diese Denkweise ist jedoch wenig trennscharf, denn bei genauer Betrachtung der neurophysiologischen Abläufe gibt es grundlegend Zweifel an den gewünschten und den realen Wirkungsweisen eines propriozeptives Trainings.
Insbesondere im Functional Training wird Krafttraining sehr oft in Verbindung mit instabilen Unterlagen durchgeführt. Was ist jedoch von instabilen Unterlagen im Krafttraining zu halten?
Was ist Propriozeption?
Das Training auf instabilen Unterlagen ist in der medizinischen Trainingstherapie, aber auch in der Prävention, weit verbreitet. Trampoline, Bosubälle und Weichmatten bilden die Basis für solche Trainingsformen. Der Begriff der Propriozeption soll dabei die Fähigkeit beschreiben, die Veränderung und Lage von Gelenkwinkeln wahrzunehmen. Die korrekte Bedeutung der Propriozeption beschränkt sich somit ausschließlich auf den Vorgang des Erfassens bzw. der Wahrnehmung. Bezogen auf die neuronalen Prozesse spricht man hier von afferenten Vorgängen. Nicht gemeint sind hingegen die Funktion der muskulären Ansteuerung und somit der Reaktion, die als „efferente Abläufe“ bekannt sind. Demnach ist eine Beurteilung der Propriozeption bzw. der propriozeptiven Leistungsfähigkeit bei koordinativ anspruchsvollen Übungen nicht ohne Weiteres möglich.
Nutzung instabiler Unterlagen im Krafttraining sinnvoll?
Ein Einbeinstand auf einem Trampolin kann somit nicht genutzt werden, um Aussagen über die propriozeptive Leistungsfähigkeit eines Sportlers zu treffen. Dies liegt daran, dass bei solchen Bewegungsabläufen die Anteile von afferenten und efferenten Mustern eng miteinander gekoppelt sind. Eine klare Aussage zu einem der beiden Aspekte ist dadurch unmöglich. Aufgrund der komplexen Interaktion von Afferenz und Efferenz muss hinterfragt werden, ob das Nutzen von instabilen Unterlagen im Krafttraining überhaupt die propriozeptive Leistungsfähigkeit steigern bzw. verbessern kann. Dies gilt auch, obwohl eine solche Trainingsform komplexe motorische Leistungen, wie beispielsweise die Gleichgewichtsfähigkeit, verbessern kann (siehe 1). Teilweise liefern Untersuchungen an gesunden Sportlern und auch an Patientengruppen keinerlei Hinweise, dass es trainingsbedingte Verbesserungen der propriozeptiven Leistungen gibt (siehe 2). Eine gesteigerte koordinative Leistungsfähigkeit muss nicht notwendigerweise auf eine verbesserte Propriozeption zurückgeführt werden. Bezogen auf Verletzungen werden oftmals Einschränkungen der propriozeptiven Leistungsfähigkeit festgestellt. Auch wenn in diesem Zusammenhang sensomotorische Defizite beschrieben werden, muss nicht automatisch ein kausaler Zusammenhang bestehen. Das Verbessern von sensomotorischen Leistungen ist im Umkehrschluss auch nicht automatisch mit verbesserten propriozeptiven Leistungen erklärbar.
Propriozeption? Eher nicht!
Angesichts der Problematik um das Vermischen von afferenten und efferenten Anteilen muss der Begriff des „propriozeptiven Trainings“ grundlegend hinterfragt werden! Anpassungen sind vielmehr auch auf der Ebene einer optimierten Gewichtung von unterschiedlichen Signalen erklärbar. Der Einsatz der instabilen Unterlagen sollte also vielmehr als „sensomotrisches Training“ bezeichnet werden (siehe 2). Die Verbesserungen dieser Trainingsform sind mit Vorsicht auf mögliche verletzungsprophylaktische Effekte hin zu überprüfen. Aus praktischer Sicht stellt sich dabei die Frage, wie schnell Informationen über die Position im Raum in eine Reaktion der Muskulatur übertragen werden können. Verletzungen geschehen in der Regel bei schnellen, dynamischen Krafteinwirkungen, bei denen die Bewegungskorrektur in sehr kleinen Zeiträumen geschehen muss (siehe 1).
Sind im Training nun Übungen, wie das Balancieren auf einem Trampolin, einem Therapiekreisel oder einer Weichbodenmatte, integriert, stehen langsame Bewegungsabläufe im Fokus. Die dafür notwendigen langen Korrekturzeiträume können jedoch nicht einfach auf kritische Situationen in der Sportpraxis übertragen werden. Möglicherweise wird sogar die Fähigkeit auf schnelle Korrekturmechanismen umzuschalten durch umfangreiches Training der langen Muster reduziert (siehe 2). In der Trainingspraxis sollten aus diesem Grund nur sehr kurze Korrekturzeiträume angestrebt werden. Zudem sollte das Training stets variiert werden, so dass neue Trainingsreize und neue Antizipierungsmuster gefordert werden.
Funktionelles Krafttraining
Propriozeption soll im Fokus des Functional Trainings stehen. So wird bei den neun Prinzipien des Functional Trainings die Propriozeption als ein eigenständiger Punkt betrachtet. Dabei wird dem Training auf instabilen Unterlagen und einbeinigem Training eine besondere Bedeutung zugeschrieben. Dass mit diesen Trainingsmitteln jedoch die Kraft gesteigert werden kann, ist eine Fehlannahme. Nur weil sich Übungen mit instabilen Unterlagen im Krafttraining „schwer“ anfühlen, kann noch lange nicht von einer gesteigerten Kraftleistung ausgegangen werden. Als Argument wird hier von Befürwortern angeführt, dass die Übungen auf einem instabilen Untergrund im Krafttraining zu einer höheren muskulären Aktivierung führen und so die Muskeln besser ausgelastet würden. Allerdings ist das Gegenteil der Fall – die höchsten Aktivierungsgrade der Muskulatur sind erreichbar, wenn hohe Lasten auf festem Untergrund bewegt werden. Die motorischen Einheiten eines Muskels werden nur dann vollständig aktiviert, wenn Lasten von annähernd 100% des 1 Wiederholungsmaximums realisiert werden. Dies ist auf einem instabilen Untergrund nicht möglich.
Krafttraining erfordert Lasten
Wenn man die Kraft steigern will, muss es im Training Inhalte mit sehr hohen Lasten geben. Andernfalls ist das Steigern der Kraftfähigkeiten eben limitiert. Inwiefern ein koordinatives Training als Trainingsinhalt absolviert wird, ist stark von dem Ziel abhängig. Wer jedoch solche Trainingsinhalte ins Training aufnehmen möchte, sollte insbesondere berücksichtigen, dass das Trainieren der sensomotorischer Leistungsfähigkeit in kürzeren Zeiträumen verbessert werden kann, als die grundlegenden Fähigkeiten Kraft und Ausdauer. Je nach Zielstellung müssen hier die Trainingsinhalte zudem beständig variiert und angepasst werden, um zu verhindern, dass sich Ihr Nervensystem an bestimmte Reize gewöhnen kann. Entgegen der Trends rund um das Training mit instabilen Unterlagen im Rahmen der Functional Fitness und des Functional Trainings müssen die möglichen Trainingseffekte jedoch grundlegend hinterfragt werden. Ähnlich wie bei der Auswahl der Trainingsübungen kann es auch beim Einsatz von instabilen Unterlagen im Krafttraining per se keine Einteilung in „funktionell“ und „unfunktionell“ geben! Im Fokus muss vielmehr immer der Sportler stehen, bei dem eine individuelle Zielstellung und individuelle Stärken und Schwächen analysiert und besprochen werden müssen. Beim Entwickeln eines Trainingsprogrammes kann dann hierauf eingegangen werden. Das dann möglicherweise auch der Einsatz von sensomotorischen Trainingsformen sinnvoll gestaltet werden kann, liegt auf der Hand.
Fazit
Die Wirkungsweise von sensomotorischem Training ist nicht auf die Propriozeption beschränkt. Diese Sichtweise wird den komplexen Regelmechanismen des neurophysiologischen Systems nicht gerecht. Von einem generellen Einsatz der instabilen Unterlagen im Krafttraining ist deshalb eher abzusehen. Dennoch können bei speziellen Fragestellungen Übungen aus diesem Spektrum durchaus Sinn machen. Ein Irrglaube ist es jedoch, „Kraft“ und „Propriozeption“ in einer Trainingseinheit unbedingt gleichzeitig ansprechen zu müssen. Diesen Ansätzen aus dem „Functional Training“ muss auf Basis des aktuellen Forschungsstandes zur Neurophysiologie widersprochen werden. Kraft lässt sich eben insbesondere durch das Training mit hohen Lasten steigern und nicht durch den Einsatz von instabilen Unterlagen im Krafttraining.
Funktionell wird eine Übung nicht dadurch, dass sie auf einer instabilen Unterlage ausgeführt wird. Hier fühlt sich auch Michael Boyle missverstanden. Sowohl Gray Cook als auch Michael Boyle legen viel Wert darauf festzustellen, dass eine Übung per se niemals „funktionell“ oder „unfunktionell“ sein kann. Es kommt eben immer auf die Fähigkeiten, Defizite und Zielstellungen des Sportler an, die über den Erfolg eines Trainings entscheiden.
Euer Dennis Sandig
Literatur:
1) Sportverletzung Sportschaden, 2006, Bd. (20), S. 107–111.
2) Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin, 2007, Bd. 58, (1). S. 19-24.
Sehr aufschlussreich !
Wird in der Physiotherapie schon lange nicht mehr als Propriozeptionstraining bezeichnet!
Guter Artikel, der hoffentlich hilft dem Bosu-Ball-Wahnsinn (im Sinne von unzweckmäßigen Übungskonstellationen) ein wenig Einhalt zu gebieten.