Corrective Exercise Strategies
Warum nicht alles korrigiert werden muss
Ausgleichs- und Korrekturübungen boomen seit einigen Jahren nicht nur in den USA. Im Fokus dieser sogenannten Corrective Exercises steht oft die Verbesserung biochemischer, physiologischer, neuronaler oder psychosozialer Bedingungen. Um Bewegungen oder Körperhaltungen zu verändern, geht es nicht um die besten Übungen, Sätze, Wiederholungen oder die Positionierung einzelner Körperteile, sondern darum, zu verstehen, warum die Bewegung überhaupt beeinträchtigt ist, und um die richtigen Stimuli, die nötig sind, um sich im Idealfall selbst zu korrigieren. Functional-Training-Experte Eberhard Schlömmer hat sich in der Ausgabe 2/2022 – Strength & Conditioning mit dem Für und Wider von Corrective Exercises auseinandergesetzt.
Grundsätzlich neigen wir Menschen dazu, Dinge zu korrigieren, zu verbessern oder zu reparieren. Der Ursprung der Angewohnheit, Dinge erst zu testen, dann eine Intervention und danach eine Testwiederholung durchzuführen, geht weit zurück ins antike Griechenland. Sich mit Logik und System an etwas Komplexes zu wagen, egal was es ist, hat sich jedoch als der effizientere Weg durchgesetzt. Der Ansatz von „trial and error“ – Versuch und Irrtum – verbrauchte auf Dauer zu viele Ressourcen und die Ergebnisse waren zu unbeständig. Egal ob es sich um Architektur, Astronomie, Anatomie, Mathematik oder Physik handelt: Wenn man den geschichtlichen Verlauf dieser Naturwissenschaften verfolgt, haben wir irgendwann das Zeitalter von „trial and error“ und die Gepflogenheit, sich nur auf die Erfahrung anderer und die Überlieferungen unserer Vorfahren zu verlassen, hinter uns gelassen.
Was genau sind Corrective Exercises?
Im Prinzip ist eine Corrective Exercise jede Übung und/oder Intervention, die eine dysfunktionale oder schmerzhafte Bewegung oder einen solchen Zustand in positivem Maße beeinflusst und idealerweise verbessert. Sie liefert schnelle Ergebnisse und Veränderungen und wenn sie richtig angewendet wird, entwickeln sich nicht nur unsere Kunden vielschichtig weiter, sondern auch wir uns als Trainer oder Physiotherapeuten. Hippokrates von Kos (460 bis etwa 377 v. Chr.) sagte einst: „Wer stark, gesund und jung bleiben will, sei mäßig, übe den Körper, atme reine frische Luft und heile sein Weh eher durch Fasten als durch Medikamente.“ Was dürfen wir aus diesem Zitat, das auf einer großen Erfahrung und zahlreichen Erkenntnissen aus vielen experimentellen und wissenschaftlichen Studien über unsere Gesundheit und Bewegung beruht, lernen und weitergeben?
- BEWEGUNG IST DIE BESTE MEDIZIN.
- ERKENNE DIE ZEICHEN, BEVOR SYMPTOME ENTSTEHEN.
- BEHANDLE DIE URSACHEN – NICHT DIE SYMPTOME.
- REDUZIERE NEGATIVE EINFLÜSSE, DIE KRANK MACHEN – FÜGE MEHR POSITIVE HINZU.
- WENIGER IST OFT MEHR.
- DAS, WAS WIR SAGEN, IST OFT WICHTIGER ALS DAS, WAS WIR TUN.
Die meisten Corrective-Exercise-Strategien basieren auf einem logischen und systematischen Vorgehen und haben uns in den letzten 200 Jahren geholfen, die komplexe menschliche Bewegung und auch das Entstehen von Problemen oder Verletzungen etwas besser zu verstehen. Wie der Name schon sagt, soll etwas korrigiert werden – jedoch nur, wenn es nötig ist. Und vorweg: Es ist natürlich wichtig, wie man korrigierende Maßnahmen dem Kunden kommuniziert. Einem Kunden zu sagen, er sei dysfunktional und brauche daher korrigierende Übungen, ist sicher kein empfehlenswerter Kommunikationsweg.
Sinn & Zweck
Der Reiz und die Attraktivität, die Körperhaltung und -beschaffenheit durch allgemeine Leibeserziehung und korrigierende Maßnahmen zu verbessern, ist, wie man auf Abbildung 1 erkennen kann, schon relativ alt. Über die Jahrhunderte hinweg entwickelten sich weltumspannende Bewegungen um einen Turnvater Jahn, um Moshe Feldenkrais, Ida Rolf, Josef Pilates, Susanne Klein-Vogelbach, B. K. S. Iyengar und viele mehr. All diese Methoden haben etwas gemeinsam: Sie haben Menschen Werkzeuge in Form von Übungen an die Hand gegeben, die dafür sorgen, sich selbst oder anderen zu helfen oder sich zu verbessern. Ein schöner Nebeneffekt bei der Arbeit mit korrigierenden Übungen ist, dass man sich als Trainer oder Physiotherapeut über die gesammelten Erfahrungen auch selbst stetig weiterentwickelt und seine Fähigkeiten immer weiter ausbaut und verfeinert.

In unserer Branche mit Training, Rehabilitation, Physiotherapie und Fitness komme ich mir manchmal vor, als würde die Zeit rückwärtslaufen. Wer kennt die Sprüche nicht: „Das machen wir seit 30 Jahren so und das hat immer gut funktioniert!“, „Mach einfach, es wird schon schiefgehen!“, „Dafür brauche ich keine Tests und keinen Functional Movement Screen, das sehe ich mit dem bloßen Auge“ usw..
Testen nur um des Testens willen ist der falsche Ansatz. Sinn und Zweck, warum wir Tests, Screenings und Assessments durchführen, sind folgende:
- SCHMERZEN UND/ODER DYSFUNKTIONEN IDENTIFIZIEREN,
- STÄRKEN UND SCHWÄCHEN ERKENNEN,
- INFORMATIONEN SAMMELN FÜR BESSERE ENTSCHEIDUNGEN IN DER TRAININGSPRAXIS,
- AUSGANGS- UND VERGLEICHSWERTE FÜR TRAININGS- UND REHAPROGRAMME,
- FRÜHERKENNUNGSWARNSYSTEM FÜR MUSCULOSKELETALE PROBLEME,
- IDENTIFIKATION DES SCHWÄCHSTEN VERBINDUNGSGLIEDS,
- ELIMINIERUNG MÖGLICHER RISIKOFAKTOREN,
- GEMEINSAME SPRACHE FÜR DEN INTERDISZIPLINÄREN AUSTAUSCH UND DEN AUSTAUSCH MIT DEM KUNDEN.
Aus den gewonnenen Erkenntnissen sollten natürlich auch Konsequenzen gezogen werden, damit wir als betreuende Trainer für den Kunden bessere und nachvollziehbare Entscheidungen treffen.
Das Trainerauge
Viele Trainer, Physiotherapeuten und Ärzte können anhand von Bewegungen, Haltungen – oder wenn sie eine Person anfassen – erkennen, wo das Problem ist. Sprich, man erkennt aus einem ersten gemeinsamen kleinen Workout oder nach ein paar klassischen Übungen, ob ein Kunde steif ist und vielleicht mehr Stretching und Beweglichkeit braucht. Oder ob jemand mit einer sogenannten Schutzspannung überzogen ist und vermutlich eher motorische Kontrolle als Input braucht. Oder ob jemand motorisch so verarmt groß geworden ist, dass einfachste Bewegungen bereits koordinativ schwerfallen.
Manche bezeichnen es als das berühmte „Trainer-“ oder „Therapeutenauge“. Kein Zweifel, jeder Trainer hat ein solches – mehr oder weniger stark ausgeprägt. Und genau darum seien mir folgende Fragen erlaubt: Sind die Vermutungen und Beobachtungen bzgl. Beweglichkeit, Stabilität oder Koordination immer korrekt? Wie hoch ist die Fehlerquote? Wie oft werden relevante Dinge wie Schmerz oder Dysfunktionen übersehen, die in einem Screen messbar gewesen wären? Kommt ein anderer Trainer, Physiotherapeut oder Arzt zu den gleichen Ergebnissen und Rückschlüssen bei ein und demselben Klienten? Funktioniert dieses Skills-Set bei der Betreuung eines Kunden oder eines ganzen Sportteams auch durch andere Kollegen? Was mache ich, wenn ich 20 unterschiedliche Menschen auf einmal betreuen und managen muss? Sind meine Ergebnisse und Rückschlüsse wiederholbar?
Ich habe keinen Zweifel daran, dass viele Trainer und Therapeuten die Fähigkeit besitzen, mit bloßem Auge eingeschränkte Sprunggelenke zu erkennen, wenn ein Klient ein paar Übungen macht oder ein klassisches Workout absolviert, obwohl die Sprunggelenke nicht explizit gemessen wurden. Es stellt sich immer die Frage, welche Entscheidung diese Erkenntnis nach sich zieht bzw. welche Konsequenzen das hat.
- WIE SIGNIFIKANT IST DIE EINSCHRÄNKUNG WIRKLICH?
- HANDELT ES SICH UM EINE LIMITIERUNG DER MOBILITÄT ODER DER ANSTEUERUNG?
- WIE REAGIERT DAS GELENK ENDGRADIG UND KANN DORT EVENTUELL SCHMERZ PROVOZIERT WERDEN?
- SIND ANDERE GELENKE IN DER AUFSTEIGENDEN KETTE EBENSO LIMITIERT?
- WIE VERHÄLT ES SICH IM LINKS-RECHTS-VERGLEICH UND GIBT ES HIER UNTERSCHIEDE HINSICHTLICH DER LIMITIERUNG? FÜR MUSCULOSKELETALE PROBLEME,
- SIGNALISIERT DAS LINKE GELENK DAS GLEICHE WIE DAS RECHTE GELENK?
- KORRELIERT DIESE LIMITIERUNG IN ANDEREN POSITIONEN ODER BEI ANDEREN BEWEGUNGEN, IN DENEN DAS SPRUNGGELENK AUCH EINE ROLLE SPIELT? IST DAS ERGEBNIS KONSISTENT ODER INKONSISTENT?
- HAT DIESE LIMITIERUNG VORRANG GEGENÜBER ANDEREN BESTEHENDEN LIMITIERUNGEN IN ANDEREN REGIONEN? STICHWORT: REGIONALE INTERDEPENDENZ.
- MUSS ES ÜBERHAUPT BEHOBEN ODER KORRIGIERT WERDEN?
Entscheiden mit System
Ein systematisches und standardisiertes Vorgehen erleichtert den Entscheidungsprozess hinsichtlich der Auswahl der Übungs-, Bewegungs- und Trainingsprogramme enorm. Es liefert Antworten auf folgende Fragen:
- WAS BRAUCHT MEIN KUNDE UND WAS NICHT?
- HANDELT ES SICH UM ETWAS, WAS WIRKLICH KORRIGIERT WERDEN MUSS?
- BRAUCHT DER KUNDE WIRKLICH ZUSÄTZLICHE KORRIGIERENDE ÜBUNGEN ODER REICHT EINE ANPASSUNG DES TRAININGSPLANS UND DER TRAININGSREIZE AUS?
- WO IST MEIN EINSTIEG BZGL. NÖTIGER KORRIGIERENDER ÜBUNGEN?
- KANN ICH NACH DER INTERVENTION EINE VERBESSERUNG MESSEN UND/ODER KANN DER KUNDE EINE SOLCHE WAHRNEHMEN?
- WELCHE BEWEGUNGSMUSTER ODER FUNKTIONSBEREICHE HABEN VORRANG GEGENÜBER ANDEREN?
- WELCHE ÜBUNGEN IM TRAININGSPLAN VERSTÄRKEN VERMUTLICH DIE DYSFUNKTION UND SOLLTEN DAHER VORÜBERGEHEND NICHT ODER NUR IN ABGESCHWÄCHTER FORM AUSGEFÜHRT WERDEN?
- WELCHEN EINFLUSS HAT DAS TÄGLICHE UMFELD AUF DAS SCHWÄCHSTE GLIED IN DER KETTE UND VICE VERSA?
Beispiel einer Corrective Exercise
Nehmen wir als Beispiel das eingeschränkte Sprunggelenk in Dorsalflexion. Durch einen Functional Movement Screen bekomme ich nicht nur standardisierte und differenzierte Informationen über das Sprunggelenk, sondern auch darüber, wie es sich bei anderen Bewegungsmustern verhält. Hier ist es wichtig zu verstehen, dass das Ganze immer mehr ist als die Summe seiner Teile – und eine Bewegung ist deutlich mehr als nur die Zusammenarbeit und das Zusammenwirken von ein paar Knochen, Gelenken, Kapseln, Sehnen und Muskeln. Durch das Screening schaffe ich eine Ausgangslage für die Beurteilung einer Bewegung und kann dann Rückschlüsse daraus ziehen, was diese Person jetzt braucht und was nicht. Der eine benötigt vielleicht gezielte Übungen für das Sprunggelenk, ein anderer braucht vielleicht nur ein paar herausfordernde Bewegungserfahrungen, um sein Sprunggelenk wieder anders wahrzunehmen. Der Nächste sollte vielleicht einen Physiotherapeuten oder Arzt aufsuchen, weil durch den Screen in einem der beiden Sprunggelenke endgradig Schmerz provoziert werden konnte, was sich in anderen Bewegungen wie der tiefen Hocke, dem Ausfallschritt oder in der Kleinkindhaltung nicht gezeigt hat. Der Nächste profitiert vielleicht von einem sensorischen und wieder der Nächste von einem visuellen Input, weil eine Region des vestibulären Systems, die für die Hoch-Tief-Bewegung zuständig ist (Sacculus), ein falsches Feedback liefert. Ein anderer braucht vielleicht nur etwas reflektorischen Input für die tiefe Rumpfmuskulatur und siehe da, das Sprunggelenk funktioniert danach besser. Der Nächste muss nur ein paar Mal über einen Balancierbalken vor- und zurückgehen und schon wird es besser. Das Geheimnis liegt hier im Zusammenspiel und in der Interpretation mehrerer Bewegungsmuster. Daraus lässt sich die weitere Korrekturstrategie ableiten und erkennen, welche Stimuli nötig sind, um Bewegungen zu verändern.
Viele Trainer würden sofort, wenn sie hören, das Sprunggelenk sei eingeschränkt, auf das Einzelteil Sprunggelenk losgehen und mit speziellen korrigierenden Übungen beginnen, es manipulieren, mobilisieren, strecken usw. Das kann funktionieren, muss aber nicht. Ob es funktioniert hat oder nicht, kann man ja zum Glück mit einem gezielten Re-Screen sofort überprüfen und erkennen, ob der Kunde auch eine Veränderung bemerkt.
Fazit
Korrigierende Übungen sind nur dann korrigierend, wenn der Kunde selbst eine Verbesserung wahrnimmt oder wir eine Verbesserung messen können. Korrigierende Übungen führen teilweise in wenigen Sekunden und mit ein paar Wiederholungen bereits eine Verbesserung herbei. Manchmal ist aber genau das Gegenteil der Fall: Das zentrale Nervensystem nimmt die Intervention als eine Art Bedrohung war und reagiert zum Beispiel mit einer Schutzspannung statt einer Entspannung in der Muskulatur. Auch das ist ein Ergebnis, das uns aber nicht verunsichern sollte. Ganz im Gegenteil, es liefert uns neue und zusätzliche Informationen und vermittelt uns einen Eindruck, was die Person als Nächstes braucht: eine andere Strategie, eine andere Technik oder eine andere Methode. Die Welt der korrigierenden Übungen und Strategien ist sehr spannend und interessant – und sie ermöglicht es uns, unseren Erfahrungshorizont stetig zu erweitern und uns als Trainer und Physiotherapeut ständig weiterzuentwickeln.

Eberhard Schlömmer ist Diplom-Sportwissenschaftler und offizieller Ausbilder bei Functional Movement Systems (FMS). Seit über 16 Jahren ist er in der Aus- und Fortbildung von Trainern, Physiotherapeuten und Medizinern tätig. Er sorgt als Spezialist für Functional Training und Functional Movement dafür, dass Wissen und Erfahrung zielgerichtet und erfolgreich in die Praxis umgesetzt werden. www.fms-ausbildung.de