Wenn Sportler im idealen Jugendalter mit dem Gewichthebetraining beginnen, ist die natürliche Beweglichkeit meist optimal oder fast optimal und muss nur wenig weiterentwickelt werden. Ziel ist es dann, diese natürliche Beweglichkeit zu erhalten bzw. ihr Optimum zu erreichen. Gleichzeitig wird an der Entwicklung der erforderlichen Kraft und Stabilität gearbeitet, um den Bewegungsumfang zu erweitern. Dies kann meist indirekt und ohne spezielles Beweglichkeitstraining erreicht werden, wenn das Standardprogramm für jugendliche Heber schon ausreichend viele allgemeine Bewegungskomponenten enthält, z. B. Bewegungen mit großer Amplitude und turnerische Übungen, bei denen das eigene Körpergewicht genutzt wird.
Athleten, die später mit dem Gewichtheben beginnen, haben anfangs oft keine ausreichende Beweglichkeit und müssen sie deutlich verbessern, um effektiv und sicher trainieren zu können. Zwar trägt auch das Langhanteltraining selbst in gewissem Maße zur Verbesserung der Beweglichkeit bei, doch das Trainingsprogramm muss auch spezielle Übungen enthalten, um diesen Aspekt gezielt und rasch zu verbessern. Im Zusammenhang mit der Beweglichkeit werden oft auch die Begriffe Flexibilität und Mobilität verwendet. Die genaue Definition ist zwar für die Praxis nicht wichtig, sie soll hier aber der Vollständigkeit halber aufgeführt werden. Spricht man von Flexibilität, bezieht man sich meist auf die Dehnfähigkeit der Muskulatur, während Mobilität den Aktionsradius von Gelenken beschreibt (der teilweise von der Flexibilität der beteiligten Muskeln abhängt).
Dazu kommt der Aspekt der Stabilität, also die Fähigkeit des Athleten, alle Positionen im möglichen Bewegungsumfang sicher einzunehmen und zu halten – dabei geht es primär um Kraft und Bewegungskontrolle. Mangelnde Stabilität in einer bestimmten Position oder bei einer Bewegung kann zur Immobilität führen, weil sich der Körper reflexartig gegen das Einnehmen einer instabilen Position bzw. das Ausführen instabiler Bewegungen schützt. Genau deshalb müssen Kraft-, Technik- und Beweglichkeitstraining Hand in Hand gehen – nur so kann der Körper beweglicher werden und gleichzeitig die motorischen Fertigkeiten entwickeln, die den höheren Bewegungsumfang stabil gestalten. Eine Einschränkung, die auf Instabilität und nicht auf Flexibilität bzw. Mobilität beruht, lässt sich leicht erkennen, wenn man den unterschiedlichen Bewegungsumfang einer passiven Bewegung (z. B. eine statische Dehnung mit Abstützung, bei der der Körper stabil ist) und einer dynamischen Bewegung in derselben Grundposition (z. B. Kniebeuge) betrachtet, bei der Kraft und Stabilität gefordert sind. Allerdings gleicht eine ausreichend hohe Beweglichkeit Instabilitäten immer dann aus, wenn kein nennenswerter Widerstand besteht. Unter dem Strich bedeutet das nicht, dass Athleten extrem beweglich sein müssen, sondern dass sie ein optimales Maß an Flexibilität und Mobilität besitzen sollten.
Optimale Beweglichkeit
Was Beweglichkeit und Dehnfähigkeit anbelangt, herrscht in Trainerkreisen keine Einigkeit. Die gängige Meinung ist, dass sich Beweglichkeit und Dehnfähigkeit auf die sportliche Leistung und den Schutz vor Verletzungen positiv und linear auswirken, d. h., je beweglicher und dehnfähiger ein Athlet, desto besser seine Leistung und desto geringer das Verletzungsrisiko. Neuere Untersuchungen sowie die Erfahrungen von Trainern und Athleten haben diesen Zusammenhang jedoch bisher nicht beweisen können; meine Beobachtungen, gepaart mit etwas gesundem Menschenverstand, legen einen anderen Ansatz nahe. Wahrscheinlicher ist, dass sich der Zusammenhang zwischen Beweglichkeit, Leistung und Verletzungsanfälligkeit nicht linear, sondern in Kurvenform beschreiben lässt. Anders gesagt: Sowohl eine zu geringe als auch eine übermäßig hohe Beweglichkeit erhöhen das Verletzungsrisiko und beeinträchtigen die Leistungsfähigkeit (Abb.1). Es ist also nur unbedeutend besser, wenn ein Athlet zu beweglich ist, als wenn er nicht beweglich genug ist.
Wichtig hierbei ist zu verstehen, dass es einen Unterschied zwischen der Reduzierung oder Eliminierung eines leistungshemmenden Faktors und der tatsächlichen Leistungssteigerung gibt. Und es ist ebenso wichtig, sich den Verlauf der in Abb.1 dargestellten Kurve anzusehen und zu erkennen, dass die höhere Beweglichkeit, die anfangs zu einer Leistungssteigerung geführt hat, sich jenseits des Kurvenscheitels negativ auf die Leistung auswirkt. Bezogen auf die sportliche Leistung bedeutet dies, dass die optimale Beweglichkeit keine Verbesserung von Maximalkraft, Schnellkraft, Geschwindigkeit etc. bewirkt. Sie eliminiert lediglich leistungshemmende Faktoren, die auf eine nicht ausreichend hohe Beweglichkeit zurückzuführen sind. Wenn diese Faktoren bei einem Athleten besonders stark ausgeprägt sind, kann eine verbesserte Beweglichkeit aber zu enormen Leistungssteigerungen führen.
Der Zusammenhang zwischen Leistung, Verletzungsanfälligkeit und Beweglichkeit lässt sich als Kurve darstellen. Der Kurvenscheitel ist der Punkt der optimalen Beweglichkeit, der dem Athleten die beste Leistung und den besten Schutz vor Verletzungen bietet. Die Kurve ist unmittelbar links vom Scheitel, im Bereich der suboptimalen Beweglichkeit, steiler als rechts davon – also schränkt eine zu geringe Beweglichkeit die Leistung in dieser Phase mehr ein als eine zu hohe Beweglichkeit.
Die optimale Beweglichkeit ist also selbst kein leistungssteigernder Faktor, sondern sie beseitigt einen leistungshemmenden Faktor. Das ist wichtig, wenn man den Kurvenverlauf des Komplexes Beweglichkeit–Verletzungsrisiko–Leistung betrachtet: Eine höhere Beweglichkeit verbessert die Leistung und senkt das Verletzungsrisiko eines aktuell zu wenig beweglichen Athleten, doch diese Entwicklung setzt sich nicht auf Dauer linear fort. Jenseits des Kurvenscheitels, der die optimale Beweglichkeit darstellt, kehrt sich diese Entwicklung in das Gegenteil um, und allem Anschein nach führt eine dann weiter gesteigerte Beweglichkeit zu einem höheren Verletzungsrisiko und einer schlechteren Leistung.
Das lässt sich z. B. bei einer eingeschränkten Beweglichkeit der Brustwirbelsäule und des Schultergürtels in der Phase des Ausstoßens gut beobachten. Eine ungünstige Stützposition kann eine optimale
Verbindung zwischen der Hantel und dem Oberkörper verhindern und so die Möglichkeit des Hebers einschränken, die Hantel nach oben zu beschleunigen. Die Hantel liegt dann vielleicht zu weit vor der
Wirbelsäule, es entsteht eine zu hohe Belastung am Rücken, der Oberkörper fällt während des Auftakts zu weit nach vorn und die Hantel gerät ebenfalls zu weit nach vorn. Es kann auch sein, dass die Arme in einer sehr unvorteilhaften Lage sind und die Kraft nicht richtig unter die Hantel gebracht werden kann oder dass Einschränkungen im Bewegungsradius dazu führen, dass eine stabile Überkopfposition nicht erreicht werden kann. All diese Faktoren schränken das mögliche Maximalgewicht beim Stoßen sicher ein. Erhöht sich die Beweglichkeit, werden die leistungshemmenden Faktoren reduziert und die Leistung des Hebers wird sich zusammen mit einer Steigerung bei seiner Maximal- und Schnellkraft sowie seinen technischen Fertigkeiten erhöhen. Hat der Athlet die für die optimalen Positionen und Abläufe beim Stoßen nötige Beweglichkeit erreicht, wirkt sich eine weitere Verbesserung der Beweglichkeit nicht positiv auf seine Leistung aus, sondern wird dazu beitragen, dass die Stabilität verringert wird.
Stabile und instabile Bewegungsanteile
Im Zusammenhang mit der allgemeinen Stabilität sollte man sich mit dem Thema stabile und instabile Bewegungsanteile beschäftigen. Die stabilen Anteile einer Bewegung sind die Phasen, in denen der Athlet die Gesamtstabilität durch Muskelkraft und Nervenreaktionen aufrechterhalten kann; die instabilen Bewegungsanteile sind die Phasen, in denen sich der Athlet zwar weiter bewegen, aber nicht bewusst für die nötige Stabilität sorgen kann. Ziel des Beweglichkeitstrainings ist es, die instabilen Bewegungsanteile auf ein Minimum zu reduzieren bzw. ganz zu eliminieren und dadurch das Verletzungsrisiko zu senken. Dabei wird die Gesamtstabilität verbessert, aber möglicherweise die Beweglichkeit wieder reduziert. Welcher Aspekt in welcher Ausprägung bearbeitet wird, hängt vom Istzustand des Athleten im Vergleich zum optimalen Zustand ab.
Ein Gewichtheber, der erst angefangen hat und noch relativ unbeweglich ist, hat z. B. kaum instabile Bewegungsanteile, weil sein Bewegungsumfang noch nicht einmal die Minimalanforderungen erfüllt. Bei diesem Athleten ist zunächst ein spezifisches Beweglichkeitstraining nötig, um den Bewegungsumfang zu erhöhen. Das Gewichtstraining sorgt für die erforderliche Balance zwischen Beweglichkeit und Stabilität, weil der Körper dadurch lernt, den schrittweise größer werdenden Bewegungsumfang zu kontrollieren. Im Vergleich dazu hat ein übermäßig beweglicher Athlet einen für das Gewichtheben viel zu großen Bewegungsumfang, was ihm wahrscheinlich viele instabile Bewegungsphasen beschert, besonders weil bei seinem Training diese Phasen gar nicht angesprochen werden. Die Stabilität bei den reinen Hebebewegungen mag zwar gegeben sein, doch aufgrund der zu hohen Beweglichkeit können sich ungewollte Bewegungen entwickeln; reduziert man die Beweglichkeit, wird sich die Gesamtstabilität erhöhen. Auch bei einem Athleten, der die für das Gewichtheben optimale Beweglichkeit besitzt, kann es an Stabilität fehlen; dann ist nur ein gezieltes Stabilitätstraining nötig. In den beiden letztgenannten Fällen spielt auch das Krafttraining eine entscheidende Rolle; spezielles Beweglichkeitstraining ist bei all den Gelenken nicht erforderlich, die sowieso einen zu hohen Bewegungsradius haben.
Analyse der Beweglichkeitsanforderungen
Es steht außer Frage, dass die Beweglichkeitsanforderungen je nach Sportart verschieden sind. Der erste Schritt muss immer sein, die individuellen Bedürfnisse des Athleten zu bestimmen. Es gibt zwei Kategorien von Beweglichkeitsanforderungen – universelle und sportartspezifische. Anders ausgedrückt: Es gibt einen Bewegungsumfang für jedes Gelenk und einen Grad an Gesamtbeweglichkeit, der unabhängig von der Sportart gesundheits- und leistungsfördernd ist. Und es gibt einen Bewegungsumfang für jedes Gelenk und einen Grad an Gesamtbeweglichkeit, der auf den Anforderungen der jeweiligen Sportart beruht. Zu den universellen Anforderungen gehören: tiefe Hocke mit geradem Rücken, gleichmäßig ausgerichteten Knien und flach aufliegenden Fußsohlen; beidseitige Hüftbeuge im rechten Winkel mit geradem Rücken; komplette Öffnung der Schultergelenke mit geradem Rücken. Wie weit die sportartspezifischen Anforderungen davon abweichen, hängt voll und ganz von der jeweiligen Sportart ab. In der Regel ist ein höherer Bewegungsumfang gefordert, doch es gibt auch Ausnahmen. Langstreckenläufer müssen z. B. nicht sonderlich beweglich sein, weil diese Sportart mit einem relativ geringen Bewegungsumfang aller Gelenke auskommt. Am anderen Ende des Spektrums stehen die Turner, die deutlich beweglicher und gelenkiger sein müssen als die meisten anderen Sportler. In puncto Beweglichkeit liegen Gewichtheber näher bei den Turnern.
Beweglichkeitsanforderungen für das Gewichtheben
Unter sportspezifischen Beweglichkeitsanforderungen versteht man alle Anforderungen, die für die jeweilige Sportart erfüllt werden müssen. Jeder erfahrene Athlet und Trainer kennt diese Anforderungen sehr genau. Heber müssen in der Lage sein, die folgenden Positionen auszuführen:
• Frontkniebeuge
• Überkopfposition beim Reißen
• Stützposition beim Umsetzen
• Stützposition beim Ausstoßen
• Überkopfposition beim Ausstoßen
• Ausfallschritt beim Ausstoßen
• Ausgangsposition beim Reißen und Umsetzen
Allgemeine Aussagen lassen sich zu den Beweglichkeitseinschränkungen von Gewichthebern machen, die erst im Erwachsenenalter mit diesem Sport beginnen. Bei ihnen bestehen oft Probleme mit der Beweglichkeit der Brustwirbelsäule und des Schultergürtels in der Überkopfposition Reißen wie auch beim Stoßen; mit der Hüfte am tiefsten Punkt der Kniebeugeund in der Ausgangsposition beim Reißen und Stoßen; mit den Sprunggelenken am tiefsten Punkt der Kniebeuge; und mit den Schultern und Gelenken bei der Stützposition beim Stoßen. Bei jedem Sportler ist die Beweglichkeit unterschiedlich ausgeprägt, sodass das Beweglichkeitstraining individuell angepasst werden muss, um wirklich effektiv zu sein.
Erwartungen
Besonders bewegliche Athleten haben ihre natürliche Beweglichkeit aus der Kindheit erhalten und verbessert; viele von ihnen sind anatomisch so veranlagt, dass sie über einen maximalen Bewegungs-umfang verfügen. Bei erwachsenen Athleten gibt es zweifellos Grenzen der Beweglichkeitssteigerung, doch auch sie können mit konsequentem und langfristigem Training beweglicher werden. Allerdings werden sie nie den Grad an Beweglichkeit erreichen, den ein Sportler hat, der seit seiner Jugend trainiert. Auch wenn die Erwartungen also angepasst werden müssen, sollten auch erwachsene Athleten das Beweglichkeitstraining nicht vernachlässigen.
Euer Greg Everett
Greg Everett ist Autor des Buches „Olympisches Gewichtheben“