Keep The Balance
Stand-Up-Paddling als funktionelles Ausgleichstraining
Stand-up-Paddling kann nicht nur eine unterhaltsame und gemütliche Freizeitaktivität sein, sondern auch eine anspruchsvolle Sportart, die sich optimal als funktionelles Ausgleichstraining eignet. Die einzigartigen Anforderungen des SUP-Sports machen das Stehpaddeln zu einer guten Möglichkeit, den Körper neuen Bewegungsreizen auszusetzen und damit unspezifisch-koordinatives sowie konditionelles Grundlagentraining durchzuführen. SUP-Instruktor und Personal Coach Philipp Moser erklärt in der Ausgabe 1/2021 des FUNCTIONAL TRAINING MAGAZINs, warum die auf dem SUP-Board erworbenen und trainierten Fähigkeiten eine gute Basis für andere Sportarten bilden können.
Die relative junge Sportart Stand-up-Paddling (Stehpaddeln) hat sich in den letzten Jahren in Europa zu einer aufstrebenden Trendsportart entwickelt. Zuvor kannte man den SUP-Sport vor allem in Nordamerika, Australien und Asien, wo bereits seit 2004 professionelle Wettbewerbe ausgetragen werden. Waren es hierzulande vor einigen Jahren lediglich vereinzelte „Exoten“, die sich regelmäßig auf das kippelige Surfbrett stellten, verbuchen seit 2015 viele Händler und Verleihstationen enorme jährliche Zuwachsraten. So verdoppelte sich der weltweite SUP-Markt zwischen 2015 (4,96 Mrd. US-$) und 2020 (10 Mrd. US-$)[1] – und auch für 2021 scheint kein Ende dieser Entwicklung in Sicht zu sein.
Stand-up-Paddling ist für viele Hobbysportler in erster Linie eine attraktive Freizeitaktivität während der warmen Jahreszeit. Für Athleten sämtlicher Sportarten und Disziplinen kann es zudem auch, wenn technisch richtig durchgeführt, ein hilfreiches Ausgleichstraining darstellen, das den Körper auf bisher völlig neue Weise herausfordert und disziplinspezifische, einseitige Belastungen auszugleichen vermag.
Jede Sportart ist einseitig
Es besteht weltweit Konsens darüber, dass richtig ausgeführter und dosierter Sport zu einer guten Ausbildung koordinativer und konditioneller Fähigkeiten, zum Aufbau von Muskulatur und zur Langlebigkeit der Gelenke führt. Somit trägt regelmäßiges Sporttreiben neben gesunder Ernährung, Stressmanagement und Schlafhygiene maßgeblich zum Erhalt von Gesundheit bei und ist in der Lage, altersbedingte Degenerationserscheinungen hinauszuzögern. Jedoch ist keine Sportart allein in der Lage, den Körper in seiner Gesamtheit zu trainieren. Jede Sportart ist einseitig, zumal stets bestimmte Körperteile und -strukturen verstärkt in die spezifischen Bewegungsstereotype einbezogen werden, während andere lediglich eine untergeordnete Rolle spielen. Hier einige Beispiele:
➨ Radrennfahrer erfahren aufgrund ihrer vorgebeugten Sitzposition kaum dorsale Kräftigungsreize. Weiterhin befindet sich die Brustwirbelsäule in einer Dauerbeugung, während die Halswirbelsäule überstreckt ist. Schultern und Schulterblätter sind permanent nach vorn gezogen.
➨ Golfspieler schlagen stets über dieselbe Seite ab, wodurch es auf der Gegenseite weder zu Rotationen noch zu Krafteinwirkungen kommt. Außerdem findet kaum Bewegung in den Beinen statt.
➨ Im Fußball liegt eine Unterkörperdominanz vor, die zusätzlich meist von einer koordinativen und muskulären Dysbalance durch ein dominantes Bein verstärkt wird.
➨ Bei Schwimmern dominiert die Schulter-, Rücken- und Armmuskulatur, während der Unterkörper weder nennenswerte kniedominante noch hüftdominante Reize erfährt.
Diese Aufzählung ließe sich beliebig weiterführen und verdeutlicht eindrucksvoll, dass nur ein sinnvoller Mix aus unterschiedlichen sportlichen Belastungsreizen in der Lage ist, den gesamten Körper anzusprechen und zu einem funktionellen Gleichgewicht beizutragen. Schließlich ist nur ein rundum gleichmäßig ausgebildeter Athlet vor Überlastungen, Verschleißerscheinungen und Verletzungen geschützt. Zu diesem Zweck müssen starken Agonisten dementsprechend starke Antagonisten gegenüberstehen. Genauso sollten alle Gelenke in all ihren Gelenksachsen gleich gut, friktionsfrei und kraftvoll bewegt werden können. Koordination und neuronale Ansteuerung sollten auch in den weniger stark beanspruchten Körperteilen optimale Werte aufweisen und damit zu einer verbesserten Ausführung der sportartspezifischen Bewegungen der dominant eingesetzten Körperteile führen.
Ein Ziel des funktionellen Trainings ist es dementsprechend, auf die einseitigen Belastungsstrukturen der Zielsportart (z. B. Rad, Golf, Fußball, Schwimmen) Rücksicht zu nehmen und durch ausgleichende Trainingsmaßnahmen Dysbalancen vorzubeugen bzw. entgegenzuwirken. Dies muss jedoch nicht ausschließlich im Kraftraum geschehen. Stand-up-Paddling bietet eine gute Möglichkeit, ähnliche Effekte zu erzielen.
Ausgleich muskulärer Dysbalancen
Vor allem bei Nichtsportlern und Hobbysportlern, jedoch auch bei professionellen Athleten liegen oft muskuläre Dysbalan- cen im Sinne einer anterioren Dominanz vor, weil vorwiegend die Muskeln der Körpervorderseite trainiert und beansprucht werden, ohne für entsprechende Trainingsreize an der Rück- seite (Rücken, Gesäß, Hamstrings) zu sorgen. Schlechte Hal- tung, Schulter-Impingements, Verspannungen entlang der Wirbelsäule und Verletzungen können die Folge davon sein.
Beim SUP werden gerade diese großen Muskelzüge an der Körperrückseite bei jedem Paddelschlag physiologisch und ohne Stoßbelastung belastet, wenn sich der Paddler während der Zugphase aus einer leichten Kniebeuge und Hüftvorbeugung wieder aufrichtet. Gleichzeitig kommt es beim Paddelzug zur Retraktion der Schulterblätter sowie zur Aktivierung der Schulterrotatoren und der gesamten Rückenmuskulatur.



Bei richtiger Technik und muskulärer Ansteuerung erfolgen die Paddelzüge weniger aus den Armen, da diese kaum gebeugt und gestreckt werden, sondern eher aus der Hüfte, dem Core und dem Rücken. Durch die durchgehend beinahe unbewegte und leicht angewinkelte Ellenbogenstellung wird in diesem Gelenk die Stabilität trainiert, was wiederum bei vielen athletischen Armbewegungen von großem Nutzen ist.
Neben der dorsalen Kette wird beim SUP auch der Core optimal angesteuert. Aufgabe dieser tief liegenden Muskelschichten des Rumpfes ist vor allem das Stabilisieren der einzelnen Wirbelsegmente und das wirbelsäulengerechte Übertragen hoher Kräfte zwischen den oberen und unteren Extremitäten. Leider bestehen bei vielen Sportlern diesbezüglich Defizite, vor allem wenn ein zu großes Augenmerk auf die außen liegenden Muskeln des Rumpfes gelegt wird. Dies kann der Ursprung vieler Verletzungen sein, denn gerade eine statische und eine dynamische Core-Stabilität sind für jede Sportart absolut leistungsbestimmend und können auf dem SUP-Board optimal geübt werden.
Was im Alltag, aber auch im sportlichen Training viel zu oft vernachlässigt wird, erfährt beim Paddeln sehr starke Trainingsreize: die Fußmuskulatur. Die ständige Instabilität des Boards auf dem Wasser verlangt den Muskeln an Füßen und Sprunggelenken einiges ab und kann anfangs sogar zu plantarem Muskelkater führen. Schließlich arbeiten beim SUP alle 32 Fußmuskeln ununterbrochen auf Hochtouren. Über entsprechende Reize auf diese Muskeln kann man nicht nur die Aufrichtung (Haltung) verbessern, sondern auch die Kraftübertragung durch den Körper optimieren.
Koordination mal anders
Jede Sportart hat ihre eigenen Ansprüche an die Koordination. Ein gutes Koordinationstraining zeichnet sich durch seine Vielfältigkeit aus und versucht, möglichst viele koordinativen Fähigkeiten einzubeziehen. Beim SUP steht und fällt dabei alles mit der Fähigkeit, auf dem Brett das Gleichgewicht zu halten – zuerst beidbeinig, bei Leistungsfortschritt später auch einbeinig.
Die Balancefähigkeit zählt zu den koordinativen Fähigkeiten, die gerade aufgrund des instabilen Untergrunds, des Wassers, extrem stark herausgefordert werden. Dazu muss der Paddler auf dem Brett stets auch die Orientierung bewahren und den optimalen Paddelrhythmus finden, der zudem unter allen Wasser- und Windbedingungen konstant und kraftvoll bleiben sollte. Zu einer guten Koordination des Paddlers gehört es auch, schnell auf äußere Veränderungen reagieren zu können (Umstellungsfähigkeit). Plötzliche Windböen oder sich drehende Winde fordern genauso wie ein unregelmäßiger Wellengang die Reaktionsfähigkeit des Athleten heraus. Gegebenenfalls müssen Paddelrhythmus und Körperhaltung blitzschnell angepasst werden – genauso, wie es erforderlich sein kann, die aktuelle Position komplett aufzugeben, um den Schwerpunkt auf dem SUP-Board zu verlagern.
Eine gute Paddeltechnik äußert sich ferner in der fein abgestimmten und differenzierten Koordination unterschiedlicher Körperteile (Kopplungs- und Differenzierungsfähigkeit). So führt der Oberkörper dynamische Bewegungen aus, während der Unterkörper weitestgehend unbewegt bleibt und viel statische Kraft aufbaut. Stand-up-Paddling kann somit einen wertvollen Beitrag zur variantenreichen Gestaltung von Koordinationsreizen beitragen.
Stabilität fördern
Kritisch für die Kraftübertragung ist nicht nur die Muskelkraft des Athleten, sondern vor allem die Stabilität der großen Gelenke. Instabile Schultern, Wirbel- und Hüftgelenke führen zu sogenannten Kraftlecks (energy leaks) während der Bewegung, wodurch aufgebaute Kraft teilweise verpufft und für den Bewegungsablauf verloren geht. Stand-up-Paddling erfordert ein hohes Maß an Gelenkstabilität und motorischer Kontrolle (Bewegungskontrolle), denn die Gelenke müssen in unterschiedlichen Positionen und bei jeder Geschwindigkeit Kräfte übertragen und den Körper auf dem kippeligen Untergrund stabil halten können. Das erfordert neben der notwendigen Muskelkraft auch das richtige Timing von muskulären Kontraktionen sowie leistungsfähige Gelenkkapseln und Bänder zur Stabilisierung bzw. Führung der Gelenke. Nicht zu vernachlässigen ist dabei die Funktionsfähigkeit der Handund Fußgelenke, denn die Hände sind die direkte Verbindung zum Paddelschaft und die Füße bilden die Verbindung zum SUP-Board. Eine Instabilität in diesen Gelenken führt ebenfalls unweigerlich zu Kompensationen und Krafteinbußen bei sportlichen Bewegungen. SUP ermöglicht es somit, neue Reize im Stabilitätstraining zu setzen.
Ausdauer trainieren
Die Grundlagenausdauer misst die aerobe Leistungsfähigkeit des Herz-Kreislauf-Systems, muss aber nicht unbedingt auf dem Fahrrad oder der Laufstrecke erworben werden. Im Prinzip eignet sich jede Ausdauersportart dazu, denn sie alle führen aufgrund ihrer zyklischen, kontinuierlichen Arbeitsweise zu denselben Anpassungen beim Sportler: größeres Blutvolumen, optimierte Herzparameter, verbesserte Sauerstoffaufnahme und erhöhte Kapillarisierung der Peripherie.
Bedingt durch die hohen Krafteinsätze zur Überwindung des Wasserwiderstandes erfordert Stand-up-Paddling neben der Grundlagenausdauer auch ein hohes Maß an lokaler Ausdauer. Durch die hohe zyklische Bewegungsfrequenz müssen vor allem die Muskeln des Schultergürtels, des Rückens und der Hüften in der Lage sein, eine Übersäuerung (Milchsäure) möglichst lang hinauszuzögern und diese nach ihrem Eintritt möglichst lang tolerieren zu können (Laktattoleranz). All diese Muskelgruppen müssen beim Paddeln besonders gut mit Sauerstoff versorgt werden und in der Lage sein, aus vollen Energiespeichern zu schöpfen. Somit kann Stand-up- Paddling abwechslungsreiche Impulse im Ausdauerbereich setzen und dabei die Beinmuskulatur schonen.
Abgesehen davon, dass der SUP-Sport in vielerlei Hinsicht als funktionelles Ausgleichstraining sinnvoll erscheint, genießt man auf dem Brett etliche gesundheitliche Vorzüge wie das Einatmen frischer Luft und pflanzlicher Duftstoffe (Terpene), die nachweislich das Immunsystem und das Herz-Kreislauf- System stärken. Des Weiteren trägt auch das UV-Licht der Sonne, dem man auf dem Wasser ausgesetzt ist, in vielerlei Hinsicht zur seelischen und körperlichen Gesundheit bei (Serotonin, Vitamin D, zirkadianer Rhythmus). Zudem ist die richtige Paddeltechnik relativ schnell erlernt und man kann mit einer entsprechenden Ausrüstung das ganze Jahr hindurch aufs Wasser gehen.
In diesem Sinne: Grab your board & enjoy the ride!
Quellenverzeichnis:
[1] https://www.statista.com/statistics/735962/global-stand-up-paddle-board-market-value/

Philipp Moser ist leidenschaſtlicher Personal Trainer, Mentaltrainer und Lehrbeauftragter im Gesundheits- und Trainingsbereich. Er befasst sich intensiv mit funktionellem Kraſt- und Bewegungstraining, Sporternährung, Stand-up-Paddling (SUP) sowie dem Basketballsport. Als freier Autor verfasst er SUP-Guides sowie Fachartikel. Seine Publikationen findest du u. a. auf www.bodymindfit.at
- Functional Breathing Screen – Ein mehrdimensionaler Ansatz für ein Screening und Assessment der Atmung (Eberhard Schlömmer)
- Atemtraining – Optimale Atmung = bessere Gesundheit + höhere Leistungsfähigkeit (Andreas Könings)
- Richtig atmen – Effektive Übungen für eine bessere Atmung (Lars und Ulla Lienhard)
- Reine Kopfsache – Mit Mentaltraining deine wirklichen Stärken zeigen (Patrick Thiele)
- How to breathe – Wie die tägliche Atmung unser Leistungsvermögen beeinträchtig (Patrick McKeown)
- Das Piriformis-Syndrom – Kleiner Muskel – großer Schmerz (Katharina Brinkmann)
- Functional Food – Tomaten-Karotten-Aufstrich (Lisa Könings)
- usw.