Im Frühjahr 2017 flog ich, in einer Pause während der Wettkampfsaison, kurz nach China, um einen Vortrag auf dem International Training Summit zu halten. Auf dieser großen Konferenz waren über 1.200 Performance-Coaches, Ärzte, Therapeuten und Forscher anwesend. Ich arbeitete im Vorfeld der Olympischen Sommerspiele 2012 in China, und bis heute hat diese Erfahrung mich und meine Tätigkeit als Coach stark beeinflusst. Meine Aufgabe war es damals, in verschiedenen Disziplinen – von Rudern bis Gewichtheben, von Bodenturnen bis Beach Volleyball – die Leistung der Athleten zu optimieren und bei Bedarf ihre Rehabilitation zu betreuen.
Im Westen stellen wir oft athletische Qualitäten wie Kraft, aerobe Fitness oder die Explosivkraft der unteren Extremitäten in den Vordergrund unserer Bemühungen. Unsere Programmsteuerung ist primär auf diese Ziele ausgerichtet, denen wir erstaunlich erfolgreich nachgehen. Meine Zeit in China hat mir jedoch gezeigt, dass diese Qualitäten nur Surrogate für echte Leistung sind. Was wirklich zählt ist doch, wie gut ein Athlet in seiner eigentlichen Sportart ist. Mit dieser Denkweise stellt man sicher, dass der Trainingsprozess an der richtigen Stelle ansetzt, nämlich der Konzentration auf die „großen Brocken“, die die Chancen auf den Sieg erhöhen.
Wie sieht das nun konkret aus? In den Sportarten, in denen China dominiert (und da gibt es viele!) messen Trainer oft nicht die aerobe Leistung, Laktatschwelle, den Vertikalsprung oder die Geschwindigkeit der aufsteigenden Langhantel. Die Betonung liegt zuerst auf der Entwicklung der Fähigkeiten in der jeweiligen Sportart und dann auf der Steigerung des Drucks, unter dem das athletische Können immer noch abrufbar sein muss.
Um dies zu erreichen, werden verschiedene Variablen verändert: Trainingsumgebung (Badmintonspielen im Freien), Intensität (Verkürzung der Zeitspanne, in der eine 50-Meter-Bahn im Brustschwimmen zurückgelegt werden muss), Umfang (60 Minuten nur Rückhandtraining im Tischtennis) oder Leistungsdruck (an jedem Wochenende im Trainingslager Turmspringen unter Wettkampfbedingungen, das von allen Coaches bewertet wird). Im Westen bezeichnen wir diesen Prozess als Dynamic Systems Theory, aber in China ist das nicht nur eine Theorie, sondern eine Trainingskultur, der alles andere untergeordnet wird. Es ist kein Wunder, dass chinesische Athleten hervorragende Fertigkeiten und scheinbar Nerven aus Stahl haben, wenn sie selbst unter höchstem Wettkampfdruck einen kühlen Kopf bewahren und ihre Leistung punktgenau abrufen.
Auf der Konferenz in Peking referierte auch Dr. Ben Rosenblatt, der zu meinen engsten Freunden zählt und Mitautor meiner beiden bislang erschienen Bücher ist. Er hielt einen Vortrag über den Dynamic Systems Approach in der Verletzungsprävention und Rehabilitation. Die Rehabilitation, wie wir sie im Westen kennen, gilt in China immer noch als neues Konzept, aber die Methodik, die Ben vorstellte, stimmte völlig mit der chinesischen Trainingsphilosophie überein.
Wie können wir diesen Ansatz für die Verletzungsprävention nutzen? Sagen wir, dass wir es mit einer Gruppe von Athleten zu tun haben, die ihre Bewegungsfertigkeiten verbessern wollen, vor allem in Bezug auf die Landung nach einem Sprung. Wir könnten einen fünfminütigen Zirkel entwerfen, bei dem die Athleten mehrmals landen müssen – die Sprünge unterscheiden sich zwar, aber der Schwerpunkt liegt immer auf einer leisen Landung mit guter Tiefe und korrekter Ausrichtung der Hüften, Knie und Füße. Wir könnten in diesem Zusammenhang folgende Varianten verwenden:
- Sprunghöhe
- Einbeinig
- Etwas über Kopf halten
- Seitwärtssprünge
- Spiegelung des Vordermanns
Das Schöne an dieser Methodik ist, dass man bei der Übungsauswahl seiner Kreativität freien Lauf lassen kann. Man kann die Variablen nach Belieben ändern (und soweit das möglich ist), muss dabei aber stets darauf achten, dass auch der Aspekt bzw. die Aspekte der Fertigkeit geübt werden, die man gerade einzuschleifen versucht. Frans Bosch, ein anderer Beitragsverfasser von High Performance Training for Sports, bezeichnet die fundamentalen Komponenten einer Gesamtleistung als „Attraktoren“. Im Training geht es daher um das Einschleifen dieser Attraktoren, so dass man gegen alle Formen von Stress resistent wird (die er als „Flukturatoren“ bezeichnet).
Sport wird nie in einem geschlossenen, sterilen Umfeld ausgeübt. Zu den vielen Variablen, die dabei eine Rolle spielen, zählen Gegner, Umgebung und Wettkampfdruck. Wenn wir unsere Fertigkeiten nur in einem geschlossenen Umfeld einüben, werden wir keine Resilienz entwickeln. Das Training sollte daher eine sorgfältig ausgewählte Komponente des Chaos berücksichtigen, weil das Wettkampfszenario letztlich nie völlig berechenbar ist. Ich ging nach China, um zu lehren, doch als ich zurückkam, hatte ich enorm viel gelernt. Dieses Gelernte beeinflusst auch heute noch meine Trainingsstrategien und Programmsteuerung.
Euer David Joyce
David Joyce ist Autor des Buches „Athletiktraining für sportliche Höchstleistung“