Um die Beweglichkeit effektiv steigern zu können, muss man die einschlägigen Trainingsmethoden kennen und sie beurteilen können – nicht nur ihre Wirkung, sondern auch ihren Nutzen und ihre Anwendbarkeit. Die beste Dehnübung der Welt hat nur dann einen Nutzen, wenn der Athlet sie regelmäßig und mit der passenden Zahl an Wiederholungen ausführen kann und dies auch tut. Es ist nicht nötig, die einzelnen Muskeln zu benennen, die gedehnt werden müssen, denn diese Liste ist meist ungenau und oft nicht vollständig. Im menschlichen Körper finden sich etwa 640 Skelettmuskeln – kaum ein Trainer oder Athlet kann mehr als 10% davon benennen, geschweige denn für diese 10% den Grund für die mangelnde Beweglichkeit identifizieren. Außerdem umfasst die Beweglichkeit eines Gelenks mehr als nur die Dehnfähigkeit der Muskeln, durch die es bewegt wird. Deshalb lässt sich die Beweglichkeit von Gelenken viel leichter verbessern, wenn alle gemeinsam und nicht einzeln trainiert werden. Wenn wir uns mit dem Training aus der Perspektive von Bewegungen und Positionen beschäftigen und nicht aus der Perspektive von spezifischen Muskeln und ihrem Einsatz, sollten wir dasselbe auch im Hinblick auf die Beweglichkeit tun. Anders ausgedrückt: Wir müssen feststellen, in welchen Positionen ein Athlet nicht beweglich genug ist und danach Übungen finden, die dazu beitragen, diese Bewegungseinschränkungen zu überwinden.
Beim Dehnen gibt es zwei grundlegende Varianten: statisches Dehnen und dynamisches Dehnen. Statische Dehnübungen sollten hauptsächlich zur Verbesserung der Beweglichkeit eingesetzt werden, dynamische Übungen sowohl zur Verbesserung als auch zur Erhaltung der Beweglichkeit. Bei der Trainingsvorbereitung und beim Aufwärmen spielen dynamische Dehnübungen auch eine Rolle. Zur Verbesserung der Gesamtbeweglichkeit können auch Geräte wie Faszienrollen, Bälle etc. eingesetzt werden, die auf sogenannte Triggerpunkte im Gewebe wirken, Verklebungen in Muskeln, Faszien und Bindegewebe lösen und ganz allgemein die Geschmeidigkeit der Muskeln verbessern.
Statisches Dehnen
Passiv-statisches Dehnen: Beim Beweglichkeitstraining kommen am häufigsten passiv-statische Methoden zum Einsatz – der Zielmuskel wird durch äußere Kräfte in eine Dehnstellung gebracht und dort gehalten, ohne den Antagonisten anzuspannen. Beispiel: Vorwärtsbeuge über das gestreckte Bein zur Dehnung der hinteren Oberschenkelmuskulatur, wobei die Schwerkraft genutzt bzw. das Bein durch Auflegen der Hände durchgestreckt wird und diese Position dann ohne weitere Bewegung gehalten wird. Statische Dehnübungen bieten das meiste Potenzial zur schnellen Verbesserung der Beweglichkeit, sind einfach und fast überall auszuführen. Aggressive statische Dehnungen sollten nur eingesetzt werden, um die Beweglichkeit eines Athleten möglichst schnell auf ein Optimum zu bringen; ist dieses Optimum erreicht, sollten die Übungen sanfter und seltener werden, um die Beweglichkeit nach Bedarf zu erhalten (oder um die Regenerierung zwischen zwei Trainingseinheiten zu unterstützen).
Untersuchungen haben gezeigt, dass statisches Dehnen vorübergehend die Nervenfunktionen beeinträchtigen kann, was zu einer verminderten Kraftentwicklung und verzögertem propriorezeptiven Input
führen kann. Werden statische Dehnübungen direkt vor dem Training oder Wettkampf ausgeführt, wird möglicherweise die Maximal- und Schnellkraft beeinträchtigt, und es besteht ein höheres Verletzungsrisiko. In diesen Fällen ist längeres bzw. intensiveres statisches Dehnen also generell nicht ratsam, besonders dann nicht, wenn die Muskeln durch Vorübungen schon aufgewärmt und geschmeidig sind.
Eventuelle funktionelle Beeinträchtigungen durch statisches Dehnen sind aber sehr gering. Außerdem haben Athleten, deren Beweglichkeit so eingeschränkt ist, dass statisches Dehnen vor dem Training überhaupt in Betracht gezogen wird, noch keinen Leistungsstand erreicht, bei dem dieses Thema relevant wäre. Diese Athleten profitieren meist deutlich mehr vom zusätzlichen Beweglichkeitstraining, als sie von Einschränkungen in der Kraftentwicklung beeinträchtigt würden.
In manchen Fällen ist statisches Dehnen vor dem Training sogar ratsam. Das gilt hauptsächlich für Athleten, die so unbeweglich sind, dass sie ansonsten die erforderlichen Positionen nicht einnehmen könnten. Für einen Athleten mit besonders unbeweglicher Hüfte ist es vielleicht unmöglich, voll in die Hocke zu gehen und gleichzeitig den Rücken gerade zu lassen. Dann können passende Dehnübungen vor dem Hanteltraining (nach einem dynamischen Aufwärmen und zwischen den einzelnen Sätzen) die Muskeln so weit lockern, dass er die korrekte Position im sicheren Stand einnehmen kann, und diese Verbesserung überwiegt alle potenziellen Probleme bei der Kraftentfaltung. Auch Dehnübungen im Bereich der Sprunggelenke, Handgelenke und insbesondere des Schultergürtels sind vor dem Training bzw. Wettkampf empfehlenswert, sofern die Muskeln zuvor ausreichend aufgewärmt wurden.
An Trainingstagen sollten statische Dehnübungen direkt nach dem Training ausgeführt werden, wenn die Muskeln besonders geschmeidig und anpassungsfähig sind (Behandlungen mit der Faszienrolle u. ä. Anwendungen sollten davor durchgeführt werden). An trainingsfreien Tagen sollten Sie idealerweise vor den statischen Dehnübungen heiß duschen oder baden bzw. diese Übungen erst später am Tag durchführen, nachdem Sie sich ausreichend bewegt haben. Statische Dehnübungen sollten generell nicht früh am Tag durchgeführt werden, weil dann die Beweglichkeit besonders stark eingeschränkt ist und die Übungen wenig effektiv sind.
Statische Dehnübungen sollten immer langsam ausgeführt werden, bis der Dehnungsgrad erreicht ist, der eine gewisse Zeit lang gehalten werden soll. Wird die Dehnung über einen längeren Zeitraum gehalten, kann der Dehnungsgrad weiter gesteigert werden, sobald sich der betreffende Muskel entspannt. Das Anspannen des Antagonisten kann die Entspannung des gedehnten Muskels durch eine reziproke Hemmung fördern. Ein Anspannen des Quadrizeps kann z. B. die Dehnung der hinteren Oberschenkelmuskulatur fördern. Empfehlungen für die Dauer der statischen Dehnübungen bewegen sich zwischen 2 und 120sek. Eine gute Faustregel sind 30–90sek. Manche Athleten empfinden es als angenehmer, wenn sie eine Dehnung 20–30sek halten und eine Abfolge bestimmter Dehnübungen 2–3x hintereinander ausführen.
Begründet werden die so unterschiedlichen Empfehlungen was die Dauer des Dehnens anbelangt, damit, dass fast jedes Dehnen die Beweglichkeit verbessern kann – der für die Wirkung entscheidende Faktor ist die konsequente Ausführung in passenden Abständen über eine ausreichend lange Zeit; welches Übungsprogramm genau ausgeführt wird, ist dabei zweitrangig (vorausgesetzt, das Programm ist auf den Athleten abgestimmt).
PNF-Dehnen: PNF (propriorezeptive neuromuskuläre Fazilitation) ist eine etwas aggressivere Dehnmethode, mit der man relativ schnell die Beweglichkeit verbessern kann. Sie kann im Prinzip bei allen
Dehnübungen angewandt werden und wird am besten mit einem Partner ausgeführt. Der Athlet dehnt den Zielmuskel zuerst statisch und hält die Dehnung etwa 30sek lang. Anschließend aktiviert er diesen Muskel 5sek lang isometrisch gegen einen Widerstand, der von ihm selbst oder dem Partner ausgeübt wird. Danach wird diese Aktivierung sofort abgebrochen, der Zielmuskel noch etwas mehr gedehnt (bzw. der Partner intensiviert die Dehnung) und 5sek lang gehalten.
Dieser Zyklus von Anspannung und Entspannung sollte fünfmal wiederholt werden, wobei der Dehnungsgrad jedes Mal etwas erhöht wird; anschließend wird die statische Dehnung 30sek lang in ihrer Endposition gehalten. Während der Anspannungsphase hält der Athlet die Luft an, und sobald er den Muskel entspannt und etwas weiter dehnt, atmet er tief aus. Hierbei hat sich eine Kraftanstrengung von 20–50% als wirksam erwiesen, weil das Verletzungsrisiko dabei sehr gering ist.
Impuls-Dehnen: Eine Variante des passiv-statischen Dehnens ist das Dehnen mit kurzen Impulsen (2sek) anstatt eines längeren, kontinuierlichen Dehnens. Es geht dabei nicht um abrupte, aggressive Bewegungen wie beim ballistischen Dehnen, sondern um ein sehr kurzes Halten der jeweiligen Dehnposition. Solche Übungen können im Wechsel mit den anderen passiv-statischen Dehnübungen ausgeführt werden, damit das Beweglichkeitstraining für den Athleten nicht zu monoton wird.
Aktiv-statisches Dehnen: Beim aktiv-statischen Dehnen wird während der Dehnung des Zielmuskels dessen Antagonist maximal angespannt. Durch die entstehende reziproke Hemmung wird die Entspannung des Zielmuskels gefördert. Beispiel: Anheben des gestreckten Beines nach vorn durch Anspannung der Hüftbeuger und gleichzeitiger Dehnung der Hüftstrecker. Solch isolierte aktive Dehnungen bringen jedoch für das Gewichtheben keinen wirklichen Nutzen. Allerdings führen Gewichtheber während des Trainings ständig aktive Dehnungen auf ganz natürliche Weise aus, denn wenn sie z. B. in die Hocke gehen oder die korrekte Ausgangsposition für das Reißen oder Stoßen einnehmen, werden verschiedene Muskelgruppen automatisch aktiv gedehnt. Da jeder Gewichtheber also im täglichen Training aktive Dehnübungen macht, müssen solche Übungen nicht zusätzlich ausgeführt werden.
Dynamisches Dehnen
Dynamische Beweglichkeitsübungen: Diese Übungen sind zu jeder Zeit empfehlenswert, unabhängig von der aktuellen Beweglichkeit des Athleten. Es geht dabei um Übungen, wie sie im Kap. Aufwärmen beschrieben wurden. Das Training selbst kann als eine Art dynamische Beweglichkeitsübung gelten, denn die Bewegungen – wenn sie korrekt ausgeführt werden – tragen dazu bei, den vorhandenen Bewegungsumfang zu konservieren oder zu verbessern. Zusätzliche dynamische Dehnübungen dienen beim Aufwärmen als Übergang zwischen der inaktiven und der aktiven Phase und führen dazu, dass auf bestimmte Bewegungen spezialisierte Athleten eine breitere Basis erhalten. Dynamisches Dehnen am Morgen hilft dabei, die über Nacht verkürzte Muskulatur wieder auf ihre volle Länge zu bringen und die einzelnen Muskeln beweglicher zu machen. Allerdings sollte man am Morgen nicht schon den maximalen Bewegungsumfang anstreben, sondern die Bewegungen sanft gestalten und nur allmählich intensivieren. Wenn Sie sich solche Übungen angewöhnen, können Sie die Flexibilität der Muskeln und die Mobilität der Gelenke enorm verbessern. Einige Armschwünge nach vorn und hinten, Rumpfdrehungen und Beinschwünge sind empfehlenswert, ebenso leichte Eigengewichtsübungen.
Hebungen: Interessanterweise sind auch die einzelnen Positions- und Hebeübungen beim Gewichtheben sehr effektive Beweglichkeitsübungen. Dabei wird die spezifische Balance trainiert, die verhindert,
dass unkontrollierte Bewegungen ausgeführt werden. Positions- und Hebeübungen allein reichen jedoch auf keinen Fall aus und zusätzliche Beweglichkeitsübungen sind bei jedem Athleten nötig.
Individuelles Beweglichkeitstraining
Ein individuelles Trainingsprogramm zur Verbesserung der Beweglichkeit wird in mehreren Schritten entwickelt. Zuerst wird das Programmziel definiert, nämlich die Erreichung der optimalen Beweglichkeit zur Reduzierung von Leistungseinschränkungen und Minimierung des Verletzungsrisikos. Danach werden die Anforderungen festgelegt, auf deren Basis die optimale Beweglichkeit des Athleten bestimmt wird; dies geschieht durch den Vergleich zwischen der aktuellen Beweglichkeit des Sportlers und den spezifischen Bewegungsanforderungen beim Gewichtheben. Anschließend können die passenden Trainingsarten und -methoden festgelegt werden, die auch die spezifischen Dehnübungen umfassen. Wichtig ist, dass das gesamte Trainingsprogramm vom Athleten korrekt ausgeführt wird, und das bezieht sich nicht nur auf die Ausführung der einzelnen Übungen, sondern auch auf die festgelegten Trainingsabstände. Die Beweglichkeit des Athleten muss außerdem regelmäßig überprüft und das Trainingsprogramm entsprechend angepasst werden.
Jede Art von Beweglichkeitstraining zeigt nur dann Wirkung, wenn es in den festgelegten Abständen korrekt ausgeführt wird. Der häufigste Grund, warum ein Trainingsprogramm zur Steigerung der Beweglichkeit scheitert, ist die Tatsache, dass der Athlet es nicht richtig umsetzt. Die wenigsten Athleten haben Spaß an Dehnübungen, besonders nicht nach einem anstrengenden Training oder wenn sie unter Zeitdruck stehen. Wenn der Trainer es schafft, ein Programm zusammenzustellen, das mit minimalem Zeitaufwand einen messbaren Erfolg bringt, bleibt der Athlet eher konsequent dabei und kann letztendlich von den Übungen profitieren. Wenn man versucht, einen Athleten dazu zu bringen, übermäßig viele oder sonderbare Dehnübungen zu machen, ist das sicher kontraproduktiv und trägt nicht dazu bei, dass er sich an das Trainingsprogramm hält. Ein Trainer kann das Dehnprogramm gut überwachen, wenn er als Partner bei den Übungen mitwirkt. Auch wenn eine Gruppe von Athleten die Dehnübungen gemeinsam ausführt, bleibt der einzelne Athlet eher dabei, denn es entsteht ein gewisser Gruppenzwang. Und je spezifischer ein Trainingsprogramm zur Steigerung der Beweglichkeit ist, desto eher wird der Athlet es auch korrekt ausführen; vage Programme oder Empfehlungen durch den Trainer, der vielleicht erwartet, dass der Athlet selbst die Initiative ergreift und sich passende Dehnübungen aussucht, sich mit Trainingsmethoden auseinandersetzt und auch die optimale Übungsfrequenz selbst festlegt, führen meist dazu, dass der Athlet gar nichts macht. Und weil dann natürlich auch kein Fortschritt erzielt wird, ist der Athlet noch weniger motiviert, Dehnübungen auszuführen – ein Teufelskreis.
Euer Greg Everett
Greg Everett ist Autor des Buches „Olympisches Gewichtheben“